Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Erich Auerbach
die der Guardian des Klosters heftig fortgewiesen hatte. Der Heilige tadelt ihn und schickt ihn mit Wein und Brot den Räubern nach, er solle sie um Verzeihung bitten, und zwar nicht bloß wegen der unchristlichen Grausamkeit, sondern auch wegen der incurialitasincurialitas, der unhöflichen Form. Und jener andere Bruder, den er in seiner Krankheit um Rat fragt, ob es denn recht sei, daß er so vieles für die Pflege des kranken Körpers tue, hat sofort gewonnenes Spiel, als er ihn an die Pflicht der liberalitasliberalitas erinnert: hat dir nicht, so sagt er, dein Körper immer und ohne Furcht vor Gefahren gedient? Willst du einen solchen Freund in der Not verlassen? Sei du gesegnet, mein Sohn, antwortet der Heilige, daß du weise meinen Bedenken mit so heilsamen Mitteln begegnest ….39
Die suggestive Bezauberungskraft seiner Gestalt, in die Welt getragen und noch tausendfach verstärkt durch das mystische Element brüderlicher Gemeinschaft, das die Leiber fast ebenso bindet wie die Seelen, und das nun in jedem Kutte und Strick tragenden Bruder den Heiligen vervielfältigte, diese Bezauberungskraft sinnlicher Art hat Europa für die franziskanische Bewegung erobert und mindestens in Italien weit entscheidender gewirkt als etwa sein Streben nach vollkommener Demut oder die eschatologischen Vorstellungen, die später in der Bewegung bedeutend wurden. Denn in einem so vielfältigen Gewirr von Stimmen, einem so komplizierten Gespinst von spirituellen Fäden, wie es das Erwachen des modernen europäischen Geistes gewesen ist, sind die rational bezeichenbaren Strömungen schwer zu fassen und noch schwerer zu verfolgen. Sie fluten und ebben auf und ab, vereinigen sich mit anderen, verschwinden, brechen irgendwo in neuer Form wieder hervor oder verkehren sich in neuer Umgebung in ein gänzlich neues Ding. Selbst wenn man geduldig und geschickt genug ist, solch eine einzelne formulierbare Strömung, etwa den antikisierenden Individualismus oder die eschatologische Hoffnung auf das tausendjährige Reich, durch einen längeren Zeitraum verfolgen und mit richtiger Beurteilung ihrer inneren Wandlungen darstellen zu können, selbst dann entgeht man schließlich doch kaum der Gefahr, daß man jene einzelne rational ausdrückbare Gesinnung allzu losgelöst, allzu isoliert betrachtet und folglich ihre Bedeutung verkehrt einschätzt. Doch die auf sinnlicher Durchtränkung der Gemüter beruhende Psychagogie einer einzelnen bedeutenden Gestalt ist weit allgemeiner und befreit sich schon nach kurzem Zeitablauf von ihrem Sachinhalt, ohne darum an sinnlicher Kraft einzubüßen. So ist es mit dem heiligen Franz. Als das Ideal evangelischer Armut und die Gesinnung vollkommener Demut längst schal geworden und an dem Reibungswiderstand des irdischen Laufs zugrunde gegangen waren, lebte noch intakt in den Herzen die Gewalt seiner Geste – selbst in solchen Herzen, deren eigentliches Streben gar kein religiöses war. Als ein unzerstörbares Erbe ist sein Persönlichstes der italienischen Nation erhalten geblieben: die heiße drastische Kraft seines Ausdrucks, die den Dingen gleichsam in den Leib dringt und sie von innen zu eröffnen scheint, und die zarte und formvolle und nicht minder innerliche Eleganz seines Herzens, eben jene Eigenschaften, durch die sich die Göttliche Komödie von dem deutschen MinnesangMinnesang oder der provenzalischen KunstdichtungTroubadourdichtung unterscheidet.
Franz von AssisiFranz v. Assisi in der Komödie (1944)
Nicht sehr viele Stellen des Paradiso sind so bekannt und so allgemein bewundert: wie der elfte Gesang; das ist nicht erstaunlich, denn es handelt sich um Franz von Assisi, und die Verse sind besonders schön. Und doch ist die Bewunderung für diesen Gesang nicht ganz selbstverständlich. Franz war eine der eindrucksvollsten Gestalten des Mittelalters. Das ganze 13. Jahrhundert, dem DantesDante Jugend noch angehört, war gleichsam erfüllt von ihm, und keines anderen Menschen Art, Stimme und Gebärde sind uns aus dieser Zeit so deutlich erhalten wie die seinen. Das zugleich Einsame und Volkstümliche seiner Frömmigkeit, das zugleich Süße und Herbe seiner Person, das zugleich Demütige und Grelle seines Auftretens sind unvergeßbar geblieben; Legende, Dichtung und Malerei bemächtigten sich seiner, und noch lange später schien jeder Bettelmönch auf der Straße etwas von ihm an sich zu tragen und so es tausendfach zu verbreiten. Seine Erscheinung hat gewiß viel dazu beigetragen, den Sinn für das Eigentümliche und Ausgeprägte des einzelnen Menschen zu wecken und zu schärfen; eben jenen Sinn, dessen großes Denkmal DantesDante Komödie ist. Man sollte also von der Begegnung der beiden, das heißt vom Auftreten des Heiligen in der Komödie, einen der Höhepunkte konkreter Lebensdarstellung erwarten, deren es so viele in der Komödie gibt; DanteDante fand in der damals schon halb legendären Biographie Franzens überreichlich Material, um diese Begegnung zu gestalten. Um so seltsamer ist es, daß er die Begegnung gar nicht stattfinden läßt.
