Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
weht. (…) Vielleicht wird es auch mit der Zeit anders. Als ich im Frühling bei Dir war, sah ich, wie just das, was ich verurteile, Dich geändert, liebwerter, menschlicher gemacht, Dein ganzes Wesen in frühlingshafter Lieblichkeit durchflutete. (…) Und als ich letzten Sonntag (…) beim Gianin in seiner Bude war, gab er mir ein Buch mit: «Das Liebesleben in der Ehe», und als ich es las, fragte ich mich: «Warum stemme ich mich eigentlich dagegen, dass dasselbe ohne Band getan??» Ich weiss nur das Eine, dass dadurch mein ganzes Wesen vernichtet würde und ich nie mehr aufstehen könnte.113
Unter dem Eindruck der innigen Zeit mit Gian fragte sich Greti schliesslich, ob sie das Studium an den Nagel hängen sollte. Wäre es nicht schön, bald zu heiraten, anstatt sich weiterhin mit Dogmengeschichte und Eschatologie abzumühen? Gegenüber einer Freundin, die vor kurzem geheiratet hatte, gab sie sich am Ende des vierten Semesters überzeugt: Du und ich, wir werden unser Lebtag nichts Rechtes als studierte Frauenzimmer. Wohl stecken in uns zwei tüchtige Mütter und treue, starke Kameradinnen für einen Mann. Aber laut darf man solche Dinge nicht sagen, (…) sonst werden gewisse Väter rabiat.114 In den Sommerferien in Igis bei ihren Eltern, als sie das anderthalbjährige Tineli, die Pflegetochter, im Wagen herumschob, wuchs in ihr die Sehnsucht nach einem eigenen Kind.115 Doch als sie im Herbst wieder an die Universität zurückkehrte, erwachte die Leidenschaft für die Theologie wieder.116
Inzwischen hatte Joos Roffler bei der Bündner Landeskirche den Stein ins Rollen gebracht, der seiner Tochter den Weg ins Pfarramt bahnen sollte.117 Am 13. Juli 1927 beantragte er beim kantonalen Kirchenrat, die Bündner Landeskirche solle künftig auch Frauen in die Synode (das kantonale Pfarrerparlament) aufnehmen. Ausserdem solle man Studentinnen zur Zwischenprüfung, dem Propädeutikum, zulassen, denn es waren nicht die Universitäten, sondern die Landeskirchen, die angehende Theologen prüften. Zwar hatte die Universität Zürich 1914 eigens Fakultätsexamen für Frauen eingerichtet,118 dieses berechtigte aber nicht zum Pfarramt. Joos Roffler begründete seinen Antrag rhetorisch geschickt mit dem angeblich typischen Bündner Pioniergeist. Wenn unser Kanton (…) auf diesem Gebiete vorangeht, so würde ihm das sicher nicht zur Unehre gereichen. Er ist schon einmal, 1526, durch die Einführung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der ganzen Welt vorausgegangen, und wir freuen uns heute noch darüber.119 Rofflers Forderung erregte derart grosses Aufsehen, dass in den Zeitungen tagelang hitzig debattiert wurde, ob eine Frau das Recht und die Fähigkeit habe, Pfarrerin zu sein. Das Wort ergriffen meist andere Pfarrer, jedoch anonym.
Der freie Rätier, 24. September 1927
Autor: R. [Pfarrer Heinrich Roffler, Vicosoprano,
ein Namensvetter von Joos]120
Ist die Frau rein physisch schon den Anforderungen des Pfarramts121 gewachsen? Man denke an unsere oft weit auseinander liegenden, zur selben Pfarrgemeinde gehörenden und nur durch lange und mühevolle Wege zu erreichenden Bündner Bergdörfer! Man denke an Sturm und Wetter, Eis und Schnee! Im ganzen darf wohl gesagt werden, dass das Pfarramt Kraft und Männlichkeit erfordert.
Neue Bündner Zeitung, 20. Oktober 1927
Autor: Cu. [Pfarrer Peter Paul Cadonau, Ardez]122
Nach evangelischer Auffassung soll die Predigt die Verkündigung des Wortes Gottes sein, also einer objektiven Grösse. Je klarer, ruhiger, sachgemässer das geschieht, desto besser ist die Predigt. Nun ist aber gerade die Objektivität nicht die Stärke der Frau. Wir haben im praktischen Leben ja oft Gelegenheit, uns darüber zu freuen, dass unsere Frauen die Dinge von der persönlichen, empfindsamen Seite betrachten, und dass sie gerade dadurch uns Männern vielfach überlegen sind. Nun ist aber das eine Eigenschaft, die gerade auf der Kanzel nicht an ihrem Platze ist.
Neue Bündner Zeitung, 24. Oktober 1927
Autor oder Autorin: L.
Es mag dies in vielen Fällen richtig sein. Der Mann ist zumeist Verstandesmensch, während die Frau Gemütsmensch ist. Nun ist aber die Religion eine Sache des Gemütes in erster Linie. Und darum halte ich dafür, dass die Frau für das Predigeramt nicht so ganz ungeeignet ist, wie der verehrte Artikelschreiber es dartun will.
