50 Jahre Speech-Acts. Группа авторов

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Eindruck kann man jedenfalls bekommen, wenn man textuell als z.B. Würdigung und Kritik getarnte, letztlich aber als eine Art Warnung verstehbare Passagen der folgenden Art in einführenden sprachwissenschaftlichen Lehrwerken liest:

      Würdigung und Kritik: Die Sprechakttheorie ist nicht empirisch fundiert, sondern gründet auf Introspektion und bleibt damit spekulativ. Sie arbeitet mit erfundenen Beispielen, deren Richtigkeit nicht durch Daten belegt wird, sondern der Intuition der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überlassen bleibt. Während die Sprechakttheorie versucht hat, Äußerungen abstrakt und kontextunabhängig zu klassifizieren, untersuchen die im Folgenden ausführlich behandelten Ansätze [das sind: Konversationsanalyse, Interaktionale Linguistik und Multimodalitätsforschung; Anmerkung des Verfassers] sprachliche Äußerungen in ihren tatsächlichen Verwendungskontexten. (Stukenbrock 2013, S. 220)

      Geschichten dieser Art haben einen klaren Plot mit einem klaren Ausgang: SAT ist böse und verführerisch. Sie dockt an Intuitionen und nicht an Daten an, verführt zu dadurch als gerechtfertigt erscheinenden Spekulationen und interessiert sich dabei mehr oder nur für das, was man über Interaktionen denkt, und kaum oder nicht für das, was Interagierende tun. Selbst wenn man das der SAT zurecht vorhielte (also wenn alle SAT so, und nur so arbeiten würde – dass dies nicht der Fall ist, das zeigen bspw. Studien wie die von Staffeldt (2014) oder auch Kiesendahl (2011)), bliebe man aber noch mindestens ein Argument schuldig: Sind denn solche sprechakttheoretischen Spekulationen gänzlich nutzlos oder lassen sie sich nicht vielleicht doch für Weiterverwendungen benutzen? Wie schlimm ist eigentlich die intuitionsbasierte introspektive Methode, wenn es etwa darum geht, sich darüber zu vergewissern, was man unter der einen oder anderen Sprachhandlung versteht (was etwa ein VORWURF1 und was im Unterschied dazu eine BESCHULDIGUNG ist, wie man davon eine BEZICHTIGUNG abgrenzen kann usw.)?

      Wer sich viel um die Enttarnung von bösen Wölfen in der Linguistik verdient gemacht hat, ist Walther Kindt. Sowohl im Bereich der Semiotik als auch in den akademisch besonders relevanten, weil lehrveranstaltungsmäßig in den Einführungen gut etablierten Unterdisziplinen der Linguistik (Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik, Textlinguistik, Gesprächsanalyse) widmet er sich „wissenschaftslogischen und grundlagentheoretischen Defiziten“ (Kindt 2010, S. vii) mit dem Ziel des Aufzeigens der konkreten Probleme und deren Ursachen sowie daraus ableitbarer Lösungsvorschläge für Problembewältigungsaktivitäten. In diesem Zusammenhang behandelt Kindt auch (unter: Pragmatik) die Sprechakttheorie. Er identifiziert dabei im Bereich der Searle’schen Illokutionsklassen vier große Probleme. Als erstes habe die SAT Probleme im Bereich der Theorieformulierung. Sie habe eine nur unzureichende handlungstheoretische Grundlage, ihr fehle eine angemessene Explikation des zugrunde gelegten Handlungsbegriffs und auch die drei Kriterien von Meibauer hierfür (Veränderung in der Welt durch das Eingreifen eines Akteurs, intentionales bzw. absichtsvolles Eingreifen und im Vorhinein feststehende Möglichkeit bzw. Fähigkeit zum Vollzug; vgl. Meibauer 2001, S. 84f.) seien nur bedingt brauchbar (vgl. Kindt 2000, S. 97f.). Darüber hinaus weise die SAT ein erhebliches Empiriedefizit auf. Insbesondere die Frage, ob die postulierten Gelingensbedingungen auch interaktionale Relevanz besäßen, sei völlig unklar. Ebenso, wie genau man welche Gelingensbedingung beschreiben soll. Eines der hieraus resultierenden Probleme sei mit der Aufrichtigkeitsbedingung verbunden. Da man nicht feststellen könne, ob in S2 irgendwelche intentionalen Zustände vorlägen, sei auch das Postulat einer Aufrichtigkeitsbedingung, deren Vorliegen zum Gelingen nötig sei, gegenstandslos (vgl. Kindt 2000, S. 98f.). Ein drittes Problem resultiere aus der unreflektierten Reproduktion undifferenzierter Behauptungen von Searle, „deren Inkorrektheit bzw. mangelnde Präzision längst empirisch erwiesen ist“ (Kindt 2010, S. 99). Als Beispiel führt Kindt hier die Symbolisierung des Sprechaktes als F(P) an, wobei doch längst schon gezeigt worden sei, dass bspw. argumentative Sprechhandlungen (was immer genau Kindt da im Auge hat) nicht über eine, sondern „über zwei Propositionen operieren“ (Kindt 2000, S. 99). Als viertes schwerwiegendes Problem arbeitet Kindt taxonomische Schwierigkeiten heraus. Die Searle’sche Klassifikation genüge nicht den Hauptansprüchen an eine Klassifikation, sie sei jedenfalls nicht disjunkt und die Zuordnung zu den Klassen sei nicht sicher zu bewerkstelligen. Vielmehr seien sich einzelne sprechakttheoretisch Klassifizierende bei verschiedenen Sprechakten manchmal nicht einig, wozu der jeweilige Sprechakt gehört, zum anderen tauchten Sprechakte auch in verschiedenen oder gar mehreren Illokutionsklassen zugleich auf. Kindt macht dies an mehreren Beispielen (WARNEN, EINEN VORWURF MACHEN, ERLAUBEN) fest, von denen ich im Folgenden näher auf VORWERFEN eingehen möchte, weil gerade hier in der Tat grundlegende theoretische und methodologische Weichenstellungen erfolgen – und auch, weil dieses von Kindt als „Klassifikationschaos“ (Kindt 2000, S. 100) benannte Problem Quell verschiedener Missverständnisse ist. Kindt schreibt:

