Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie?. Philippe Moser

Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie? - Philippe Moser


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durchzusetzen und Französisch zu verdrängen, regte sich stets Widerstand, oftmals heftig, aber nicht immer mit Erfolg. Gefordert wurde zuweilen auch die italienisch-französische Zweisprachigkeit, beispielsweise in Form von parallelem Unterricht (vgl. Bauer 1999: 89). Dennoch dominiert schliesslich Italienisch in den Schulen und im Gericht und der Anschluss an das italienische Eisenbahnnetz 1886 trägt zusätzlich zu einer weiteren Italianisierung bei (Bauer 1999: 92).

      1909 schliesslich wird die ‹Ligue valdôtaine pour la protection de la langue française› gegründet, der sich verschiedene Politiker sowie Vertreter von Berufsgruppen und Zeitungen anschliessen und die sich beispielsweise mit Sprachkursen für die Förderung der französischen Sprache einsetzt und ein Bulletin herausgibt. Die Ligue bleibt auch während dem Ersten Weltkrieg bestehen und stellt weiterhin Forderungen nach Französischunterricht an den Schulen.

      Von entscheidender Bedeutung für die (auch heutige) Rolle des Französischen im Aostatal ist die Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs. Was die sprachliche Situation im Jahr 1921 betrifft, hält Bauer Folgendes fest:

      In sprachlicher Hinsicht lassen wir die Volkszählungsdaten aus 1921 für sich sprechen. Bei insgesamt 78.811 erfassten Einwohnern standen 91,4% Französischsprecher 9,6% (oder 7.582) Italophonen gegenüber. 1861 waren es, zum Vergleich, nur etwa die Hälfte, nämlich 4,7% Italienischsprecher gewesen. Letztere siedelten zu über 90% in der Hauptstadt Aosta sowie in den in der Basse Vallée gelegenen regionalen Industriezentren Verrès und Pont-Saint-Matin, so dass das Haupttal der Doire Baltée auf einen Anteil von 14,3% Italienischsprechern kam. Die Seitentäler hingegen wiesen mit rund 2% nur sehr geringe italophone Bevölkerungsanteile auf. (Bauer 1999: 105)

      Es ist allerdings davon auszugehen, dass es sich bei den «Französischsprechern» in erster Linie um Sprechende des Frankoprovenzalischen handelt, die Französisch als Schriftsprache nutzen. Klar zu sein scheint jedoch die deutliche Minderheitssituation des Italienischen, auch wenn sich die Zahl der Sprechenden in 60 Jahren gut verdoppelt hat. Dass die faschistische Regierung vor diesem Hintergrund das Italienische als einzige Sprache des Aostatals einführen und Französisch aus Unterricht und Kirche verbannen will, stösst auf Widerstand. Genannt sei beispielsweise die Petition der Ligue Pour notre langue française. Appel de la Ligue Valdôtaine à toutes les Communes de la Vallée d’Aoste von 1922, an der sich rund 8000 Personen aus der gesamten Region beteiligen (vgl. Bauer 1999: 107).

      Von besonderem Interesse – insbesondere mit Blick auf unsere Thematik der Linguistic Landscape (vgl. A.3) – ist das Dekret von 1923, mit welchem die Verwendung von Fremdsprachen in der öffentlichen geschriebenen Sprache verboten wird. Auch Französisch gilt als Fremdsprache und die entsprechenden Aufschriften sollen entfernt werden. Gegen diesen Beschluss protestiert die Ligue Valdotaine, deren Präsident Anselme Réan bei einem Treffen mit Benito Mussolini in Rom erfolgreich erreicht, dass Französisch im Aostatal nicht als Fremdsprache angesehen wird. Dennoch wird die Italianisierung des Aostatals durch die faschistische Regierung weiter vorangetrieben, namentlich in den Schulen, in der Kirche (1932 wird der erste italienischsprachige Bischof von Aosta eingesetzt), in den Gerichten und in der Presse. Italienisch wird 1925 als einzige Sprache der Justiz vorgeschrieben und französischsprachige Zeitungen werden verboten. Trotzdem zeigt Réan deutliche Sympathien für den Faschismus, was zu einer Abspaltung antifaschistischer Organisationen von der Ligue führt. Insbesondere die ‹Jeune Vallée d’Aoste› mit Emile Chanoux wird später an Bedeutung gewinnen (vgl. Bauer 1999: 107-115). Ein weiterer bestimmender Faktor dieser Zeit ist die Industrialisierung, die vor allem in der Stadt Aosta eine deutliche Veränderung der Demografie mit sich bringt. Bauer (1999: 117) geht für die Zeitspanne von November 1933 bis März 1934 von einem relativen Bevölkerungszuwachs in der Stadt Aosta von 2,3% aus (gegen lediglich 1‰ in der gesamten neu entstandenen Provinz Aosta, die aus der heutigen Autonomen Region sowie aus Ivrea und dem Canavese bestand) und ergänzt:

