Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Erich Auerbach
modo scit de terrenis plus quam omnes hommes ….4
Wohl aber mußten die Brüder in der Welt leben. Das Eremitentum und die wohlbehütete, aristokratische Kontemplation war nicht die Absicht des Stifters; sondern die Nachfolge Christi mitten im saeculum, die Unterordnung und der Dienst an der Kreatur. Das Unrechtleiden war ihre eigentliche Aufgabe; «auch wenn sie dich schlagen, nimm es als Gnade und wolle es so und nicht anders; denn ich weiß ganz gewiß, dies ist der wahre Gehorsam … und liebe die, welche dir so tun … und wünsche nicht, daß sie bessere Christen seien. Und dies sei dir mehr als das Eremitorium …».5 Mitten in der Welt konnte das nur geschehen; überallhin kamen die Brüder, bettelnd, bußpredigend, die Elendesten der Kranken pflegend. So erreichten sie von Anfang an einen Grad von Öffentlichkeit und Verquickung mit dem täglichen Leben des Volkes, wie keine ähnliche Einrichtung je zuvor. Man bemerke aber, daß der Heilige seine Brüder überallhin sandte – nicht etwa zu den Ungläubigen insbesondere. Heidenbekehrung und Martyrium, diese heroischen Grundtatsachen des kämpfenden Christentums, spielen in der franziskanischen Bewegung keine bedeutende Rolle. Zwar erlitten einige der ersten Brüder den Tod bei den Sarazenen, zwar sehnte sich auch der Stifter nach solchem Schicksal – doch es ist nicht eigentlich Ziel und Aufgabe des Ordens. Wer zu den Ungläubigen gehen will, soll seinen Minister um Erlaubnis bitten, und der gestatte es ihm nur,6 wenn er ihn für geeignet hält – denn der MinoritMinoriten ist nicht um des Ruhmes willen da, nicht wegen des eklatanten, tragischen Heldenmutes, sondern für das tägliche Leben, wo es Gott gefällt, ihn hinzustellen; sein Heldenmut ist Unterwerfung unter die Kreatur.7
So gingen die Brüder in die Welt und erregten sie von Grund auf. Das ganze Jahrhundert ist erfüllt von der franziskanischen Bewegung, und noch in seinem kurzen Leben sah der Heilige eine Wirkung von seiner Person ausgehen, wie sie wohl keinem anderen Menschen, der nur Innerliches wollte, vergönnt war. Thomas von SpalatoThomas v. Spalato, der ihn 1222 auf dem Markt in Bologna predigen sah, beschreibt seinen schmutzigen Anzug, seine verächtliche Gestalt, sein unschönes Gesicht – wie aber die Wirkung seiner Worte so groß war, daß die streitenden Parteien der Stadt sich versöhnten, und wie die ekstatische Verehrung des poverello einen solchen Grad erreicht hatte, daß Männer und Frauen catervatim in eum ruerent, satagentes vel fimbriam eius tangere aut aliquid de paniculis eius auferre …8 Als er starb, war er im Bewußtsein des ganzen italienischen Volkes ein Heiliger, sein Orden war eine riesige Institution im ganzen Abendland, der Christenheit war er zum Bild und Vorbild geworden, und die Kirche verdankte ihm, wie es die Legende vom Traum des Papstes schön zum Ausdruck bringt,9 Rettung und Erneuerung. Alle Menschen, die mit ihm in Berührung kamen, hat er bezaubert; in diesem Ausmaß, ohne politische Absicht, ganz aus Person und Gesinnung geboren, ist seine Wirkung ohnegleichen.
Sein Werk der Bezauberung begann bei seinen umbrischen Mitbürgern, und wenn er späterhin Gelehrte und Fürsten, Bischöfe und Päpste zu den Seinen zählte, so blieb die Grundlage seiner Seelenmacht doch immer das Volk, dessen Herz nicht durch die Vernunft, sondern durch die Phantasie entflammt wird. Hier liegt der Kern des Problems: er hat die Phantasie des Volkes für Jahrhunderte befruchtet. Welche geheimen Kräfte verliehen ihm solche Gewalt über die Phantasie der Menschen, die damals lebten und handelten, daß sein Bild und sein Wesen ihr Leben und Handeln zu beunruhigen, zu durchkreuzen, zu verwandeln vermochten? Es gab, wie schon gesagt, damals Bußprediger genug, und zudem muß man bedenken, daß es zu jener Zeit der Einbildungskraft an Nahrung nicht fehlte; die KreuzzügeKreuzzüge mit ihrer gewaltigen Bewegung, ihren abenteuerlichen Kriegstaten, ihrer phantastischen Anschwellung von Verkehr und Reichtum müssen die einfachen Menschen aufs leidenschaftlichste beschäftigt haben, und wenn die plötzliche Erweiterung des Gesichtskreises zu einer Kritik und Beunruhigung der heimischen Zustände führte, so mußte das weit eher ketzerisch-revolutionären Bestrebungen zugute kommen als der unpolitischen und nur aufs Innerliche gerichteten franziskanischen Bewegung.
