Immer ist alles schön. Júlia Wéber

Immer ist alles schön - Júlia Wéber


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gefallen ist und dessen Beine krumm sind, weil Bruno sie verbogen hat, als er noch nicht reden konnte und nichts verstanden hat.

      Bruno sagt, er könne sich nur schwer vorstellen, einmal sprachlos gewesen zu sein. Er könne sich mich aber gut als Säugling vorstellen. Ich schlage Bruno daraufhin die Brille vom Gesicht. So ist Bruno vorübergehend blind und flucht über mich, dann schreit Mutter im Bad, dass sie genug habe von diesen Stimmen immer, diesen Menschen ständig um sie herum und den Stimmen und dem Jammern, und immer wolle jemand etwas von ihr. Ich stehe erschrocken neben dem Fuchs und rufe, dass wir von niemandem überhaupt nichts wollen.

      Dass wir bloß streiten, weil wir Kinder sind, ruft Bruno.

      Der kleine Bruno dreht mir den Rücken zu, ich sehe seine Magerkeit, hebe die Brille auf, schiebe ihm die Bügel hinter die Ohren. Er schaut hoch zu mir.

      Was ist mit Liebe?, frage ich.

      Das Fell des Fuchses ist trocken, und unter dem Fell ist der Fuchs hart.

      Keine Zeit, sagt Bruno und will davon, aber ich halte ihn am Hosenbund fest. Er dreht sich um.

      Bruno mit dem tiefseeblauen Klebeband am Brillenrand.

      Bruno mit dem ausgefransten Ausschnitt des Pullovers, den er beim Denken in den Mund nimmt, bis der Stoff verschwindet.

      Bruno mit den dicken Brillengläsern und den vom Wissen vergrößerten Augen dahinter.

      Ich habe bei Bruno einen Zettel gefunden.

      Liebe Anita,

      ich habe bemerken müssen, dass du in Geografie nicht sehr gut bist, um ehrlich zu sein, fand ich es schockierend, dass du die Hauptstadt Lettlands nicht kennst.

      (Riga, 699 203 Einwohner, 7 m ü.M., größte Stadt des Baltikums.)

      Ich könnte dir helfen. Ich könnte zu dir nach Hause kommen, und wir würden zusammen die Landkarte betrachten, und ich würde dich abfragen.

      Lieber Gruß

      Bruno

      Bruno ist in Anita verliebt, und ich denke manchmal an Peter.

      Das ist das Leben, sagte Mutter, das ist ganz normal.

      Sie sagte, jetzt wirst du bald mein Rouge haben wollen und wirst sehr große Busen bekommen und deine Tage auch. Dann willst du eine Tätowierung und rote Lackstiefel haben wollen, Glitzerhemden, Kondome, alles.

      Das will ich überhaupt nicht, sagte ich.

      Du wirst schon sehen, sagte Mutter.

      Wirklich nicht, sagte ich.

      Doch, doch, sagte sie.

      Mutter kommt aus der Dusche. Sie trägt ihren Kopf auf einem langen Hals, auf dem die Muttermale oberhalb des Schlüsselbeins beinahe eine Perlenkette ergeben. Manchmal möchte ich ihren Hals berühren, die Muttermale, aber ich weiß nicht wie; ihre feinen blonden Härchen am Hals. Manchmal denke ich, dass Mutter zu groß, zu blond und zu lebendig ist, dann tut es mir leid. Manchmal wünsche ich mir eine Mutter mit mattem Haar, zerknitterter Schürze, sanften, müden Augen.

      Manchmal vermisse ich Mutter, obwohl sie da ist, und manchmal habe ich das Gefühl, sie sitzt in mir drin.

      Mutter sagte einmal, wenn man tanze, dann liebe man das Le­ben, und wenn man tanze, liebe einen das Leben auch. Das weiß ich noch, weil sie, als sie das sagte, einem Huhn ein Bein abtrennte, ich erinnere mich an das Messer im Huhn.

      Wenn sie hingegen Tee trinke, sagte sie, dann werde sie krank. Das sei wegen des Geschmacks, da reagierten die Zellen drauf, die reagierten auf den Geschmack von Tee mit Krankheit.

      Also ist Tee das Gegenteil von Tanz, sagte Mutter.

      Blödsinn, flüsterte Bruno. Das weiß ich noch, weil, als Bruno das sagte, Mutter mit dem Messer auf ihn zeigte. Ich erinnere mich an die Lichtreflexion auf dem Messer.

      Wind schlägt die Fensterläden gegen die Wand. Tack, tack.

      Mutter sitzt auf ihrem unendlichen Bett und lächelt.

      Zu mir kommen, sagt sie mit den Fingern.