      Berücksichtigt man in dieser Rechnung auch den durch die Emigration hervorgerufenen Verlust an angestammter Bevölkerung, so sprechen die Zahlen eine noch deutlichere Sprache. 680 Immigranten in Aosta Stadt stehen für rund 4,5% Bevölkerungsaustausch in nur fünf Monaten! (Bauer 1999: 117)

      Im Zuge der Entstehung der neuen Provinz Aosta sollten die Strassennamen der Hauptstadt und die Toponyme italianisiert werden, was ab 1927 bis 1939 sukzessive durchgeführt wird. Auch die deutschen Toponyme in den Walsergemeinden im Lystal werden im Übrigen durch italienische ersetzt (vgl. Bauer 1999: 120, 126-130). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden 1945 die Strassennamen (und damit auch die Strassenschilder) erneut angepasst und gelegentlich mit französischen Entsprechungen ergänzt. Die französischen Ortsnamen werden durch ein Dekret von Umberto II von Savoyen (auf das wir später zurückkommen werden) ebenfalls schon 1945 wieder eingeführt (Bauer 1999: 160).

      Die Ablehnung gegenüber Frankreich ist jedoch stark:

      Die (nicht nur, aber eben auch) in Italien immer breiter um sich greifende Xenophobie3 […] ging Hand in Hand mit einer besonders ausgeprägten Gallophobie, welch letztere u.a. durch italienische Annexionsforderungen bezüglich Nizza, Savoyen und Korsika sowie durch französische Aspirationen auf die VDA verstärkt wurde. (Bauer 1999: 129)

      Auch das antifaschistische ‹Comité Valdôtain de Libération›, das unter Emile Chanoux aus der ‹Jeune Vallée d’Aoste› entstanden ist, spricht sich gegen einen allfälligen Anschluss des Aostatals an Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg aus:

      Was nun die Frage der VDA betraf, so hatte Chanoux bekanntlich eine Lösung vorgeschlagen, die den Verbleib des Tals bei (einem föderalistischen) Italien implizierte. (Bauer 1999: 137)

      Emile Chanoux stirbt 1944 während seiner Inhaftierung durch die faschistische Polizei, seine Nachfolger verfolgen die Ziele aber nach Kriegsende weiter:

      Der Anfang Mai 1945 von Jean-Joconde Stévenin4 präsentierte Vorschlag für ein Sonderstatut bildete (gemeinsam mit den Entwürfen von Chabod5 1944) die konkrete Diskussionsgrundlage für eine künftige Autonomie der VDA. (Bauer 1999: 143)

      Gleichzeitig gibt es aber auch Tendenzen der Befürwortung eines Anschlusses an Frankreich (vgl. Bauer 1999: 144), die sich zwar nicht durchsetzen, aber noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wieder auftreten, wie Bauer in seinem Exkurs aufzeigt (vgl. Bauer 1999: Kapitel 1.10.1.2.).

      Die bereits erwähnten Dekrete von Umberto II (Decreti Legislativi Luogotenenziali D.L.L. 545 und 546) sehen eine autonome Region Aostatal vor und regeln auch sprachliche Bestimmungen. Allerdings sind sie nicht unumstritten (vgl. Bauer 1999: 165). 1947 wird ein neuer Vorschlag für das Autonomiestatut verfasst, das schliesslich mit der italienischen Verfassung von 1948 in Kraft treten kann. Auf die Inhalte und Grundlagen des Statuts und seiner Auswirkung auf die Sprachpolitik gehen wir in A.2.4.2 ein. Die Umsetzung der Bestimmungen wird allerdings nicht umgehend vorgenommen und ist in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen, in denen die französische Sprache oftmals als Argument für die Rechtfertigung der Autonomie eingesetzt wird (vgl. Bauer 1999: Kapitel 1.11.1). Vor diesem Hintergrund werden die Eröffnungen der Tunnels durch den Grossen Sankt Bernhard (1964) und den Mont-Blanc (1965) auch deshalb als wichtige Ereignisse gefeiert, da sie die rasch zunehmende Italianisierung verlangsamen sollten (Bauer 1999: 175). Dennoch zeichnete 1967 eine Untersuchung bei 7 675 Schülerinnen und Schülern (gemäss Bauer (1999: 177) «wohl die Gesamtheit aller valdostanischen Volksschüler») bereits ein deutliches Bild, das die Frankophonie des Aostatals in Frage zu stellen vermag:

      Auf die Frage, welche Sprache in der Familie bzw. zu Hause gesprochen würde, antworteten 3.453 Schüler oder 45.1% aller Befragten Italienisch, 3.317 Informanten (43,3%) gaben den patois als Familiensprache an. Das Piemontesische folge mit 297 Nennungen (3,9%), und das Deutsche (55 Antworten = 0,7%) konnte verblüffender- bzw. bezeichnenderweise mehr Punkte für sich verbuchen als das Französische, das mit 39 Schülerantworten oder mageren 0,5% das Schlusslicht darstellte. (Bauer 1999: 177)

      A.2.4.2 Aktuelle Sprachsituation

      Heute ist das Aostatal als Regione Autonoma Valle d’Aosta/Région Autonome Vallée d’Aoste eine der fünf autonomen Regionen Italiens, zusammen mit Trentino-Alto


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