Und trotzdem fiel sein Wort in aufnahmebereite Herzen. Giambattista VicoVico, G. hat gesagt, daß die einfachen Menschen sich am Großen und Einheitlichen ergötzen und daß mehr als alle noch so scharfsinnigen Worte des Verstandes die bildhaft einprägsame Tat und Haltung und das lebendige Gefühl sie fortreißen. Franz von AssisiFranz v. Assisi ist in VicosVico, G. Sinne ein poetischer Charakter gewesen, weil er ganz und gar bildhafter Ausdruck seiner selbst geworden ist. Den inneren Impuls trieb er mit einer überirdisch glühenden, mit einer seraphischen Entschlossenheit in die äußere Erscheinung; er wurde zum sinnlich-geistigen Erlebnis, unvergeßlich und unverwechselbar, ein sichtbares Zeichen geheimer Seelendinge.
Hier denke man einen Augenblick an die italienische oder überhaupt mittelländische Tradition der Sichtbarmachung alles häuslichen und seelischen Geschehens. So wie es noch heute ist, so muß es schon in der Antike gewesen sein: das Leben vollzieht sich in den Straßen und auf den Plätzen, und ohne Rückhalt ergießen sich die Affekte in eindrucksvolle Worte und Gesten. Die Helden des Volkes, in der Geschichte und auf der Bühne, müssen in jedem Augenblick ihren Charakter im Bilde darbieten, und keine noch so krasse Steigerung, sei es im Tragischen oder im Burlesken, ist diesem naturnahen Geschlecht zu viel. In dem heutigen öffentlichen Leben Italiens ist dies noch jeden Tag mit gleicher Eindringlichkeit zu beobachten wie etwa im antiken Lustspiel oder bei PetroniusPetronius.
In seinem Wesen und Auftreten hat der Heilige diesem Zuge des Volkscharakters vollkommen entsprochen – ja er hat ihn vielleicht erst wieder aufleben lassen und aus der Erstarrung von Jahrhunderten erweckt. Die Wandlungen und Zustände seiner Seele waren ein öffentliches Ereignis, und von dem Tage, an dem er dem scheltenden Vater vor dem Angesicht des Bischofs und des ganzen Volkes seine Kleider zurückgab, um sich ganz dem himmlischen Vater zu überliefern, bis zu jenem, an dem er sich, sterbend, nackt auf die nackte Erde legen ließ, ut hora illa extrema, in qua poterat adhuc hostis irasci, nudus luctaretur cum nudo10 – war jede seiner Handlungen eine Geste von nie erlebter und weittragender Gewalt, die die Menschen unmittelbar zu stürmischen Tränen und begeisterter Demut bewegte. Die wenigen Worte, die von ihm genau so überliefert sind, wie er sie sprach oder schrieb, tragen noch seine drängende und bei vieler Einfalt leidenschaftlich bewegte Geste in sich: Dico tibi sicut possum de facto anime tue beginnt der Brief an den unbekannten Minister, und mit et und et steigern sich, beschwörend und bestätigend, die Ermahnungen. Der Brief Ita dico tibi, fili mi an Bruder Leo ist in seiner völlig ungeschickten und unklaren Ausdrucksweise eines der beredtesten Dokumente aller Zeiten – aus dem 12. und 13. Jahrhundert gibt es gewiß nicht seinesgleichen. Was soll man vollends zu seinem Testament, was zu den Laudes creaturarum, dem SonnengesangSonnengesang (laudes creaturarum), sagen, dieser ersten, unbeschreiblichsten Blüte des Volgarevolgare, in der die einfachste, unschuldigste, vertrauteste Liebe zum Irdischen ausatmet in dem vertrauten Gruß an den Tod, als sei auch er Kreatur, ein irdisches Ding, von Gott geschaffen und würdig des Ruhmes? So viel von seinen Worten; eine überwältigende Fülle von Zeugnissen für seine ganz persönliche, immer bildhaft-konkrete Gestalt bietet seine Legende, in jeder der vielen Fassungen, in denen sie uns überliefert ist. Schon bei ihrer Entstehung rankt sich die Phantasie mitdichtend um sie herum, des Streites um Priorität und Glaubwürdigkeit ist kein Ende; vom ersten Tage an ist sie ein Volksbuch, die unkritischste Redaktion, nämlich die vulgärsprachlichen FiorettiFioretti (des hl. Franz), haben bis zum heutigen Tage eine gewaltige Verbreitung, weit über die fromm katholischen Kreise hinaus, und ein großes Jahrhundert der Malerei scheint fast nur aus der Geschichte des Franz von AssisiFranz v. Assisi das göttliche Pneuma der Inspiration empfangen zu haben.
Es ist nicht leicht, aus solcher Überfülle das Eindringlichste auszuwählen – und dabei nicht das zu übersehen oder zu verschweigen, was einem heutigen Gefühl fremdartig erscheint. Als er schon ein berühmter Heiliger war und sehr krank – von Natur war er zart und eines gepflegten Lebens bedürftig11 – da aß er einmal Hühnerfleisch, das man ihm verordnet hatte. Kaum hatte er sich erholt, befahl er einem Bruder, ihn mit einem Strick um den Hals durch AssisiFranz v. Assisi zu führen und dabei fortwährend zu rufen: Hier seht den Vielfraß, der sich ohne euer Wissen mit Hühnerbraten vollgestopft hat!12 Das scheint uns fast zu viel und ist doch ein Ausfluß seiner innersten Art, eines traditionell italischen Wesens, das in seiner naiven Drastik zuerst Spott, dann bestürzte Einkehr – aber niemals Überdruß erregte. Bei aller Einfachheit scheut er sich durchaus nicht, ein auffallendes Schauspiel zu geben – oder besser