50 Jahre Speech-Acts. Группа авторов
Sprechakte kodierenden Verben (vgl. HDKV 2004, S. 295f.). Man wird also eher konstatieren müssen, dass Sprechaktklassen des als VORWERFEN benannten Typs zwar auch unter die Klasse der Assertiva oder Direktiva eingeordnet, hauptsächlich aber zu der Klasse der Expressiva gezählt werden. Und wenn man sich die verschiedenen Beschreibungen ansieht, kann man schließlich auch einen Prototyp für VORWERFEN herausarbeiten, zu dem im Kern gehört:
vorbereitend: es ist etwas als negativ für bzw. durch S Einzuschätzendes passiert und H hat etwas damit zu tun
propositional: H ist für das Passierte verantwortlich, H hat Schuld daran
intentionaler Zustand, auf den S festgelegt werden kann: S drückt Unmut, Verärgerung, Zorn o.ä. aus
Dieses Bild stimmt in etwa mit dem überein, das man erhält, wenn man in einem großen Wörterbuch (hier das DGW: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache) den (Quer- und Rück-) Verweisungen in den Bedeutungsangaben folgt. Man kann dann Illokutionskristalle nachzeichnen:
Illokutionskristall zu (bzw. ausgehend von) vorwerfen im DGW
Oben rechts reicht es ins Expressive hinein, oben links ins neutral Assertive und unten in einen speziellen assertiven Bereich, in dem wir es mit Schuld zu tun haben. Jetzt könnte man – fünftens – auf die folgende Idee kommen: Es handelt sich hierbei nicht oder zumindest nicht nur um ein einzuordnendes Phänomen (also: wozu gehört VORWERFEN), sondern vielmehr oder auch um ein Problem der Modellierung von Sprechakten: Wenn ich Vorwürfe so modelliere, dass mir der Ausdruck von Missfallen u.ä. am wichtigsten ist, habe ich ein expressives Verständnis in den Vordergrund gestellt. Wenn ich Vorwürfe so modelliere, dass mir die Schuldzuweisung am wichtigsten ist, habe ich ein assertives Verständnis in den Vordergrund gestellt. Und es könnte sein, dass dem auch mind. zwei Typen von VORWÜRFEN entsprechen.
3 Zweiter Akt: Katz-und-Maus und Hase-und-Igel
Schauen wir uns die folgende Fußnote in einem Aufsatz des (Politikers und) Politolinguisten Josef Klein an:
Ohne dafür im Einzelnen eine methodologische Rechtfertigung zu geben, wird in diesem Beitrag versucht, Erkenntnisse und methodische Zugriffe aus den einschlägigen wissenschaftlichen Kontexten integrativ zu verknüpfen, insbesondere empirische linguistische Hermeneutik (vgl. Hermanns/Holly 2007), medienwissenschaftliche empirische Rezeptionsforschung, zeithistorische Politikanalyse, TV-bezogene Audiovisualitätsanalyse, Frame-Analyse, linguistische und rhetorische Argumentationsanalyse, politolinguistische Sprach- und Kommunikationskritik. (Klein 2015, S. 240)
Interessant ist: In der Auflistung gibt es keine Sprechakttheorie. Klein, der ansonsten sprechakttheoretischen Beschreibungen eigentlich zugeneigt ist und auch regen sowie schnellen, unkomplizierten Gebrauch von Kapitälchen- bzw. Majuskelauszeichnungen macht, hat offenbar genug von einer rein deduktiven SAT, aber auch von einer dogmatisch induktiven Gesprächsanalyse (GA):
So sehr sich eine theoretisch und methodisch reflektierte Analyse vor theorievergessener Datenfixierung hüten sollte, ebenso sehr sollte man die Tendenz zur datenvergessenen Typisierung meiden, wie sie – nicht immer zu Unrecht – der Sprechakttheorie vorgeworfen wird. (Klein 2015, S. 242)1
Hier versteckt sich SAT, aber nur halb. Sie wird gejagt, aber nicht vertrieben. Die Vorhaltung der datenvergessenen Typisierung markiert bei diesem Versteckspiel die wichtigste Spielregel: Ich möchte nicht festgelegt sein bei meinen Analysen auf deduktiv entworfene Typologisierungen bzw. Klassifikationen, weil meine erkenntnisfördernde Beschäftigung mit Mustern sprachlichen Handelns dadurch zu stark beeinträchtigt wird und ich stattdessen lieber – und ja auch zurecht – zu relevanten (und interessanten) Beschreibungen von Phänomenen und nicht zu logisch deduzierten Entwürfen begrifflicher Systeme gelangen möchte. Kurz: Eine theoretische Orientierung soll mich nicht behindern, sie soll mich vielmehr fördern. Es steht also im Grunde die Brauchbarkeit der SAT auf dem Spiel.
