Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez

Die illegale Pfarrerin - Christina Caprez


Скачать книгу
Als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter bei der Geburt eines jüngeren Geschwisters.98 Die zweite Ehe des Vaters war unglücklich, er begann zu trinken und nahm sich schliesslich im Inn das Leben. Christina hatte damals gerade den Baumeister ­Johann Caprez aus Pontresina geheiratet und ihr erstes Kind gebo­ren. Kurze Zeit später wurde das Kind krank und starb ebenfalls. Voller Sorge war sie bald schwanger mit ihrem zweiten Kind. Der 5. Mai 1905 wurde zu ihrem Glückstag: Sie gebar Johann Rudolf, den alle nur rätoromanisch Gian nannten und der ihr Ein und ­Alles wurde.

      Materiell hatten Gians Eltern keine Sorgen, das Baumeister­geschäft lief in Zeiten des boomenden Tourismus im Oberengadin prächtig, und Johann Caprez war ein geschickter Geschäftsmann, der durch Spekulation zu einem beachtlichen Vermögen kam.99 Nicht mit Geld zu kaufen war die Gesundheit. Kinderkrankheiten wurden lebensbedrohlich. In einer kritischen Nacht gaben ihn die Ärzte auf, doch das Kind war zäh. Allerdings verursachte ein Gelenkrheuma ein Herzleiden, das ihn sein Leben lang begleiten sollte. Trotz seiner zarten Konstitution und der überbehütenden Mutter war Gian kein vorsichtiges Kind. Auf dem Flachdach des Elternhauses ging er mit Freunden gefährliche Mutproben ein, sprang zwischen Kamin und Dachkännel hin und her oder wetteiferte darum, die Starkstromleitung zu berühren, ohne vom Schlag getroffen zu werden. Um sich ein Taschengeld zu verdienen, pflückte er auf dem Friedhof Edelweiss und verkaufte sie an Touristen. Bei Skirennen war er meist der Schnellste, und auch im Bergsteigen entwickelte er einen grossen Ehrgeiz und kletterte allein durch exponierte Felswände.

      Als Greti später Gians Familiengeschichte erfuhr, meinte sie zu verstehen, wo seine Schüchternheit und Wohlanständigkeit, seine Selbstzweifel und Minderwertigkeitskomplexe herkamen. Schuld daran war in ihren Augen seine zu enge Mutterbindung. In Tat und Wahrheit, so war Greti überzeugt, schlummerte in ihm ein wildes Kind, das von seinen Eltern beschnitten worden war. Es wurde eingeschüchtert und eingeschlossen in die (…) Nützlichkeits- und Anstandsregeln, die da Convention heissen. (…) Da ging er lieber unten auf dem festen Erdboden, lieber – Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, lieber Knecht in Wohlbehütetheit als eigener Herr in Gefahr. (…) Er lernte ein Mädchen kennen, dessen Liebe voller Widersprüche und Heftigkeit und heissem Sehnen war. All das Wilde, das an ihm abgetan worden und das er selber abgetan, fand er in ihm wieder. Sie war auch wirklich nicht lebenstüchtig, für das Leben, wie er es bis jetzt verstanden. Denn sie sah zu viel, sagte zu viel, schwieg zu wenig und versuchte immer wieder, sich durchzusetzen. (…) Vielleicht dass er sie (…) von ihrer Masslosigkeit und Rohsein erlösen konnte, in ihrer Demut des liebenden Weibes und süssen Beugens unter seinen Willen, unter das Feine und Zarte, das neben seinem Herrentum sein Wesen ausmacht. Feine und zarte, selbstsichere und selbstbewusste Eigenwilligkeit – dies ist er. Und in Liebe zu ihm verfeinerte, ausgeglichene Eigenwilligkeit – dies ist sie: beide in ihrem anzustrebenden Ziel.100

      Christian Caprez, geb. 1942, Sohn von Greti und Gian Caprez101

      Ich war als Kind oft in den Ferien bei meinen Grosseltern Johann und Christina Caprez-Lendi in Pontresina, die ich Non und Nona nannte. Der Zvieri hiess bei Nona Afternoon Tea, mit Biskuits, englischem Kuchen und Birnenbrot. Die Butter servierte Nona in einem schönen Geschirr mit einem Buttermesser. Manchmal kam ihre Cousine aus Celerina zu Besuch, und wenn Nona ihr das Butter­geschirr über den Tisch schob, machte die Cousine mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, schob das Buttermesser zur Seite und nahm ihr eigenes Messer, um sich ein Stück Butter abzu­schneiden. Nona sagte nichts, schob ihr aber Geschirr und Buttermesser noch einmal hinüber. So ging es hin und her, aber es wurde nie ein Wort gewechselt.

