50 Jahre Speech-Acts. Группа авторов
ist die Analyse alles andere als unplausibel. Aber ebenso zweifelsohne ist sie alles andere als methodisch abgesichert. Woher will man als Analysierende wissen, dass M hier mit dem leisen tja Bedauern ausdrückt (i. Ü. versteckt sich auch hier die SAT: BEDAUERN AUSDRÜCKEN ist ein expressiver Sprechakt par excellence)? Wie sollen SchülerInnen oder auch Studierende zu dieser Analyse gelangen können? Das gilt nicht nur hier. Auch die Frage, ob M ein Anliegen hat, darf gerade im Hinblick auf den für Eltern sicher nicht immer präferierten Gesprächstyp Sprechstundengespräch wohl noch einmal neu gestellt werden: Hat M ein Anliegen oder muss sich M irgendetwas einfallen lassen nach der (auf mich beim Lesen, aber nicht unbedingt auch auf M in der Interaktion krude wirkenden) Frage in 001, um nicht nichts zu sagen? Dann hat sie kein Anliegen, sondern sie wurde dazu gedrängt, sich eines einfallen zu lassen, damit das Gespräch weitergehen kann (eine alternative Variante wäre ja, dass L einfach erst einmal alles sagt, was aus L’s Sicht wichtig wäre zu wissen über Jessi und ihre schulischen Leistungen). Noch einmal: Diese Analyse ist plausibel, aber sie ist nicht methodisch transparent und genau das könnte ein Problem für SchülerInnen und Studierende sein oder werden. Das trifft auch auf die GA-Analyse als Verstehensdokumentation zu. Wie kommt man zu der Analyse, dass sie in der Lage ist, das nicht Gesagte inhaltlich zu inferieren? Woher kommt die (bei SchülerInnen und Studierenden ja nicht vorauszusetzende) Sicherheit bei diesen Funktionszuschreibungen? Man kann dies auch anders formulieren: Hier werden Funktionen auf der Basis der gut geschulten Intuition professioneller Analysierender zugeschrieben, ohne Rechenschaft darüber abzulegen, wie man das macht. Empirisch ist diese Analyse hier an der Stelle nur deshalb, weil sie sich auf erhobene Daten bezieht. Nicht aber etwa deswegen, weil sie methodisch mit diesen Daten transparent umgeht. Das ist nicht zu verteufeln, aber dann ist auch nicht zu verteufeln, wenn die SAT überlegt, was ein Vorwurf sein könnte. Und – das werde ich weiter unten vorschlagen – man kann diese beiden Zugriffe auch als aufeinander abstimmbare komplementäre Methoden kombinieren.
Ich möchte nicht dahingehend missverstanden werden, die Günthner’schen Beschreibungen ganz generell für verfehlt zu halten. Ganz im Gegenteil. Ihre Analysen zeichnen sich in der Regel durch eine wünschenswerte Klarheit aus, durch den Willen zur adäquaten und auch explizit reflektierten Beschreibung natürlichsprachlicher Daten aller Art. So schreibt sie in einer früheren Arbeit zu Vorwurfshandlungen im Rahmen der Frage, wie man Vorwurfshandlungen überhaupt findet in den Daten:
Sich bei der Identifikation von Vorwurfspassagen auf jene Sequenzen zu konzentrieren, die von Teilnehmenden explizit als „Vorwurf“ bezeichnet werden [also sog. Ethnokategorien; Anmerkung des Verfassers], erweist sich als ungenügend, da zum einen nur in wenigen Fällen Vorwürfe explizit als solche markiert werden, und zum anderen […] Interagierende sich gelegentlich bei der Zuordnung einer „Äußerung“ als „Vorwurf“ nicht einig sind, bzw. gelegentlich ihre Äußerungen mit „das ist jetzt kein Vorwurf, aber …“ einführen, doch diese vom Gegenüber als Vorwurf interpretiert und behandelt werden. Folglich ist es unumgänglich, zunächst einmal über einen Vorbegriff von „Vorwurf“ sämtliche untersuchungsrelevante Sequenzen aus dem Datenmaterial herauszufiltern. Da dieser Vorbegriff im Fortgang der Untersuchung durch empirisch begründete Bestimmungen ersetzt wird, genügt als Vorbegriff eine alltagssprachliche Bestimmung, wie „Kritik am Verhalten einer anwesenden Person“. (Günthner 2000, S. 52)
Wahrscheinlich wird man sich recht schnell darauf einigen können, dass nicht jede Kritik am Verhalten einer anwesenden Person ein Vorwurf sein muss. Man wird also – wenn man mit dem Versprechen der empirisch begründeten Bestimmungen ernst macht – zu einer engeren Fassung des Vorwurfsbegriffs gelangen müssen. Der eigentliche Punkt ist: Wenn man Vorwurf durch ‚Kritik am Verhalten einer anwesenden Person‘ bestimmt, muss man – sonst kann diese als alltagssprachlich hingestellte Bestimmung nicht funktionieren – auch sicher sein können, was eine Kritik ist (und natürlich auch, was genau alles als Verhalten gilt, in welcher Form diese Person anwesend sein muss usw.). Und je mehr man sich mit diesem alltagssprachlichen Vorwurfsbegriff beschäftigt, umso differenzierter wird die dann klar sprechakttheoretische Arbeit – man wird hier also von einem sprechakttheoretischen Fundament sprechen können, das gelegt werden müsste. Das Problem nun ist, dass dafür kaum Operationalisierungen vorliegen. Schauen wir uns ergänzend einen Transkriptausschnitt mit Analysebemerkungen dazu aus Günthner (2000) an (das erste längere Analysebeispiel in dem Buch):