Folgend möchte ich mich in den beiden aktuellsten Pragmatikheften der Zeitschrift Der Deutschunterricht (nämlich: Liedtke/Wassermann 2019 und Niehr/Schlobinski 2017) auf SAT-Suche begeben. Die Idee dabei ist: Wenn SAT als eine pragmatische Richtung irgendeine gefestigte Analyserelevanz besitzt (also eine Brauchbarkeit bei der Analyse authentischer Sprachdaten), darf man sie in einer Zeitschrift erwarten, die genau solche Eignung als Analyseinstrumentarium in den Mittelpunkt stellen müsste. Und falls SAT dort irgendwo vorkommt: wie und mit welcher Ausrichtung? Festzustellen ist zunächst einmal, dass SAT in den Aufsatztiteln beider Hefte nicht (oder vielleicht doch ein einziges Mal, s.u.) vorkommt, auch wenn auf dem Cover von Liedtke/Wassermann (2019) in Form einer stehenden Laufschrift zu lesen ist: „Indirekte Kommunikation │ Interkulturelle Missverständnisse │ Sprechakte │ Implikaturen“. Bei Niehr/Schlobinski (2017) hingegen: „Hermeneutik │ Gesprächsanalyse │ Sprechhandlungsanalyse │ Foucault’sche Diskursanalyse.“
3.1 SAT in der GA? Zwei Mikrobeispiele rund um tja und denn
Günthner/Wegner (2017) zeigen in ihrem Aufsatz mittels Beispielanalysen von Ausschnitten aus schulischen Sprechstundengesprächen, wie die Konversationsanalyse (folgend auch als GA geführt) die Fragen angeht,
wie soziale Phänomene von Interagierenden erzeugt werden, mittels welcher sprachlich-kommunikativer Verfahren sie die soziale Wirklichkeit, in der sie leben und die sie erfahren, also konkret konstruieren. (Günthner/Wegner 2017, S. 38)
Greifen wir uns eine dieser Analysen heraus. Der folgende Ausschnitt stammt aus „einem Gespräch an einer Gesamtschule“ (Günthner/Wegner 2017, S. 41). Hier „informiert der Lehrer die Mutter über die negativen Resultate ihrer Tochter Jessi in den Klausuren“ (Günthner/Wegner 2017, S. 40). Von Interesse ist insbesondere das in diesem Transkriptausschnitt 3 vorkommende tja in der Intonationsphrase 009, darauf werden wir am Schluss der Besprechung der Analyse dieses Ausschnittes wieder zurückkommen:
Beispiel aus Günthner/Wegner (2017, S. 41)
In den Analysebemerkungen zu dieser Stelle (vgl. Günthner/Wegner 2017, S. 40f.) finden sich zunächst die folgenden (hier nicht bloß sinngemäß wiedergegebenen) Zuschreibungen (durch Fettdruck hervorgehoben sind die dort jedenfalls so vorkommenden Formulierungen):
L stellt eine Frage, worüber M informiert werden möchte (001)
M kommuniziert ihr Anliegen (003–004)
M legt dar, dass sie Informationen dazu haben möchte, ob sich ihre Tochter verbessert habe (003) und ob sie mehr am Unterricht teilnehme (004)
L beginnt in 008 die Übermittlung der Nachricht
L bricht vor einem syntaktischen Abschlusspunkt ab (Aposiopese) und formuliert dann weiter keine Beurteilung oder Bewertung
Diese ersten Analysezugriffe auf das Geschehen sind sehr interessant. Es wird hier nämlich – ganz im Gegenteil zum Modell des gegenseitigen Aushandelns von Sinn und des gemeinsamen Konstruierens von Wirklichkeit – ein einfaches Containermodell der Kommunikation bedient: L und M übermitteln oder kommunizieren sich gegenseitig Informationen bzw. Nachrichten. Man könnte nun sagen, das sei einer gewissen didaktischen Reduktion geschuldet. So verstehe man erst einmal ganz unbefangen, was hier als Geschehen rekonstruiert wird.1 Aber dann heißt es weiter (und nun kommen wir zu tja):
Auffällig ist, dass die Mutter die Äußerung dennoch als eine in pragmatischer Hinsicht vollständige behandelt und damit die Interpretation als Aposiopese (und nicht etwa als Anakoluth) bestätigt: Mittels eines sehr leise geäußerten „tja“ (Z. 009) tut sie ihr Bedauern ob der Tatsache kund, dass es sich ganz offensichtlich um eine schlechte Leistung des Kindes handelt, und liefert damit eine „Verstehensdokumentation“ (Deppermann/Schmitt 2009) des Gesagten.