50 Jahre Speech-Acts. Группа авторов
Linguistik ausgestrahlt. In einer Linguistik der Praktiken interessiert weniger, welche Sprechakte als Mittel zur Realisierung von Akteursintentionen zur Verfügung stehen und wie sie sprachlich vollzogen werden, sondern „wie Sprache im leiblichen, respektive multimodalen Ausdruck inkarniert und intrinsisch in die Handlungsvollzüge in der materiellen und medial vermittelten Welt verwoben ist“ (Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 14). Das für gesprächsanalytische Zwecke entwickelte Konzept der kommunikativen Praktiken (vgl. Fiehler et al. 2004, S. 99–104) scheint dagegen noch eher mit sprechakttheoretischen Grundannahmen verträglich zu sein. Doch auch kommunikative Praktiken als „präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke realisiert werden sollten“ (Fiehler et al. 2004, S. 99) – als Beispiele können Auskünfte, Beschwerden oder Unterweisungen genannt werden – sind gewissermaßen auf einer Ebene oberhalb von einzelnen Sprechakten angesiedelt. Der sich hier andeutende Perspektivenwechsel von einzelnen Akten hin zu umfassenderen Routinen prägt im Übrigen auch neuere, dezidiert sprechakttheoretische Ansätze. In ihrer Einleitung zum Handbuch Pragmatics of Speech Actions, das den internationalen Stand der pragmalinguistischen Sprechakttheorie dokumentiert, weisen etwa Sbisà und Turner die Verhältnisbestimmung von Sprechakten einerseits und „linguistic and cultural practices and routines“ (Sbisà/Turner 2013, S. 5) in ihrer interaktionalen Dynamik andererseits als wichtige Aufgabe einer zeitgemäßen Sprechakttheorie aus.
Für die an Praktiken orientierten Zugriffe ist kennzeichnend, dass Sprache bzw. Kommunikation weniger mit Blick auf die zugrundeliegenden Regeln, sondern „nur in der sozial bestimmten performativen Qualität des Vollzugs“ (Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 12) interessiert. Mit dem hier anklingenden Konzept des Performativen ist freilich ein sprechakttheoretischer Grundbegriff angesprochen, welcher indes bei Austin eine weitaus größere Rolle spielt als bei Searle, wo nur am Rande performative Verben als mögliche Indikatoren der illokutionären Rolle erwähnt werden. Das Konzept der Performativität, mit dem ganz allgemein die soziale Konstruktivität symbolischer Handlungen auf den Begriff gebracht (vgl. Scharloth 2009, S. 234) und zugleich der Anschluss zu dem in der Anthropologie zentralen Begriff der performance hergestellt werden kann, ist in den Sprach- und Kulturwissenschaften zu einem Schlüsselkonzept avanciert (vgl. Fischer-Lichte 2016). Für dieses ist jedoch die Searle’sche Fassung der Sprechakttheorie kaum mehr ein theoretischer Bezugspunkt.3 Auch in unmittelbar an der Sprechakttheorie interessierten neueren Forschungsarbeiten zum Begriff der Performativität lässt sich eine Tendenz zum Rückgang auf Austin beobachten (vgl. Robinson 2013; Rolf 2015), und so erstaunt auch nicht, dass neuere Versuche, den Begriff des Sprechaktes um den des Bildaktes zu ergänzen, sich eher an Austin anschließen (vgl. Schmitz 2007; Bredekamp 2015).
Neben diesen drei Theorieentwicklungen, der Diskurslinguistik, der Theorie der Praktiken und der Performativitätstheorie, die auf die Sprechakttheorie rückwirken, lassen sich aber auch in der genuinen Sprechakttheorie einige Tendenzen ausmachen, die die neueren Diskussionen bestimmen. Diskutiert werden etwa Bezüge zwischen Kognitiver Linguistik und Sprechakttheorie, etwa indem so genannte Sprechaktszenarien, die bei Searle noch als Sets von Regeln erscheinen, als Idealized Cognitive Models beschrieben und auf ganz allgemeine kognitive Prinzipien bezogen werden (vgl. Panther/Thornburg 2005 und Gärtner/Steinbach in diesem Band). Besondere Aufmerksamkeit wird zudem – und auch hier dürfte die Kognitive Linguistik mit ihrem ausgeprägten Interesse an Emotionen (vgl. Schwarz-Friesel 2013) entscheidenden Anteil haben – den expressiven Sprechakten geschenkt. Expressivität wird als linguistische Kategorie verhandelt, die sich insbesondere auf Sprechaktebene manifestiert (vgl. d’Avis/Finkbeiner 2019 sowie Finkbeiner in diesem Band und Trotzke in diesem Band), und so sind es gerade auch empirische Arbeiten zu expressiver Kommunikation, in denen sprechakttheoretische Zugriffe zur Anwendung kommen (vgl. Marx 2018 sowie Tuchen in diesem Band).