Transkriptausschnitt und Analysebemerkungen dazu (Scan-Zitat aus Günthner 2000, S. 75)
Wie kommt man zu der Analyse, dass in Z. 23–25 ein Vorwurf, also eine Kritik am Verhalten einer anwesenden Person vorliegt? Die anwesende Person ist du, also die angeredete Clara, ok. Das fragliche Verhalten ist hast … nichts gesagt, ok. Aber wo ist die Kritik? Hier spielen zwei Analyseressourcen eine Rolle: erstens das intuitive Verständnis der Analysierenden und zweitens das Wissen (und eigentlich auch Verstehen), dass zum Vollzug von Vorwurfshandlungen warum-Fragen (die in der genannten Schrift dann folgend auch eine wichtige Rolle spielen) und bestimmte Partikeln (hier denn2) anzusetzen sind – also stabile Vorstellungen über Realisierungsmöglichkeiten bestimmter Sprechakte, über illokutionäre Indikatoren. Man kann Z. 23–25 ansonsten auch sehr gut (und das heißt: an der wahrnehmbaren Oberfläche) als Begründungsfrage ansehen, auf die es im i. Ü. ja auch die – aufgrund konditionaler Relevanz erwartbare – begründende Antwort gibt: Clara nennt den fraglichen Grund, warum sie nichts gesagt hat und markiert dies auch deutlich mittels eines selbstständigen weil-VL-Satzes in Z. 26. Dass dies eine Entschuldigung sei, die die Interpretation der warum-Äußerung als Vorwurf verdeutliche, ist also ebenfalls nicht methodisch eingelöst. Auch hier gilt: Die Analyse ist nicht unplausibel (allerdings könnte es sich auch gut um ein inszeniertes Vorwurf-Entschuldigungs-Spiel Babs gegenüber handeln). Aber sie kommt eben auch nicht ohne die gezielt eingesetzte Intuition der Analysierenden aus, die hier – und zwar letztlich unabhängig von etwaigen Aufzeigehandlungen der Interagierenden – etwas als Vorwurf verstehen (können/wollen).
Schauen wir als nächstes, ob sich die SAT in der FP (= Funktionalen Pragmatik) versteckt.
3.2 SAT in der FP? Ein Mikrobeispiel rund um die Ankündigung Die Frage ist …
In dem Aufsatz von Redder (2017) zur Diskursanalyse – handlungstheoretisch (so der Titel) werden zunächst die Tradition (Abschnitt 1) und die theoretische Basis (Abschnitt 2) behandelt. Man findet dort (hier schnipselartig zusammengestellt) ein paar Bezüge zu namhaften Größen, deren Ansätze die FP dann weiterentwickelt habe:
[…] revolutionäre Einsicht von John L. Austin […] der Ausdrucks- und Sprachpsychologe Karl Bühler […] Nach Austin ist besonders Speech Acts (1969) seines US-amerikanischen Schülers John R. Searle bekannt. […] Eine konsequente Fortführung der skizzierten handlungsanalytischen Ausführungen von Austin sowie Bühler liegt in der Funktionalen Pragmatik vor, einer durch Konrad Ehlich und Jochen Rehbein in den 1970’er Jahren begründeten Handlungstheorie von Sprache […]. Im Unterschied zu anderen pragmatischen oder diskursanalytischen Ansätzen bleibt die Illokution als eine der wesentlichen Dimensionen sprachlichen Handelns erhalten und wird im komplexen interaktiven Handeln als sprachliche Wirklichkeit rekonstruiert. Sprache hat nämlich ihre Existenzform in der konkreten sprachlichen Handlungspraxis, genuin im mündlichen Diskurs. (Redder 2017, S. 21f.)
Auch wenn sich hier nicht alle Dinge sogleich erschließen (das betrifft beispielsweise den genauen Verknüpfungssinn des Konnektors nämlich im letzten Satz), so ist eines in Bezug auf die Namen sicher auffällig: Aus Austin+Bühler+Searle als Tradition begründende Ahnengemeinschaft wird wenig später Austin+Bühler. Die Frage ist: Wo ist Searle geblieben? Dass dies nicht unbedingt ein bloß textstilistisches Kürzen oder eine Unachtsamkeit sein muss, wird klar, wenn man den folgenden abgrenzenden Satz zur Kenntnis nimmt:
Verglichen mit Austins rechtspraktisch angeregten Überlegungen zur Interaktion betreibt er [d.i. Searle; d. Verf.], stimuliert durch sprechhandlungsbezeichnende Verben, eine Sprechhandlungssemantik. (Redder 2017, S. 21)
Auch wenn nicht unbedingt sofort klar sein dürfte, was genau eine