Frisur 1

      Zürich,

      9. September 1929

      Zwei Bilder. Greti trägt auf beiden ein sackartiges Kostüm, der Rock reicht bis weit über die Knie. Erst die Bildlegende102 ­erzählt von einem nahezu revolutionären Akt. 9. Sept. 1929 in ­Zürich vor dem Haarschnitt steht links, nach dem Haarschnitt rechts. Eben noch, auf dem Mühlesteg beim Hauptbahnhof, trägt sie die schwarzen Strähnen kunstvoll in einem Zopf hochgesteckt. Geistesgegenwärtig macht ihr Begleiter, vermutlich Gian, einen Schnappschuss von ihr. Nach vollbrachter Tat posiert Greti mit der neuen Frisur am Bahnsteig. Die Haarspitzen kräuseln sich gleich bei den Ohren. Die Haare sind gefallen: das äussere Symbol der inneren Selbständigkeit,103 hat Verena der ­Freundin vor einem halben Jahr geschrieben. Auch Gians Schwester ­Elisabeth, die Pferdekutschen und sogar Autos lenken kann, trägt ihr Haar kurz.104

      Den Kopf neigt Greti leicht zur Seite – wie um zu relativieren: Gar so aufmüpfig bin ich doch nicht, wie es der Bubikopf ­signalisiert. Die Gesichtszüge wirken gelöst, die Augen blitzen voller Schalk dem Gegenüber direkt ins Gesicht. Einen Tag ­zuvor, am 8. September 1929, haben Greti und Gian in Igis ­geheiratet, im Kreis der engsten Verwandten. Von diesem Tag gibt es ein unprätentiöses Foto einer Gruppe auf einer Wiese, die Braut in einem schwarzen Kleid zwischen ihren Schwestern, der Bräutigam am Rand. Der Anlass liesse sich nicht erkennen, stünde da nicht das Datum. Wichtiger scheint es Greti, den Haarschnitt am Tag danach zu dokumentieren, kurz vor der ­Abreise nach Brasilien. Ihre linke Hand drückt den Daumen. Seit langem hat sie sich danach gesehnt, mit dem Liebsten in die Welt hinauszuziehen. Nun ist es so weit.

      Genese

      einer Feministin

      Wie hatten sich Greti und Gian nacheinander verzehrt, damals in den Jahren ihrer Studentenliebe in Zürich! Oft war es ihnen schwer gefallen, ihr Begehren zurückzuhalten. Dass sie stark bleiben und das Letzte – den Koitus – erst in der Ehe tun würden, war beiden klar. Als sie darüber sprachen, äusserte Gian seine Angst, sie könnten sich in einem innigen Moment vergessen. Greti teilte seine Sorge, konterte aber gleichzeitig: Für mich ist die Leidenschaft nicht etwas Schlechtes. Sie ist die Erlösung aus der Gefühlsarmut, der «Wohlanständigkeit» und kulturüberkleisterten Unechtheit. (…) Sie lässt uns die Welt in ihrer ganzen Farbigkeit und Schönheit empfinden und sehen.105 Freilich war es für Greti ebenso wichtig, im rechten Augenblick Nein sagen zu können.106

      Ein Erlebnis mit dem Liebsten blieb Greti besonders im Gedächtnis.107 Es war das Jahr 1927, ein lauer Frühsommerabend, und Gian holte sie von einem Seminar an der Universität ab. Gemeinsam schritten sie in die sternenhelle Nacht hinaus, als er sie in seine Studentenbude einlud. Dort sassen sie eine Weile lang schweigend Schulter an Schulter nebeneinander. Die Leidenschaft kam über uns. Wir lagen Hand in Hand, Mund auf Mund in dem dämmerartigen, guten, ausgleichenden Dunkel. Was nun geschah, verschlüsselte Greti im Tagebuch mit griechischen Buchstaben. «Du wäre es so schrecklich, wenn wir uns einmal ganz nackt umarmen würden?» Er fragte es leise und zaghaft. Was mochte es gebraucht haben, bis er es überhaupt sagen konnte! Meine Antwort war ein banges Fragen: «Können wir dann noch stark bleiben?» (…) In plötzlichem Entschluss streifte ich mir das Gewand von der Schulter und barg in heisser Scham meine nackte Brust an der seinen – und dann lagen wir Mann und Weib. (…) Es war ganz anders als ich es je gedacht. Ein grosses, reines, ruhiges Stillsein erfüllte uns. Es war keuscher, als da wir uns je in Gewändern berührt. Selbst der Trieb schien ausgelöscht. Ein grosses Staunen über sein Gutsein über sein wundersames Stillesein erfüllte mich. Wenn ich mich auch einen Augenblick geschämt, so war das doch nur der Kampf ge­gen unsere Erziehung (…). Schämte ich mich denn vor meinen Schwestern, schämten wir uns denn vor einem Arzt, der uns doch ein ganz fremder Mensch? Hier aber war es das Wesen, das zu dem meinen gehörte, der Mensch, der meinem Sein, Sinnen und Fühlen am Engsten verbunden (…).108

      Greti vertraute das Erlebnis Hildi Hügli an,109 ihrer besten Freundin aus der Kantonsschule, die in Bern studierte. Doch die konnte in der Entsagung kein höheres Ziel erkennen. Wir mögen eines vom andern noch so tolles Zeug verlangen, keines kann nein sagen,110 offen­barte sie Greti und spitzte deren Argumentation zu: Wenn Sinnlichkeit gut (…) – ja, sogar göttlich – war, dann musste das doch auch für die Zeit vor der Ehe gelten. Denn der Mensch ist Eines, er zer­fällt nicht in einen verachteten gierigen Leib und in eine vergötternde, verachtende Seele.111 Die Leidenschaft zu bekämpfen sei ein Vorurteil. Diesen Schritt konnte und wollte Greti jedoch nicht mitgehen. Du hast den kostbaren, unendlich süssen Kern, der im Warten (…) liegt, nicht erkannt,112 verteidigte sie sich. Und dennoch brachten Hildis Worte


Скачать книгу