Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
gehen, dann wäre es weniger auffällig.42
Greti: Dass eine schwangere Frau doch nicht ein Examen machen könne, ästhetisch oder sittlich oder weiss ich was nicht, rührt mich gar nicht. Das geht die Professoren dann nichts an, ob ich als schwangere Frau Examen machen will oder nicht. Darüber gibt es zum Glück keinen Paragraphen. So was gibt es einfach nicht. Das ist noch nie da gewesen. Es würde mich aber schrecklich reizen. Die Frau «mit ihrem hohen, hehren Mutterberuf» macht just während der Schwangerschaft Schlussexamen. Welche Schändung «der göttlichen Schöpfungsordnung». (…) Wenn es nicht geht, verzichte ich lieber auf das Kind als auf das Examen.43
Greti musste auf nichts verzichten. Genau wie geplant wurde sie im Mai 1930 schwanger. Sie meldete sich sofort zum Schlussexamen an44 und kaufte für Mitte September eine Karte für die Überfahrt nach Europa. Und nun also lag sie mit ihren Büchern im Liegestuhl auf Deck. Während sie sich die grossen Theologen der Geschichte einzuprägen versuchte, brütete Gian in seinem Büro an der Escola Politecnica in São Paulo über der Frage, ob Eukalyptus als Baumaterial tauge. Liebes, Du, hatte er ihr am Tag nach ihrer Abreise geschrieben, wohl wissend, dass sein Brief sie erst Wochen später erreichen würde. Weisst Du, dass ich zum ersten Mal meiner Frau schreibe? Hast Du das mündliche Examen schon hinter Dir, die Überfahrt, den Zoll und das anvertraute Gut? Und «es», war es auch lieb zu Dir? Sag ihm, es soll so lieb zu Dir bleiben, wie Du es zu mir warst. Heute konnte ich gut arbeiten, und ich war so frisch, als hättest Du die «ganze Bürde meiner Jahre» mitgenommen und die grosse Verantwortung der Holzmesserei. Vielleicht ist es die Freude an Dir, dass Du nun dies alles unternimmst und Dich so glänzend gehalten hast.45
Zu ihrem 24. Geburtstag46 hatte Gian ihr ein besonderes Buch geschenkt,47 nicht etwa eine Prestigebibel, wie es sich für eine angehende Theologin geziemt hätte, sondern das Aufklärungsbuch der britischen Biologin und Frauenrechtlerin Marie Stopes Glückhafte Mutterschaft. Ein Buch für alle, die an der Zukunft schaffen. Stopes verband die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Schwangerschaft und Geburt mit einer feministischen Forderung. Die erwachte Frau unserer Zeit nimmt die Dinge nicht mehr blind und mit geduldiger Resignation hin; sie glaubt nicht mehr an die Inferiorität des Weibes, was unseren Grossmüttern geholfen haben mag, ihre Schmerzen schweigend zu ertragen.48
In solchen Sätzen erkannte sich Greti wieder. Kürzlich hatte sie einen Artikel von Hugo Sellheim gelesen, einem der renommiertesten Gynäkologen ihrer Zeit und Leiter der Frauenuniversitätsklinik Leipzig. Zwar war Sellheim kein Feminist wie Marie Stopes. Angesichts einer 24-jährigen Schwangeren wie Greti hätte er nur den Kopf geschüttelt, denn für ihn sollte jede Frau mit achtzehn oder spätestens zwanzig Jahren ein Kind gebären. Die Frau wird in unserem heutigen Leben zu alt für die erste Entbindung, weil sie selbst mit ihrer Ausbildung für einen Beruf zu viel zu tun hat und kein Mann da ist, der sie rechtzeitig heiraten und unterhalten könnte, schrieb der Leipziger Gynäkologe. Es bleibt also die Frauenkraft in Richtung ihrer natürlichen Verwendung für die Fortpflanzung brach liegen, oder sie wird in einer anderen Richtung – der Erwerbsarbeit – verwendet, also im Sinne der natürlichen Bestimmung «missbraucht».49 Dennoch wollte Sellheim den medizinischen Fortschritt in den Dienst werdender Mütter stellen. Gebärenden empfahl er eine Mischung aus Zuckerlikör und dem Schmerzmittel Scopan.50 Die Aussicht auf eine schmerzfreie Geburt faszinierte Greti so sehr, dass sie ihren Eltern verkündete: Ihr werdet Euch wundern, aber ich möchte (…) das Kind ohne Schmerzen kriegen, nicht weil ich mich fürchtete, dazu habe ich vorläufig noch keine Zeit, aber weil ich das von der Medizin als eine Selbstverständlichkeit verlange.51 Sie nahm sich vor, in der Schweiz einen Arzt zu suchen, der die neue Methode praktizierte. Wenn es bei ihr glückte, wollte sie anderen jungen Frauen davon erzählen, die es dann ihrerseits ausprobieren und weitersagen würden.52