      Die kommunikativ so wichtige Handlung „einen Vorwurf machen“ gilt bei Wagner (2001, S. 298) als assertiv und bei Rolf (1997, S. 238) als expressiv. (Kindt 2000, S. 100)

      Dem ist Folgendes entgegenzuhalten:

      Erstens: Was Kindt nicht schreibt, ist: Warum sollte es problematisch sein, wenn man sich bei der klassifikatorischen Einordnung eines Phänomens nicht einig ist, zu welcher Klasse es zu zählen ist? Man kann hier auch einfach die entgegengesetzte Position einnehmen: Gerade aus einer Perspektive wissenschaftlicher Diskursivität dürfte es eher der Normal- und methodisch-heuristisch auch interessantere Fall sein, wenn man nicht übereinstimmt, denn genau da warten doch Erkenntnisse auf einen. Falsifikation ist wissenschaftslogisch (derzeit) doch gerade einer der wichtigsten Motoren für wissenschaftliches Arbeiten. Und letztlich kommt es ja eher auf die Gründe für die verschiedenen Annahmen an und nicht nur auf die Tatsache, dass sie verschieden sind.

      Zweitens: Um einen solchen Streit führen zu können, müsste man sich aber zunächst einmal sicher sein können, ob man über dasselbe redet. Es kann ja sein, dass man etwas gleich oder ähnlich benennt (hier also etwa als VORWERFEN oder VORWÜRFE MACHEN), damit aber dann doch Verschiedenes meint oder von verschiedenen Realisierungen (im introspektiven Hinterkopf) ausgeht. Wenn jemand beispielsweise eher von Schreiben ausgeht, in denen es etwa heißt „Ihnen wird vorgeworfen …“:

(1) Ich erhielt folgenden Brief: Ihnen wird vorgeworfen, am 29.11.2014 um 1:38, 29664 Walsrode, A7, Rtg. Hamburg, km 97, Landkreis Heidekreis als Führer des PKW XYZ XXX-ZZ 007 folgende Verkehrsordnungswidrigkeit(en) nach §. 24 StVG begangen zu haben: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 24 km/h. Zulässige Geschwindigkeit: 80 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 104 km/h. §. 41 Abs 1 IVm Anlage 2, §. 49 StVG; §. 24 StVG; 11.3.4 BKat (www.frag-einen-anwalt.de/Anhoerung-im-Bu%C3%9Fgeldverfahren,-Vorname-in-Anschrift-verkehrt--f268755.html)

      der/die wird vielleicht ein anderes Verständnis von VORWERFEN haben als der-/diejenige, der/die von Vollzugsformulierungen des Typs

(2) „Du hast schon wieder die Heizung nicht runtergedreht.“ (Hörbeleg Würzburg Mensa Hubland 20.02.2019)

      ausgeht.

      Drittens: Um die tatsächliche Uneinigkeit und auch die Frage auszuloten, wovon ausgegangen, worüber geredet wird, könnte und sollte man mehr als nur zwei Quellen konsultieren, wenn es mehr gibt.3 Bei Wagner taucht VORWERFEN als assertiv auf, richtig. Und bei Rolf als expressiv, ebenfalls richtig. Letzterer aber diskutiert auch, welche Gründe es geben mag, VORWERFEN für assertiv, expressiv oder übrigens auch direktiv4 zu halten:

      Was aber hat ein Vorwurf (a) mit Assertionen und (b) mit Aufforderungen zu tun? Ad (a): Der Illokutions-logischen Auffassung zufolge ist, wer einen Vorwurf erhebt, auf die Behauptung der von ihm thematisierten Proposition illokutionär festgelegt. Ad (b): Wer einen Vorwurf erhebt, möchte verhindern, daß sich wiederholt, was Anlaß zu dem Vorwurf gegeben hat. Nach der hier vertretenen Auffassung geht das auf dem Wege eines Direktivs nicht, es könnte jedoch mittels emotionaler Destabilisierung gehen. (Rolf 1997, S. 239)5

      Viertens: Sowohl bei Hundsnurscher (1993, S. 144), der ebenfalls diese drei Möglichkeiten diskutiert, als auch bei Marten-Cleef (1991, S. 309–319) gibt es ein expressives VORWERFEN


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