Neue Bündner Zeitung, 25. Oktober 1927
Autorin: Eine alte Frau
Sitzen derzeit manchenorts in der Kirche nicht mehrheitlich ältere Frauen und Kinder, und die Männerstühle sind fast leer? Wir Frauen haben nun das kirchliche Stimmrecht. Freuen wollen wir uns, wenn eine oder mehrere Predigerinnen bündnerische Kanzeln besteigen.
Neue Bündner Zeitung, 3. November 1927
Autor oder Autorin: D.
Der natürliche Frauenberuf ist eigentlich der Mutterberuf, und es ist nicht vom Guten, dass sich die Frauen immer mehr in die Männerberufe hineindrängen, auch in die sogenannten Gelehrtenberufe (…). Darunter hat die Familie schwer zu leiden.
Greti schnitt jeden einzelnen Artikel aus und klebte sie alle in ein graues Heft, das sie mit Gehört die Frau auf die Kanzel? beschriftete. Die Vehemenz, mit der die Gegner des Frauenpfarramts zum Kampf bliesen, weckte ihren Widerstandsgeist.123 Es war ihr bisher fern gelegen, sich als Frauenrechtlerin zu bezeichnen. Wie die meisten ihrer Freundinnen und Kollegen empfand sie nur Grauen, wenn sie die Stichworte Frauenstimmrecht und Frauenbewegung hörte.124 Eine Frauenrechtlerin war für sie nichts anderes als ein Drachen, der nichts von Haushalt versteht, die Kinder und den Mann vernachlässigt, in Versammlungen läuft und Vorträge hält (…).125 Doch angesichts der Debatten um ihren Wunsch, Theologin zu werden, angesichts der Distanz zwischen ihrem eigenen Selbstverständnis und dem, was andere ihr zugestehen wollten, und angesichts der Fremdheit, die sie empfand, wenn sie die Kommentare in den Zeitungen las,126 erkannte sie die Notwendigkeit zu kämpfen und für ihre Sache Begriffe zu finden. Der Kampf der Theologin mit ihrem Weg liess die Frau in mir ihrer Gebundenheit, ihrem Sklaventum – trotz der Freiheit der Schweizer! – erkennen. Und ich sah verwundert dem Umschwung meiner Ansichten zu.127 Erstaunt erzählte sie Gian davon, bange, wie er wohl reagieren würde. Siehst Du, dass ich auf dem Weg zur Frauenrechtlerin bin? Kannst Du mich auch so noch lieb haben? Er jedoch lachte, nahm sie in seine Arme und beruhigte sie: Du hast ja recht!128
Greti war unendlich erleichtert über Gians Verständnis. Zu Beginn des Jahres 1928 drückte sie ihre Verwunderung und Dankbarkeit darüber aus, dass sie sich gefunden hatten. Sie erkannte sich in der Protagonistin eines Romans wieder, den sie gerade las.129 Vor allem erfüllte mich eine tiefe Freude, dass Du schon das bist, wozu die Erna ihren Verlobten erst erziehen muss: dass er sie nicht als Weib, als Erholung und besseres Spielzeug, sondern als ganzen Menschen mit eigenem Selbst, als Kameraden und Freund werte. Aber frei zu werden aus der Bemutterung durch das Vaterhaus und die engere Heimat hatte auch ich, und dazu solltest Du mir helfen. Hinaus in die weite Welt und fremde Lande und Schicksale sehen!130 Vielleicht war ihr Vater sogar allmählich bereit, sie loszulassen. Immerhin hatte er in seiner Weihnachtspredigt davon gesprochen, wie er einst an der Wiege seines ältesten Kindes gestanden hatte, voll Freude und Hoffnung, es möchte einmal grösser, stärker und freier als er selbst werden.131 War sie nicht auf dem besten Weg, diese Hoffnung zu erfüllen?
Wenn sie sich ihre Zukunft mit Gian ausmalte, dann hatte sie ein komplett anderes Bild vor sich als das, das ihre Eltern abgaben. Ihrer Schwester Elsi erklärte Greti: Siehst Du, unsere Eltern bilden eine der glücklichsten Ehen, die es überhaupt gibt. Aber ich möchte sie doch nicht erleben, weil ich von einer Ehe noch mehr verlange.132 Ihre Mutter sei dem Vater ein liebes und tüchtiges Weib, könne aber bei vielem nicht mitreden, weil sie zu wenig gebildet sei. Aber siehst Du, unser Vater empfindet dies gar nicht (…). Dass eine Frau dem Manne aber Kameradin und Geistesgefährtin sein kann, die ihn auch in seinem wissenschaftlichen Streben versteht, weiss er gar nicht, und deshalb fehlt es ihm auch gar nicht. Unsere heutige Generation aber weiss dies alles.133 Greti war sich sehr wohl bewusst, dass es auch in ihrer Generation viele Männer – und Frauen – gab, die anders dachten, und setzte ihre Hoffnung darum in die Zukunft: Es wird die Zeit kommen, da jeder Mann erkennen wird, dass er sich selbst erniedrigt, wenn er meint, ein ungleichwertiges Wesen zu seiner Liebsten zu machen.134
Anfang Februar 1928 – seit der Begegnung am Bündnerball waren nun zwei Jahre vergangen – wollte Greti ihrer Liebe zu Gian eine Zukunftsperspektive geben.