Zuerst galt es jedoch, in engem Zeitrahmen das Examen hinter sich zu bringen. Voraussichtlich werden wir am 5. Oktober elf Uhr in Genua sein, werden den folgenden Nachmittag und am 6. Oktober vormittags in Genua bleiben, am 6. Oktober mit dem direkten Zug 11.55 Uhr in Genua abreisen und am 6. Oktober abends 8.53 Uhr in Zürich anlangen, dann habe ich in Zürich noch zwei Tage vor dem Examen, was langen sollte, um ein Kleid zu kaufen und die Haare zu schneiden. Und ein bisschen auszuruhen, schrieb Greti ihrer Freundin und Studienkollegin Verena Stadler. Wenn ich nun weder am 6. noch 7. noch 8. Oktober anlangen sollte, läute bitte Brunner an und sag ihm, es müsse etwas passiert sein, er solle doch bitte Geduld haben. Passieren kann natürlich allerlei, nebst der Dummheit, in Santos oder in Rio das Schiff ohne uns abfahren zu lassen, kann dieses selber wegen Sturm nicht richtig anlangen oder untergehen, item lieber nicht. Wenn alles nach Plan geht, werde ich Dir also nicht mehr telegraphieren (…).53
Das Telegramm an die Freundin konnte Greti Caprez-Roffler sich sparen: Die Conte Rosso erreichte Genua pünktlich.54 Die junge Frau leistete sich eine Spazierfahrt im Taxi durch die Stadt,55 die historischen Palazzi schaute sie jedoch kaum an. Ihr Unterleib spannte im rüttelnden Auto.56 Du kleines Wesen unter meinem Herzen (…). Ich sehne mich nach Dir, aber ich fürchte mich auch. Du kleines Wesen, gell, Du plagst mich nicht zu sehr, nicht mehr, als Du es jetzt schon tust. Du musst mit mir tapfer und brav sein. Und dann, wenn Du von mir gegangen bist, dann werden wir beide wieder warten, warten, dass Dein Vater komme und Dich in seine Arme nehme. Du kleines Wesen, gell du nimmst mir nicht das Leben, ich kann nicht von Deinem Vater weggehen. Ich habe ihn so lieb. Wir können nicht ohne einander sein. Unsere Herzen sind verwachsen, und nichts steht zwischen ihm und mir. Ich kann Dir nicht von unserem Miteinandersein erzählen, es ist zu tief und schön. Du weisst es vielleicht so schon, dass wir immer noch zu wenig an Dich und zu sehr an uns und unsere Liebe denken, weisst es unwillig und zornig.57
Zürich,
12. Mai 1926
Ein junges Liebespaar auf einem Schiff. Keinem Ozeandampfer wie der Conte Rosso: Dieses Motorboot ist schon mit zwölf jungen Männern und Frauen ausgelastet. Fürs Foto sind sie zusammengerückt. Prominent und raumgreifend: Gian Caprez und Greti Roffler. Im Gegensatz zu den anderen Paaren stehen sie aufrecht im Boot und umschlingen sich, wobei sie grösser wirkt als er.
Anlass ist der Maibummel der angehenden Ingenieure auf dem Zürichsee zur Halbinsel Au. Die Gesellschaft hat sich herausgeputzt, es sieht aus, als ob die Frauen um den schönsten Damenhut wetteiferten. Nur Greti hat sich für ein Unisex-Beret entschieden, kombiniert mit einem weiten, luftigen Sommerkleid mit tief liegendem Gürtel. Gian trägt ebenfalls ein Beret, einen Anzug und ein weisses Hemd. Für eine simple Bootsfahrt hätte man sich vermutlich nicht so schön gemacht, aber der Maibummel ist ein besonderes Ereignis. Vor nicht einmal vier Monaten haben sich Greti und Gian ineinander verliebt, auf der Au küssen sie sich zum ersten Mal. Im Tagebuch schwärmt sie kurz nach dem Ausflug: Alle Worte sind zu plump für das Verhältnis des Gianin und mir. Noch bei keinem Menschen hatte ich so deutlich das Gefühl vom Vorhandensein seiner Seele, liebte so sehr seine Seele getrennt vom Körper.58
Zwei Liebhaber
Schon bei der ersten Begegnung am Abend des 26. Januar 1926 in Zürich hatte Greti Roffler das starke Gefühl einer Schicksalshaftigkeit. Sie war neunzehn, studierte im ersten Semester an der Universität und fühlte sich in der Stadt verloren. Welch ein Verkehr, was für eine Betriebsamkeit! Die leuchtenden Schaufenster, die eleganten Herren und geschminkten Damen, die Prostituierten im Niederdorf – all das befremdete sie. Selbst Chur, wo sie die Kantonsschule besucht hatte, wirkte im Vergleich wie ein beschauliches Dorf, das Strassenbild geprägt durch Pferdekutschen. Sie hatte kaum je ein Automobil gesehen – die lärmenden Gefährte waren in Graubünden erst vor wenigen Monate zugelassen worden. Mehr noch wunderte sie sich über die Anonymität in der Grossstadt. Von den vielen Menschen, die mir begegnen, kenne ich fast nie einen, klagte sie einer Freundin. Ich habe mich dran gewöhnt, sie überhaupt nicht mehr zu sehen.59 Um sie in Zürich in guten Händen zu wissen, hatte ihr Vater sie bei seinem Kollegen Paul Schmid, dem Pfarrer am St. Peter, einquartiert. Von dessen Wohnung am Talacker wanderte sie jeden Morgen zur Hochschule hinauf. Der Austausch mit ihrer Cousine Gretly Puorger, die hier Medizin studierte, linderte das Heimweh.
Sie war es, die Greti bat, sie an den Bündnerball