Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Erich Auerbach
ut eum ad se reduceret sanum. Cumque abiret ille, et per totam noctem illam eum secutus fuisset, tandem diluculo reperit, et iuxta mandatum regis ad ipsum reduxit; ipsoque pontifice deprecante, Luxovio caenobio ut ei liceret, relicto saeculo, vacare Deo, humili poposcit prece se dirigendum: quem protinus iliuc ire non distulit.
Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgehen, daß dieser Bericht, obwohl für das 7. Jahrhundert recht gut geschrieben, doch inhaltlich nicht sehr deutlich und einsichtig ist. Wollte ChilderichChilderich II. den Bischof in jener Nacht vor Ostern ermorden lassen oder nicht? Der Mann, der Leodegar davor warnt, wird als böswillig dargestellt – andererseits wird später, nach der Flucht des Bischofs, gesagt, daß der König von Reue ergriffen wird, quod talia in sanctum virum cogitaret. Ferner: wenn der König bereut und deshalb den Bischof zur Rückkehr bewegen will, warum gibt er dem Boten, den er ihm nachsendet, eine große Anzahl Bewaffneter mit (cum exercitu copioso)? Wir wissen aus anderen Berichten, die freilich auch nicht ganz deutlich und ganz zuverlässig sind, daß es in jener Nacht vor dem Ostersonntag anders zugegangen ist. Die politischen Zusammenhänge hat schon Ursinus verwischt, um ein möglichst einfaches und exemplarisches Heiligenleben zu gewinnen. Aber diese Einfachheit ist künstlich und darum unwahrscheinlich. Es ist unwahrscheinlich, daß Childerich seine Mordpläne bereut hat und daß LeodegarLeodegarlied freiwillig nach Luxeuil gegangen ist. Was sich wirklich in jenen Tagen abgespielt hat, ist schwer zu ermitteln und gehört auch nicht hierher. Es genügt uns festzustellen, daß schon Ursinus keine innerlich zusammenhängende und schlüssige Darstellung gegebenhat.
Der entsprechende Teil des französischen Textes aus dem Manuskript von Clermont-Ferrand lautet folgendermaßen:5
Ja fud tels om, Deu inimix
Qui l’encusat ab Chielpering.
L’ira fud granz cum de senior
Et sancz Lethgiers oc s’ent pavor.
Ja lo sot bien, il lo celat,
A nuil omne no·l demonstrat.
Quant ciel’ irae tels esdevent
Paschas furent in eps cel di;
Et sancz Lethgiers fist son mistier,
Missae cantat, fist lo mul ben,
Pobl’ et lo rei communiet,
Et sens cumgier si s’en ralet.
Reis Chielperics, cum il l’audit,
Presdra sos meis, a lui·s transmist;
Cio li mandat que revenist,
Sa gratia por tot ouist.
E sancz Lethgiers ne’s soth mesfait;
Cum vit les meis, a lui ralat.
Il cio li dist et adunat:
«Tos consiliers ja non estrai.
Meu evesquet ne·m lez tener
Por te qui sempre·m vols aver.
En u monstrier me laisse intrer,
Pos ci non posc, lai vol ester.»
Enviz lo fist, non voluntiers,
Laisse l’intrar in u mostier.
Hier ist der Reduktionsprozeß aufs äußerste fortgeschritten. Der Versuch, die Vorgänge politisch oder psychologisch verständlich zu machen, wird gar nicht unternommen. Ganz schematisch und sehr oft gar nicht begründet, stehen die Dinge wie Kloben nebeneinander, jedes in einer Zeile; sie sind auf eine gewisse grobe Art sehr deutlich, sogar überdeutlich, da ja solche schematischen Vorstelschon delungen wie Verleumdung, Zorn, Furcht, heimliche Flucht und so fort dem Verständnis ohne weiteres zugänglich sind. Aber die menschliche Eigentümlichkeit, die Genauigkeit des bestimmten Verlaufs, den die wirklich geschehenen Dinge einmal genommen haben, und der sie, wenn er zur Darstellung gelangt, einsichtig macht, ist verlorengegangen. Die Leute, die Leodegar bei Childerich verklagt hatten, beschreibt Ursinus immerhin noch als sodales sui quos secum elegerat idem pontifex habere socios gubernaculi. Das gibt zwar schon nicht mehr die Begründung ihres Vorgehens gegen Leodegar, aber ist doch unvergleichlich weniger barbarisch als tels om Deu inimix; bei dieser Formulierung wird offenbar an den Teufel selbst gedacht, den Ursinus, rhetorisch und moralisierend, vorher als Anstifter erwähnt hatte. Die dann folgende Darstellung des Ursinus enthält den gemeinsamen Gang zur Kirche, die Warnung an LeodegarLeodegarlied, die feierliche Messe, so daß eine vergleichsweise deutliche und dramatische Entwicklung entsteht; er schildert