Fast alle Personen der Komödie erscheinen selbst. DanteDante trifft sie an dem Ort, den das Urteil Gottes ihnen angewiesen hat, und dort ergibt sich eine unmittelbare Begegnung in Rede und Antwort. Mit Franz von AssisiFranz v. Assisi ist es anders. Zwar sieht ihn DanteDante ganz am Schluß des Gedichts, auf seinem Sitz in der weißen Rose zwischen den Seligen des Neuen Bundes; aber er spricht nicht mit ihm, und an den anderen Stellen, wo er erwähnt wird, erscheint er nicht selbst; so auch da, wo die Erwähnung am ausführlichsten und grundsätzlichsten geschieht, eben im elften Gesang des Paradiso; Franz spricht nicht selbst, sondern es wird über ihn berichtet. Ist dies schon erstaunlich, so ist es noch mehr Rahmen und Art des Berichtes.
DanteDante und Beatrice sind im Sonnenhimmel von einem singenden Reigen seliger Geister umgeben, die, ihre Bewegung unterbrechend, sich als KirchenväterKirchenväter und Weisheitslehrer zu erkennen geben; einer von ihnen, Thomas von AquinoThomas v. Aquin, nennt und charakterisiert sich und seine Gefährten (hier ist auch die berühmte Stelle über Siger von BrabantSiger v. Brabant), und alsbald beginnt der Reigen von neuem. Nun hat aber DanteDante den Sinn einiger Worte des Thomas nicht verstanden: Ich war ein Lamm der Herde des DominicusDominicus, Hl., wo man gute Weide findet, wenn man nicht abirrt – dieser Vers, u’ben s’impingua se non si vaneggia (und auch noch eine andere, auf Salomo bezügliche Stelle) bedarf für DanteDante einer Erklärung. Thomas, der wie alle Seligen die unmittelbare Schau des ewigen Lichtes besitzt, so daß ihm durch dasselbe auch DantesDante Gedanken nicht verborgen bleiben können, erfüllt den unausgesprochenen Wunsch nach Erläuterung seiner Worte, und aufs neue werden Gesang und Reigen unterbrochen, damit Thomas, von BonaventuraBonaventura unterstützt, seine Worte kommentieren kann. Dieser Kommentar umfaßt drei Gesänge. Im ersten, dem elften, erzählt Thomas das Leben des heiligen Franz und knüpft daran eine Klage über den Verfall seines eigenen, des dominikanischen Ordens; im zwölften schildert umgekehrt der Franziskaner BonaventuraBonaventura das Leben des DominicusDominicus, Hl. und schließt mit einem Tadel der Franziskaner; der dreizehnte Gesang enthält, wiederum aus Thomas’ Munde, den Kommentar über die König Salomo betreffende Äußerung. Aus den beiden Gesängen über die BettelordenBettelorden sollen DanteDante und der Leser lernen, daß beide Orden für das gleiche Ziel gegründet wurden, daß sie sich ergänzen und daß bei beiden das Leben der Stifter gleich vollkommen, der Abfall der Nachfolgenden gleich abscheulich war; daß man also in ihnen wohl gedeiht, wenn man dem Vorbild der Stifter folgt und nicht davon abirrt. Beide Gesänge sind ein Kommentar, lehrhaft, genau eingebaut in DantesDante Geschichtsdeutung, mit scharfen polemischen Wendungen nicht nur gegen die beiden Orden, sondern auch gegen PapsttumPapsttum und Geistlichkeit überhaupt. Zu dem Kommentar gehört auch die Darstellung von Franzens Leben; sie ist Teil eines Kommentars, und zwar eines mehrere hundert Verse umfassenden Kommentars, zu einem Nebensatz, der eine Zeile in Anspruch nimmt und der wohl auch kürzer zu erläutern gewesen wäre. Dies also ist der Rahmen: Thomas, der große Kirchenlehrer, kommentiert ausführlich einen eigenen Ausspruch. Solche Haltung oder Tätigkeit entspricht seiner Person; aber ist dies ein Rahmen, der der Biographie des Franciscus von AssisiFranz v. Assisi entspricht? Nach modernem Empfinden gewiß nicht. Wir haben zwar gelernt, die Art des mittelalterlichen Kommentierens aus ihren Voraussetzungen zu verstehen; wir wissen, daß sie aus der besonderen Art des damaligen Lehrbetriebes erwuchs; wir haben auch vielleicht sonst schon erfahren, daß sich in dem Geranke der kommentierenden Paraphrase zuweilen eine unvermutete Blüte findet, die der Stamm, nämlich der Text, kaum erwarten ließ, und oft genug ist er völlig verdeckt vom Kommentar; ja, dies Phänomen scheint sich nicht nur auf die Literatur zu beschränken, wenn man an manches InitialInitial oder an manche SequenzSequenz denkt. Aber hier, wo DanteDante das Leben des heiligen Franz erzählen will? Wäre dafür nicht ein weniger lehrhafter, weniger scholastischer Rahmen zu finden gewesen?
Nicht genug damit. Die Biographie, die Thomas gibt, enthält