Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Erich Auerbach
als er zum ersten Male vor dem Papste sprach, ergriff ihn der fervor spiritus, so daß er, «sich nicht fassend vor Freude, die Füße wie im Tanze bewegte».13 De toto corpore fecerat linguam, sagt Thomas an einer anderen Stelle, womit er freilich in einem weiteren Sinne meint, daß sein Körper durch Haltung und Art des Lebens unausgesetzt seiner Predigt diente; und er überschreibt den folgenden Absatz: Concordia utriusque hominis.14 Aber auch in jenem engeren Sinne behält es Gültigkeit, und es ist völlig das Freiheitsgefühl eines großen und meisterhaften Schauspielers, das an einer dritten Stelle beschrieben wird: wenn er vor vielen Tausenden predigte, war er so sicher wie im Gespräch mit dem vertrautesten Genossen; der riesigste Völkerhaufe erschien ihm wie ein einziger Mann.15
Er ist stets ein gespannter und bewegter Mensch gewesen, den es unausgesetzt trieb, die jeweils ergriffene Lebensform ins äußerste zu steigern; non modicum audax war er in seiner frühen Jugend,16 ein überschäumendes Gefäß der Gnade später. Was für ein verblüffender Auftritt ist schon sein erstes Erscheinen nach seiner Bekehrung in dem kleinen Assisi, das in ihm eben noch den Führer der leichtsinnigen Jugend der Stadt gesehen hatte!17 Und die Fülle erstaunlicher Taten, die er später vollbrachte, ist unerschöpflich. Er gab den Armen seinen Mantel oder das einzige Evangelienbuch, das die Brüder besaßen, er küßte die Aussätzigen, er warf sich, als eine Regung niederer Sinnlichkeit ihn befiel, nackt in den Schnee,18 er sprach zu Tieren und Blumen, er nannte alle Kreaturen seine Brüder – et modo praecellenti atque caeteris inexperto creaturarum occulta cordis acie decernebat, utpote qui iam evaserat in libertatem gloriae filiorum Dei.19 Das Krippenspiel am Tage der Geburt des Herrn, das praesepiumPraesepium, praesepe, feiert er mit Ochs und Esel im Stall zu Greccio, und das herbeigeeilte Volk hört in frommer Freude, wie er predigend Jesus das Lamm von Bethlehem nennt und in diesem Worte das Blöken eines Lammes nachzuahmen versucht.20 Er weinte über ein junges Lamm, das er auf dem Felde sah, nahm es mit sich, zog damit zum Erstaunen aller durch die Stadt Auximum (Osimo), um es den Nonnen zur Pflege zu übergeben – es hatte ihn an Christi Leiden erinnert.21
In der Ekstase begann er zu singen, und zwar oft französisch, oder auch mit einem Stück Holz die Bewegung des Geigenspielers (der viella) nachzuahmen;22 das Französische war seine Lieblingssprache, und im Anfang seiner Laufbahn überwand er die eigene Scham vor dem Betteln, indem er plötzlich begann, französisch zu reden.23 Nicht minder erstaunliche und impulsive Dinge vollbrachte er, um seiner Gesinnung bei den Brüdern oder auch bei Fremden Geltung zu verschaffen. Als er ein Haus sah, das ohne sein Wissen für die Brüder gebaut worden war, stieg er sofort auf das Dach und begann die Ziegel hinunterzuwerfen;24 die gewohnte Zelle verließ er, als sie ein Bruder unbedacht cella fratris Francisci genannt hatte;25 einem anderen, der einen Beutel Geldes berührt hatte, gab er in erschreckender Symbolik als Buße auf, den Beutel mit den Zähnen in einen Haufen Eselsmist zu legen.26 Als er die Brüder in Greccio an einem geschmückten Tische speisen sieht, geht er nicht etwa hinein, es ihnen zu verweisen; er nimmt Hut und Stab eines Armen, geht laut bettelnd an die Tür, erbittet als armer Pilger, im Namen Gottes, Einlaß und Speise: und wie die fassungslos erstaunten Brüder ihm den verlangten Teller geben, setzt er sich damit in die Asche: modo sedeo ut frater minor!27
Zum Mahl bei seinem Freunde, dem Kardinal Ugolin von OstiaUgolin v. Ostia, erscheint er mit etwas schwarzem Brot, das er sich draußen erbettelt hat, und verteilt die Brocken als eine wertvolle Gabe, angesichts des reich besetzten Tisches.28 Einem Habgierigen füllt er lächelnd die Hände mit Geldstücken, ohne zu zählen, und erschüttert durch diese einfache Geste das Gleichgewicht des Mannes für immer.29
Schließlich sei noch die unheimliche Szene bei den Schwestern von San Damiano erzählt: sie haben lange gebeten, ihn zu sehn und seine Predigt zu hören; endlich will er kommen. Er erscheint vor den versammelten Nonnen, doch kaum hat er gebetet, als er einen Kreis von Asche rings um sich streuen läßt und statt der Predigt ein lautes Miserere beginnt; dann geht er eilig davon.30
Zu dieser breiten und eklatanten Wirkung, die der Heilige der südlichen Gewalt seines Ausdrucks verdankt, tritt eine andere, ganz feine und subtile – die Wirkung, die auf der ganz unbeschreiblich leuchtenden Liebenswürdigkeit seines Auftretens beruhte. Hier ist das Wort «Liebenswürdigkeit» wirklich an seinem Platze, denn das, was man bei ihm so nennen darf, ist keineswegs der Ausfluß einer gesellschaftlichen Bildung – obgleich freilich, schwer nachzuweisen und doch unverkennbar, auch hier ältestes Gut der Tradition durchschimmert –, sondern eine wirkliche Blüte des Herzens, durch deren Glanz er nicht nur unendlich gut und groß, sondern ebensosehr persönlich reizvoll erscheint, und um derentwillen er dem geheimen Orden der Menschen von bevorzugter Bildung zugehört. So rätselhaft in seinen Ursprüngen und so unbeabsichtigt dieses Wesen auch sein mag – der Heilige, Sohn eines Tuchmachers in einer Kleinstadt, ohne literarische Bildung und ohne Beziehung zu den damaligen Schauplätzen edler Sitte, ähnelt zuweilen in seiner trotz aller Leidenschaftlichkeit überwältigend formvollen, die geheimsten Instinkte des anderen erspürenden Art, einem schon fast überempfindlichen, mit überfeinen Sinnen begabten Abkömmling eines erlauchten Geschlechts. Ohne Zweifel hat Thomas von CelanoThomas v. Celano recht, wenn er seine Liebenswürdigkeit aus seiner Demut herleitet,31 aber nicht jeder Demütige wäre imstande, seiner Gesinnung solchen Ausdruck zu verleihen.
