Genderlinguistik. Helga Kotthoff
Tab. 4-2: Der Übergang unbelebter Maskulina von der schwachen in die starke n-Klasse
Während die Inanimata in diese starke n-Klasse ausgewandert sind (Brunnen, Kuchen, Lumpen, Balken, Laden), haben schwach belebte Objekte wie Pflanzen, Insekten, Fische und Reptilien ihr Genus gewechselt (z.B. Schlange, Schnecke, Kresse, Traube): Sie wurden zu Feminina umkategorisiert und sind damit in die gemischte Klasse übergegangen, die keinerlei Kasusunterscheidung leistet (Tab. 4-1), auch kaum am Artikel (die Schnecke / der Schnecke / die Schnecken), s. Köpcke (2000a). Stärker belebte, dem Menschen näherstehende Tiere wie Vögel sind zwar bei den Maskulina verblieben, aber in die starke Klasse ausgewandert – und haben hier i.d.R. den Umlaut angenommen, da sie ja belebt sind: die Hahnen (schwach) > die Hähne (stark), Schwanen > Schwäne, Storchen > Störche. Auch Herzog (< mhd. herzoge) war einmal schwach, hat sich aber zu den Päpsten, Äbten und Pröbsten der starken Maskulina gesellt (die Herzogen > Herzöge). Derzeit schwanken Fink, Greif, Pfau und Bär (u.a. erkennbar am variierenden Gen.Sg.: des Greifen / des Greifs).1 Das bedeutet, die Klasse der schwachen Maskulina spezialisiert sich immer mehr auf den männlichen und menschlichen Prototyp, die diachron immer enger gezogene Grenze schließt aktuell Vögel und bereits einige Säugetiere aus. Damit scheinen sich die schwachen Maskulina zu einer exklusiven Männerklasse zu entwickeln.
Einige schwache Maskulina im unteren Belebtheitsbereich schwanken bis heute in Genus und Flexion (der Makak / die Makake; der Kakerlak / die Kakerlake), teilweise sogar zwischen zwei Genera und drei Klassen (wobei die jeweils erstgenannte am ungebräuchlichsten ist): der Kraken, der Krake, die Krake – der Socke, der Socken, die Socke – der Hode, der Hoden, die Hode.
4.2.4 Deklinationsunterschiede als sedimentierte GeschlechterrollenGeschlechterrolle
Fragt man nach der Ratio der hier behandelten Klassen und insbesondere der Attraktivität der schwachen Maskulina für Männerbezeichnungen, so findet man die Antwort in der materiellen Kasus- und damit Rollenanzeige. Einzig die schwachen Maskulina praktizieren im Singular einen flexivischen Unterschied zwischen Nominativ und Akkusativ, indem (der) Bote gegen (den) Boten opponiert. Historisch (im Ahd. und Mhd.) gehörten auch sehr viele Feminina dieser schwachen Klasse an (womit Maskulina und Feminina in einer Klasse vereint waren), d.h. diese Feminina flektierten damals ebenso wie die Maskulina heute, also mit Nullendung im Nominativ und mit n-Endung im Nichtnominativ (s. Relikte wie auf Erden oder von Seiten). Noch bei Luther flektierte Erde im Singular wie folgt: die ErdeNom vs. der ErdenGen/Dat / die ErdenAkk. Tab. 4-3 zeigt das Singularparadigma eines nhd. schwachen Maskulinums und eines gemischten Femininums. Deutlich wird außerdem, wie stark der Artikel in den Kasusausdruck eingebunden ist – auch dies bei den Maskulina stärker als bei den Feminina.
Der (unmarkierte) Nominativ bezeichnet i.d.R. das Agens, d.h. den Auslöser/Ausführer einer Handlung, während die (markierten) n-Formen den Mann als Rezipienten (Dativ) oder als Patiens (Akkusativ) ausweist (der Genitiv zeigt Zugehörigkeit oder Besitz an). Die unterschiedliche formale Markierung ist dabei nicht zufällig, sondern zeigt an, dass der grammatische Normalfall den Mann als Agens einer Handlung und nicht als Patiens vorsieht. Auch das Polnische ist dafür bekannt, nur bei belebten Maskulina eine flexivische Nom./Akk.-Opposition zu praktizieren, z.B. kotNom vs. kotaAkk ‚Katze‘, aber domNom=Akk ‚Haus‘. In der Romania (v.a. Spanisch) ist die sog. differenzielle Objektmarkierung, eine präpositionale Markierung belebter Objekte, verbreitet; davon sind jedoch Maskulina wie Feminina betroffen (die Neutra sind abgebaut).
Zentral ist hier die +/– Agens-Information, die der Hörerin sofort signalisiert, ob der vom Nomen bezeichnete Mann die Handlung selbst steuert und ausführt oder ob er von ihr betroffen (affiziert) und ihr damit ausgeliefert ist. Wie stark die Agentivität insgesamt ausgeprägt ist, hängt außerdem von der Dynamik der Handlung und dem Ausmaß ab, in dem das Agens sie steuert, sowie von der Zahl der (womöglich belebten) Objekte, die von dieser Handlung affiziert sind (sie friert – hustet – spricht – beendet das Gespräch – gibt ihnen drei Euro – rettet zehn Patienten das Leben).
Kasus | prototyp. sem. Rolle | Artikel | sw. Mask. | Artikel | gem. Fem. |
Nom. | Agens | der | Bote | die | Dame |
Gen. | Possessor | des | Bote-n | der | |
Dat. | Rezipient | dem | der | ||
Akk. | Patiens | den | die |
Tab. 4-3: Die nhd. Kasusflexion im Singular schwacher (sw.) Maskulina und gemischter (gem.) Feminina
Generell ist eine Nom./Akk.-Distinktion bei Animata sinnvoll, weil typischerweise belebte Objekte Handlungen auslösen (Agens), aber auch Ziel einer Handlung sein können (Patiens), und dieser wichtige Unterschied will klar markiert sein: Ob jemand transferiert / operiert / tötet oder ob jemand transferiert /operiert / getötet wird, ist von höchster Relevanz. Unbelebte Objekte kommen dagegen typischerweise in der Patiensposition vor, sie steuern selten eine Aktion. Seit jeher bezeichnen Neutra äußerst selten Menschen (zu MädchenMädchen und WeibWeib s. Kap. 4.2.6), was erklärt, weshalb sich viele indoeuropäische Sprachen hier einen (alten) Nom./Akk.-SynkretismusSynkretismus (Formgleichheit) leisten, vgl. nhd. Nom. = Akk bei es / es, das Schwein / das Schwein.