alsdann die Krise, die zur Flucht führt, mit den Motiven, Beratungen und Entschlüssen des Bischofs. Das ist menschlich und einsichtig, auch wenn Ursinus hier nach Mustern (Johannes Chrysostomus in der Historia Tripartita?) gearbeitet haben sollte. Diese ganze Darstellung hat der französische Dichter völlig zerschlagen; er nimmt sich ein paar Fetzen daraus und ordnet sie auf das roheste. Auf die Verleumdung durch den «Feind Gottes» folgt der «herrenmäßige» Zorn Childerichs; Leodegar hat Angst; er verschweigt, was er weiß; es war gerade Ostern; er feiert die Messe, er tut es sehr gut; er spendet Volk und König das Abendmahl; dann verschwindet er ohne Abschied. Man kann es nicht gröber und schematischer ausdrücken. In den folgenden beiden Strophen geschieht etwas Unerwartetes. Wir sagten schon, daß Ursinus dem König Childerich eine vergleichsweise gute Rolle zugewiesen hat; er läßt ihn bereuen und deutet an, er habe den Bischof in freundlicher Absicht zurückholen lassen. Dies wenig wahrscheinliche und durch andere Berichte dementierte Motiv hat der französische Bearbeiter viel stärker betont. Der König läßt durch seine Boten dem Bischof seine volle Gunst versprechen; und Leodegar spielt die Rolle des unschuldig Beleidigten, der dem reuigen König gegenüber entschieden und beinahe trotzig auftritt; er will nicht länger sein Berater bleiben, er will ins Kloster, er habe in seinem Bistum doch keine Ruhe vor dem König, der ihn ständig für sich beanspruche. Nur ungern willigt der König ein und entläßt ihn.
Für das Versprechen des Königs, dem Bischof seine Gunst wieder zu schenken, hatte der französische Bearbeiter eine Quelle; es steht in einer Variante der Ursinusvita, die die Bollandisten in ihrer Ausgabe nicht berücksichtigt haben (G. ParisParis, G., loc. cit. p. 300). Ob er auch für die trotzige Haltung des Bischofs ein Zeugnis besaß, ist mit Sicherheit nicht mehr festzustellen; wahrscheinlich ist es nicht, und jedenfalls ist es bemerkenswert, wie stark er diesen Vorgang betont hat. Ganz im Gegensatz zu seiner vorherigen Furcht kehrt Leodegar im Bewußtsein seiner Unschuld zurück, sobald er die ihm nachsetzenden Boten sieht, und hält seine trotzige Rede vor dem König. Das ist, ohne jede Begründung, wenig glaublich; der Verfasser hätte, um es einsichtig zu machen, irgendwelche äußeren oder inneren Entwicklungen berichten müssen, aus denen die völlig veränderte Lage zwischen König und Bischof sich verstehen ließe. Aber zu solchen Begründungen war er unfähig, und sein Publikum vermißte sie nicht. Ist ja doch noch ein modernes Filmpublikum in dieser Hinsicht sehr anspruchslos. Aber, wie schlecht die Szene auch begründet ist, sie ist sehr eindrucksvoll: ein Auftritt, der sich der Einbildungskraft und dem Gedächtnis eingräbt, in direkter Rede scharf formuliert, Haltung und Geste suggerierend. Daß sehr wahrscheinlich Modellvorstellungen (etwa Nathan vor König David) zugrunde liegen, macht keinen Unterschied. Hier sieht man, was die Vulgärsprache schon leisten konnte: ein eindringliches Einzelbild, schwach begründet, aber scharf einen exemplarischen Augenblick festhaltend. Man findet schon ein ähnliches Stilbild in der EulaliasequenzEulaliasequenz, wo noch viel krasser als im LeodegarliedLeodegarlied die Zusammenordnung der Ereignisse ganz schematisch ist, die Haltung der Märtyrerin aber gestenhafte Eindringlichkeit besitzt.
Der weitere Ablauf des Liedes zeigt die gleichen Eigentümlichkeiten. Kein Leser oder Hörer könnte aus ihm ein Bild der Lage im Merovingerreich zur Zeit Leodegars oder auch nur eine konkrete Vorstellung von Leodegars Schicksal gewinnen. Was gesagt wird, hat keine Konsistenz. Es ist nicht nur wertlos im Sinne der historischen Kritik; es kann auch nicht vor dem Urteil der nur halbwegs ausgebildeten Lebenserfahrung bestehen; es ist nicht nur praktisch falsch, insofern sich die Dinge nicht so zugetragen haben, sondern auch als Erdichtung sehr schwach, da sich zwischenmenschliche Ereignisse so nicht zutragen können. Eine absolute, durch nichts begründete tückische Grausamkeit kämpft gegen eine ebenso absolute, im Leeren sich bewegende Tugend. Selbstverständlich