Hier ist es nicht ganz so leicht, Beispiele anzuführen, denn es handelt sich um Dinge, die, überall in der Legende verstreut, sich doch schwer herausheben und losgelöst darstellen lassen. Das Augenfälligste ist die Art, wie der Heilige die Gedanken, Wünsche und geheimen Nöte der anderen errät und ihnen zu helfen weiß, ohne sie zu beschämen; die Legende bewahrt uns eine ganze Anzahl solcher Züge. War einer der Brüder krank und dem Fasten nicht gewachsen, wagte es aber nicht sich einzugestehen, so wußte es Franziskus sofort; er holte selbst Speise, setzte sich zu dem Leidenden, begann, um jenem die Scham zu nehmen, selbst zu essen und, wie BonaventuraBonaventura sagt, eum ad manducandum dulciter invitare.32 Oder er errät, auf einem Esel reitend, die Gedanken eines vornehm geborenen Bruders, der zu Fuß nebenher gehen muß; sogleich steigt er ab und bietet ihm an zu reiten.33 Nie versäumt er es, dem anderen eine Freude zu machen, und man versteht wohl, daß der erkrankte Bruder, den er mit Weintrauben überraschte (er war vor Tag sie pflücken gegangen, damit es ja niemand merke), bis zu seinem Tode sich dieses Morgens nicht ohne Tränen erinnern konnte. Doch es gibt hier auch ernsthaftere Dinge. Er fühlt, wenn sich aus irgendeinem geheimen Grunde die Gedanken eines Menschen verdüstern, wenn eine finstere Verworrenheit sich seiner bemächtigt, und im richtigen Augenblick greift er ein mit der ganzen Macht seiner zugleich ernsthaften und strahlenden Güte. Nichts von dem, was wir neuerdings einen Komplex nennen, kann vor ihm bestehen. Einen Scheuen, der von ihm mißachtet und schlecht beurteilt zu sein glaubt und darum schon beginnt an der Gnade zu verzweifeln, ruft er plötzlich zu sich, versichert ihn seiner besonderen Liebe und bittet ihn, so oft es ihm gefalle, zu ihm zu kommen.34 Einem anderen, von Anfechtungen gequälten, die er aber aus Scham nicht beichten kann, sagt er unvermittelt, er sei befreit von dieser Beichte, und die Anfechtungen würden ihm zum Ruhme, nicht zur Schuld gerechnet werden.35
Seine ganz besondere Liebe gehörte den Einfältigen und den Schwachen. Eine der hübschesten Anekdoten der Legende ist die Geschichte von Johannes SimplexJohannes Simplex, dem Bauernsohn, der ihm vom Pfluge weg folgen will, und auf die Forderung, er solle sein Hab und Gut den Armen schenken, sogleich einen Ochsen ausspannt: so viel gehöre ihm vom väterlichen Erbe, den könne er geben; dann aber kommen die Eltern und kleinen Geschwister weinend angelaufen und jammern über den Bruder und den Ochsen, die sie beide so schnell verlieren sollen. Der Heilige aber steht lächelnd inmitten der bewegten Szene, und die Worte, mit denen er den Ochsen zurückgibt, den Bruder aber mit sich führt, mag man selbst in der Fassung des Speculum perfectionis36 nachlesen. Zarte und feingebildete Menschen behandelte er mit einer Art von Rücksicht, die den Betroffenen sicher vollkommen frei und glücklich machte. Man denke etwa an die Stelle der Actus, in denen sein Gespräch mit dem vornehmen Jüngling – dem späteren Bruder Angelo – erzählt wird,37 oder an die Worte, mit denen er die hilfeflehende junge Frau aufnimmt,38 die freilich viel zu zart sind, um hier wiedergegeben zu werden. Wenn man die Stelle nachlesen will, so möge man darauf achten, daß nicht sie es wagte, ihn anzusprechen, sondern daß er die Ermüdete und Atemlose sogleich unter vielen Menschen bemerkt: Quid tibi, domina, placet? Und dann lese man weiter.
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