      Wir legen uns auf sie, und sie sagt, es ist gut.

      Die Tropfen kleben als Perlen an der Scheibe. Dann zündet sie sich eine Zigarette an, und der Rauch steigt als Faden vor ihren Augen an die Decke. Wir liegen in ihrer seidenen Gold­bettwä­sche. Im Kleiderschrankspiegel und den drei Spiegeln hinter Mutters Bett sehe ich uns unendlich oft auf dem Bett sitzen. Unendlich viele Rauchfäden steigen an die Decke, unendlich viele Brunos haben ihren Kopf auf Mutters Beine gelegt, unendlich viele Ichs schauen mich an, und unendlich viele Mutterkörper sind von ihren Kindern halb bedeckt.

      Ist gut?, frage ich.

      Ja, ist gut, sagt sie.

      Was ist gut?, fragt Bruno.

      Alles, sagt sie.

      Alles ist gut?, frage ich.

      Ja, sagt Mutter, alles gut.

      Dann kratzt sie Eingetrocknetes vom Nachttisch und schaut sich selbst dabei zu.

      Also wirklich alles gut, sage ich und umarme Mutters Rücken. Ich lege mein Gesicht an ihr Schulterblatt, das von der Kratzbewegung ihrer Finger auf und ab geht. Ihr Hemd ist aus einem feinen Stoff.

      Und als Mutter aus ihrem Schweigen auftaucht, beginnt sie, von Freundinnen zu reden. Sie hätte Freundinnen gehabt, früher, sagt sie, mit denen sie auch so gesessen und gelegen habe, manchmal, und sie hätten über dies und das und Träume und Männer und Vorstellungen und Begegnungen und Bewegungen geredet. Und irgendwann hätte sie aber bemerkt, wie es immer weniger Bewegungen, Begegnungen und Vorstellungen wurden. Immer weniger Wahrheit in den Begegnungen, sagt sie. Bis sie irgendwann ihren Freundinnen so fremd geworden sei, dass sie sich gewünscht habe, ihnen fiele der Mond auf den Kopf.

      Warum der Mond?, fragt Bruno.

      Ja, der Mond, sagt Mutter.

      Und dann saßen wir nie mehr zusammen und auch sonst nirgends mehr, und jetzt bin ich mit euch hier. Ihr seid jetzt meine Freundinnen, sagt Mutter.

      Wir sind deine Kinder, sagt Bruno.

      Noch schöner, sagt sie, und dann singt sie ein Lied, aber kann den Text nicht, also summt sie, aber weil das Summen nicht Singen ist, verstummt sie. Und dann schweigen wir. Es ist ein gutes Schweigen. Bruno schweigt am stillsten. Mutter eher emotional.

      Ich stehe im Hof unter der großen Linde und sehe bei Frau Wendeburg Licht. Ich stehe hier und sehe sie in der Küche sitzen, unter dem tiefen Lampenschirm, vom Küchenlicht beleuchtet. Der Wind kommt in Schüben in den Hof, dreht seine Runden, geht, und der Donner klingt leise, als brächen Felsen innerhalb des Himmels, in einem Himmel außerhalb der Stadt.

      Ich denke an Frau Wendeburgs Fassadenblick.

      Ihre Wollmäntel sind weich, auf ihren Schultern liegen Schuppen wie Schneeflocken, das kann ich immer dann erkennen, wenn der Wollmantel dunkel ist, und ich weiß, dass an ihrem braunen Regenschirm eine Speiche verbogen ist.

      Frau Wendeburgs Wollmäntel sind grün, rot, braun, orange, weiß. Frau Wendeburgs Haut ist hellbraun gefleckt, weißlich, billigpuderdosenorange, rosarot.

      Und an ihrem Arm machte der leere Leinenbeutel einen Leinenbeuteltanz im Wind. Der Wind bewegte auch die Blättchen am Baum. Frau Wendeburg, die langsam davonging.

      Und jetzt ihr Lächeln an der Scheibe. Ein Vorhangzurseiteschieben mit zwei Fingern, ihr rundes Gesicht. Sie schaut nach draußen. Ich stelle mich hinter den Baum.

      Frau Wendeburg kennt unsere Wohnung von früher, sie kennt das Rauchen von Mutter auf dem Balkon. Sie kennt Brunos Schlaf und meinen. Sie hat Toast Hawaii für uns gemacht, das weiß ich noch, weil der Schinken salzig war und die Ananasscheiben süß. Wir mussten uns waschen vor dem Schlafengehen mit den Waschlappen, die kratzten, sie waren alt und steif, nicht weich wie Frau Wendeburgs Mäntel. Sie hatte die Tür unseres Schlafzimmers offen gelassen, weil sie dachte, wir könnten nicht schlafen


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