50 Jahre Speech-Acts. Группа авторов

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zur linguistischen Pragmatik der für diese Teildisziplin zentrale Status der Sprechakttheorie betont (vgl. etwa Schlieben-Lange 1975; Wunderlich 1975) und ganz entlang der eben beschriebenen Argumentationslinien begründet.

      Schon früh ist der Sprechakttheorie dabei ein entscheidender Einwand entgegengebracht worden, der sich auf ihre Sprecherorientiertheit oder – schärfer noch – ihre Sprecherzentriertheit bezieht. Die Analysen der Gelingensbedingungen bzw. der Gebrauchsregeln für Indikatoren der illokutionären Rolle sind allein auf die Sprechenden konzentriert, und als Beispiele werden typischerweise isolierte und an der Größe des Satzes orientierte Äußerungen präsentiert. Schon bald hat man demgegenüber auf die sequentielle Einbettung von Sprechakten hingewiesen und „Sprechaktsequenzmuster als Grundlagen von Dialogmustern“ (Hindelang 1994, S. 106) bestimmt. Vor allem aber in der durch die amerikanische Conversation Analysis inspirierten Gesprächsanalyse hat man der Sprechakttheorie vorgeworfen, mit der Konzentration auf Sprechakte den grundlegend interaktionalen Charakter sprachlicher Kommunikation zu vernachlässigen. Nicht die Sprechenden alleine könnten über ihre Äußerungen und ihren Handlungswert verfügen (vgl. hierzu Liedtke in diesem Band), vielmehr seien die Gesprächsbeiträge in Form und Funktion kollaborativ erzeugt, und „[e]rst das Gespräch als Ausgangspunkt sprachpragmatischer Forschung garantiert die unverkürzte Darstellung sprachlicher Realität“ (Henne/Rehbock 2001, S. 11). Das Gespräch aber, und auch hierauf zielt der gesprächsanalytische Einwand gegenüber der Sprechakttheorie wie auch gegenüber der sprechakttheoretischen Dialoganalyse, könne prinzipiell nicht auf dem Wege der Introspektion, sondern nur anhand von ‚natürlichen‘ Gesprächsdaten angemessen untersucht werden.

      Auch wenn sich die Gesprächsanalyse seit jeher und bis heute mit diesen Argumenten von der Sprechakttheorie distanziert, scheint das grundlegende Vorgehen, bei der Analyse von Transkripten Sprechhandlungen zu bestimmen und dies an oberflächensprachlichen Merkmalen festzumachen, auch hier – wenigstens für einen „ersten Zugriff“ (Deppermann 2008, S. 55) – unverzichtbar zu sein (vgl. Staffeldt 2014, S. 111f. und in diesem Band). In ihren Details mag die Sprechakttheorie Searles zwar ihre Strahlkraft eingebüßt haben. Die Zeiten, in denen ganze Kongressbände mit immer neuen Sprechaktanalysen gefüllt wurden, liegen lange zurück, und schon 1990 kann Armin Burkhardt für die Sprechakttheorie einen allgemeinen „decline of a paradigm“ (Burkhardt 1990a) konstatieren. Dass aber sprachliche Handlungen überhaupt zentrale linguistische Gegenstände sind, die sowohl theoretisch als auch empirisch erschlossen werden müssen, wurde und wird kaum je bezweifelt. Auch jenseits von ausdrücklich sprechakttheoretisch orientierten Forschungsrichtungen lassen sich deshalb deutliche Spuren der Sprechakttheorie nachweisen.

      So bauen zahlreiche Anwendungsfelder der Pragmatik wie etwa die (Un-)Höflichkeitsforschung (vgl. Brown/Levinson 1987; Bousfield 2008; Bonacchi 2017) auf erkennbar sprechakttheoretisch konturierten Begriffen wie dem des face threatening act oder dem Konzept der indirekten Sprechakte (vgl. Searle 1975) auf. Der Searle’sche Entwurf wird dabei auch weiterentwickelt, indem etwa komplexe Illokutionen im Rahmen einer sprechakttheoretischen Multi-Akt-Semantik beschrieben werden (vgl. Tenchini/Frigerio 2016). Auch in der Textlinguistik wurden Texte nicht nur als transphrastische Strukturen, sondern auch als – typischerweise hierarchisch – verknüpfte sprachliche Handlungen (vgl. Dijk 1980, S. 90) und mithin Illokutionsstrukturen (vgl. Motsch/Viehweger 1991) beschrieben oder allgemeine Textfunktionen nach dem Vorbild der Searle’schen Sprechakttaxonomie definiert (vgl. Brinker 2010). Die Phraseologie hat sich die Sprechakttheorie mit dem Begriff der Routineformel als „konventionelle[n] Äußerungsformen für den Vollzug bestimmter Sprechakte“ (Stein 2004, S. 266) zu eigen gemacht. Auf die pragmalinguistische Forschung zu Sprache und Politik, in der die Bestimmungen von Sprechhandlungen und ihrer Funktionen zentral sind, wurde bereits hingewiesen. Über die Vermittlung durch die Funktionale Pragmatik liefert der Begriff der Sprechhandlung im Sinne Austins und Searles schließlich auch für das Vorhaben einer Funktionalen Grammatik das theoretische Fundament (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, S. 99–159). Die von gesprächsanalytischer Seite vorgebrachten Einwände, insbesondere die Forderung nach der Berücksichtigung sequentieller Einbettungen, werden dabei von vornherein integriert und statt isolierter Sprechhandlungen werden komplexere Handlungsmuster veranschlagt. All diese Beispiele zeigen, dass die Sprechakttheorie zum theoretischen Grundbestand, sozusagen zur Grundausrüstung jeder pragmatisch orientierten Linguistik gehört.