Ebenfalls im Fahrwasser der Kognitiven Linguistik bewegen sich konstruktionsgrammatische Ansätze. Mit ihrer grundlegenden Modellierung von Konstruktionen als gebrauchsbasierten form-meaning pairs sind sie ohnehin recht nah an Searles Vorschlag, die Analyse von Sprechakten auf die Semantik von formseitig bestimmbaren Indikatoren der illokutionären Rolle abzustellen. So wurden etwa konventionalisierte indirekte Sprechakte bzw. die sprachlichen Formen ihres Vollzugs als Konstruktionen beschrieben (vgl. Stefanowitsch 2003). Besonders anschlussfähig sind indes jene vor allem in der interaktionalen Linguistik entfalteten Spielarten der Konstruktionsgrammatik, die auch pragmatische Restriktionen der Bedeutungsseite von Konstruktionen zurechnen. Konstruktionen, verstanden als rekurrente sprachliche Muster, werden an „Sprechhandlungstypen“ (Deppermann 2006, S. 240) wie etwa Empfehlungen oder Vorschläge gekoppelt, welche typischerweise durch diese Konstruktionen realisiert werden. Das ist, so scheint es, im Kern ein sprechakttheoretisches Vorgehen, und doch wird interessanterweise jeder explizite Bezug auf die Sprechakttheorie vermieden (vgl. hierzu Staffeldt in diesem Band).
Neue methodische Impulse für sprechakttheoretische Ansätze sind seitens der Korpuslinguistik, genauer der Korpuspragmatik zu erwarten, die Sprechakte – wiederum abzulesen an der Position dieses Themas in einem einschlägigen Handbuch (vgl. Aijmer/Rühlemann 2014) – zu ihren primären Gegenständen zählt. Sind diachrone Sprechaktanalysen im Rahmen der Historischen Pragmatik immer schon auf Korpora angewiesen, werden in jüngerer Zeit auch synchrone Untersuchungen korpusbasiert angelegt (vgl. McAllister/Garcia 2014; Weisser 2018 und den Überblick in Tuchen 2018, S. 21). Noch offen ist dabei die Frage, ob und wie die Identifikation von illokutionären Akten, die sich ja gerade nicht eindeutig an sprachoberflächenbezogenen Merkmalen ablesen lassen, überhaupt computergestützt oder gar automatisiert geschehen kann (vgl. Rühlemann/Clancy 2018). Allerdings kann schon eine an großen Datenmengen vorgenommene Erhebung von Gebrauchsprofilen derjenigen sprachlicher Muster, die üblicherweise als Indikatoren illokutionärer Rollen gelten, heuristisch wertvoll sein, insbesondere dann, wenn Kontextfaktoren als Metadaten zur Verfügung stehen.
Im Übrigen dürfte die Etablierung der Korpuslinguistik im (pragma-)linguistischen Methodenkanon4 und damit einhergehend die Entwicklung der Linguistik hin zu einer grundlegend empirischen, datenorientierten Disziplin auch ein Grund dafür sein, dass die theoretische Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie ein wenig in den Hintergrund geraten ist. Die reine Theoriearbeit, die allenfalls zu Veranschaulichungszwecken auf Sprachdaten zurückgreift, scheint an Attraktivität zu verlieren angesichts der Fülle der empirischen Details, die es zu entdecken gibt. Und dennoch: Auch das induktivste Vorgehen wird auf theoretische Konzepte zurückgreifen und den Umgang mit dem empirischen Material deduktiv ausbalancieren müssen, und wie bereits gezeigt, ist das Konzept des Sprechakts bzw. des Sprechakttyps hierfür ein oft gewählter Kandidat, auch wenn er mitunter terminologisch anders gefasst wird. Nach wie vor ist es aber nötig und auch lohnend, dieses Konzept theoretisch und methodologisch, aber auch in seiner für die Pragmalinguistik identitätsstiftenden Funktion zu reflektieren. Oder, um einen sprechakttheoretischen Klassiker (vgl. Austin 1968, S. 153) abzuwandeln: Es lohnt zu klären, was man – als Linguist*in – tut, wenn man Sprechakt sagt. Dazu leisten die Aufsätze im vorliegenden Band einen Beitrag.
4 Zu den Beiträgen
Der Band wird eröffnet von Sven Staffeldt, der in seinem Beitrag „SAT(T?) – Ein Verwirrspiel in drei Akten“ aktuelle Forschungsbeiträge zur Pragmalinguistik daraufhin sichtet, welche Rolle der Sprechakttheorie oder zumindest sprechakttheoretisch konturierten Konzepten zukommt. Insbesondere anhand von transfer- und anwendungsorientierten Arbeiten gesprächsanalytischen Zuschnitts zeigt Staffeldt, dass explizite und erst recht affirmative Bezugnahmen auf die Sprechakttheorie weithin fehlen, aber gleichwohl Analyseschritte unternommen werden, die sich an sprechakttheoretische Analysen anschließen lassen. Der Beitrag plädiert dafür, induktive und deduktive Zugänge nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als Stationen in einem Kreislauf sich wechselseitig bedingender Zugriffe auf Sprache und Sprachgebrauch anzusehen.
Um eine wissenschaftshistorische Einordung geht es im Beitrag „Vormoderne Sprechaktanalysen als Herausforderung für die moderne Sprechakttheorie“ von Simon Meier. Anhand von historischen Analysen von Sprechhandlungen wie z.B. Versprechungen und Drohungen wird gezeigt, dass einige wesentliche Merkmale der modernen Sprechakttheorie – etwa die Formulierung von Gelingensbedingungen – bereits lange vor Searle in den Werken