      Eine andere Stoßrichtung der Kritik an der klassischen Sprechakttheorie zielt auf ihren universalistischen Charakter. In sprach- und kulturvergleichender Perspektive wurde auf ethnozentrische Tendenzen der Sprechakttheorie hingewiesen, welche kulturspezifische Ausprägungen von Sprechakten wie auch von Ethnotaxonomien außer Acht lasse (vgl. Gass/Neu 1996; Richland 2013). In diachroner Perspektive hat man die historische Wandelbarkeit von Sprechakten bzw. von Indikatoren der illokutionären Rolle aufgezeigt (vgl. Jucker/Taavitsainen 2008). Allerdings handelt es sich bei beiden Forschungsrichtungen mitnichten um Angriffe auf die Sprechakttheorie als solche (vgl. aber Rosaldo 1982). Im Gegenteil, ihre prinzipielle Tauglichkeit und auch die mit ihr verbundenen Heuristiken wie etwa die Inventarisierung von Indikatoren der illokutionären Rolle werden gerade nicht bestritten, sondern allenfalls empirisch ausdifferenziert und hierdurch letztlich doch bestätigt.

      Die Sprechakttheorie, so könnte man diesen Abriss ihrer Karriere in der Linguistik resümieren, ist eine Normalwissenschaft im Sinne Thomas Kuhns geworden:

      […] eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft […] als Grundlagen für die weitere Arbeit anerkannt werden. Heute werden solche Leistungen in wissenschaftlichen Lehrbüchern, für Anfänger und für Fortgeschrittene, im einzelnen geschildert, wenn auch selten in ihrer ursprünglichen Form. Diese Lehrbücher interpretieren den Grundstock einer anerkannten Theorie, erläutern viele oder alle ihre erfolgreichen Anwendungen oder vergleichen diese Anwendungen mit exemplarischen Beobachtungen und Experimenten. (Kuhn 1967, S. 28)

      Und so normal, wie die Sprechakttheorie geworden ist, so wenig scheint sie derzeit in der Linguistik noch Gegenstand ernsthafter theoretischer Auseinandersetzung zu sein – anders, als in der Philosophie, wo sie bis heute diskutiert wird (vgl. etwa Fogal/Harris/Moss 2018). Im 1990 erschienenen Band Speech Acts, Meaning and Intentions (Burkhardt 1990b), der den Stand der Sprechakttheorie 20 Jahre nach Erscheinen von Searles Buch bilanziert, sind vor allem theoretische Einwände vorgebracht worden. Nochmals 30 Jahre später, so könnte man überspitzt zumindest für die germanistische Linguistik sagen, wird die Sprechakttheorie vor allem angewendet.

      3 Neuere Tendenzen

      Das oben gezeichnete Bild der Sprechakttheorie als Normalwissenschaft ist natürlich ein überzeichnetes. Insbesondere im angelsächsischen Raum werden auch gegenwärtig neue und dezidierte sprechakttheoretische Modelle entwickelt (vgl. Kissine 2013). Auch neuere Theorieentwicklungen im erweiterten Bereich der pragmatischen Linguistik werfen Perspektiven auf, die – obwohl sie selbst nicht die klassischen sprechakttheoretischen Probleme adressieren – eine erneute Auseinandersetzung mit sprechakttheoretischen Grundannahmen erfordern.

      In der poststrukturalen Diskurslinguistik ‚nach Foucault‘ mit ihrer Kritik am Subjekt- und Intentionsbegriff (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, S. 51, 67f.) müssen auch der Begriff des Sprechakts als in individuellen Intentionen verankerte sprachliche Handlung sowie die ihm eingebaute intentionalistische Theorie der Bedeutung (vgl. Grice 1957) problematisiert werden. Dem Sprechakt stellt Foucault die Aussage (énoncé) gegenüber, die dem Vollzug von Sprechakten gewissermaßen vorgelagert ist, die stets in Diskurse und Aussagennetze eingewoben ist, welche überhaupt erst bedingen, dass in einer sozialen und kulturellen Situation einzelne Aussagen möglich werden (vgl. Foucault 1973, S. 67f.).1 „Diskurshandlungen“ (Spieß 2011) sind gegenüber Sprechakten im Sinne Searles also viel stärker durch diskursive, dem Individuum vorgängige Bedingungen der Möglichkeit des Gesagten geprägt (vgl. zusammenfassend Spitzmüller/Warnke 2011, S. 69–72).2

      Ebenfalls dem Subjektivismus und Intentionalismus kritisch gegenüberstehend ist die Praxistheorie, die statt „interessengeleiteten und mit einer subjektiven Rationalität ausgestatteten Handlungsakten einzelner Akteure“ (Reckwitz 2003, S. 287) routinisierte, materiale und leibgebundene Praktiken als


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