Genderlinguistik. Helga Kotthoff
Genussysteme und GenuszuweisungGenuszuweisung
Alle Substantive im Deutschen enthalten ein festes Genus. Die indoeuropäischen Sprachen unterscheiden maximal drei Genera: Femininum, Maskulinum und Neutrum (zu Genussprachen weltweit s. den Überblick in WALS 2013 und Corbett 1991). Keinem dieser drei Genera kommt eine feste Bedeutung zu, so dass man sagen könnte: Alle Neutra (oder alle Feminina, alle Maskulina) haben eine bestimmte Funktion oder teilen sich ein bestimmtes semantisches Merkmal. Als wichtigste Bedingung gilt, dass ihre Begleitwörter (z.B. Artikel, Pronomen) dieses Genus anzeigen (sog. Kongruenz). Die berühmte Genus-Definition von Hockett (1958) lautet: “Genders are classes of nouns reflected in the behavior of associated words” (231). Beim Genus handelt es sich zunächst einmal nur um eine Nominalklassifikation um ihrer selbst willen, die aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine vor mehreren Jahrtausenden geltende quantifizierende und/oder qualifizierende Funktion zurückgeht, über die bis heute kein fester Konsens besteht. Vermutlich gab es im Urindogermanischen nur zwei Genera, das Maskulinum für belebte und unbelebte, zählbare Objekte (Individuativa) und das Neutrum für unbelebte Objekte, Handlungen und ihre Resultate (vgl. heute noch das Rauchen); es scheint aus dem Akkusativ alter Maskulina hervorzugehen bei Wörtern, die so oft als Patiens auftraten, dass ihr Akk. (s. lat. -um) zum neuen Nominativ wurde (weshalb Scholten 2017a, 106, sie als sog. m-Wörter bezeichnet), z.B. lat. iugum (n.) ‚Joch‘ als ‚das Gezogene‘, ebenso verbum ‚Wort‘ < ‚das Gesagte‘, factum < ‚das Gemachte‘. Sie stehen so selten im ‚Agenskasus‘ Nominativ, dass sie sich von alters her keine formale Unterscheidung zwischen Nominativ und Akkusativ leisten (sog. SynkretismusSynkretismus, vgl. noch heute nhd. es/es, das/das). Das Hethitische reflektiert dieses alte Zweigenussystem. Erst sehr viel später hat sich im Gemeinindogermanischen aus Kollektiv- und Abstraktbildungen (im Sg.) ein Femininum entwickelt; noch heute sind im Deutschen sehr viele Kollektiva (die Reiserei, die Kundschaft) und Abstrakta feminin, z.B. die Liebe, Kunst und alle Wörter auf -heit oder -(ig)keit (die Weisheit, Heiligkeit) (Leiss 1994; Scholten 2017a; Werner 2012, 2017).1 Die (weibliche) Personifizierung solcher Abstrakta hat dazu geführt, dass das Femininum immer mehr mit weiblichen Lebewesen assoziiert wurde (vgl. dort läuft eine Schönheit). Dass es ein Stadium gab, in dem Substantive je nach Perspektivierung in allen drei Genera auftreten konnten (so wie sie heute in vier Kasus und zwei Numeri auftreten können), wird angenommen. Wichtig ist, dass die zwei bzw. drei Genera ursprünglich nichts mit Geschlecht zu tun hatten.2 Vielmehr hat sich erst sehr spät „ein jüngeres, durch das natürliche Geschlecht bestimmter Designata [Referenzobjekte] motiviertes Genussystem“ über ein „älteres Genussystem, in dem das natürliche Geschlecht als Unterscheidungsmerkmal unberücksichtigt blieb“ (Fritz 1998, 255), gelagert. Damit stellt der Verweis von Genus auf Geschlecht die sekundäre Nutzung (Exaptation) eines alten Genussystems dar. Auch wenn Genus ursprünglich nicht auf die Anzeige von Geschlecht zurückgeht, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass heute enge und produktive Genus-Sexus-Verschränkungen bestehen, am augenfälligsten bei der GenuszuweisungGenuszuweisung von (per se genuslosen) Anglizismen (die Queen, der King) und beim sog. DifferentialgenusDifferentialgenus substantivierter Adjektive und Partizipien (die/der Alte, die/der Angestellte).
Manche germanischen Sprachen haben alle drei Genera erhalten. Neben Deutsch gehören dazu Luxemburgisch, Jiddisch, Ost- und teilweise Nordfriesisch und Isländisch. Andere haben nur zwei Genera, meist ein Neutrum und ein sog. Utrum, entstanden aus dem (lautlich motivierten) Zusammenfall von Femininum und Maskulinum. Dazu gehören Niederländisch, Westfriesisch, Dänisch und Schwedisch. Englisch und Afrikaans haben gar kein Nominalgenus mehr. Dies sind gravierende Unterschiede, die erklären, weshalb Deutsch und Englisch oder Schwedisch bzgl. des Ausdrucks von Geschlecht nicht bzw. nur äußerst bedingt zu vergleichen sind, auch wenn dies immer wieder gerne getan wird.
Alle germanischen Sprachen einschließlich Englisch und Afrikaans ohne Nominalgenus unterscheiden jedoch bei den Pronomina3 immer drei Genera: nhd. er, sie, es – nl. hij, zij, het – engl. he, she, it, und das Schwedische hat sogar vier Genera ausgebildet: schwed. han [männl., belebt], hon [weibl., belebt], det [Neutrum, unbelebt], den [Utrum, unbelebt]. In den Sprachen mit reduziertem und v.a. in denen ohne Nominalgenus beziehen sich die maskulinen Pronomina auf Männer, Jungen und teilweise auch männliche Nutz- und Haustiere, die femininen auf Frauen, Mädchen und evt. weibliche Nutz- und Haustiere, während das neutrale Pronomen nur auf Unbelebtes referiert – und nicht etwa auf Menschen unbekannten Geschlechts: Nl. het, engl. it und schwed. det können sich niemals auf Menschen beziehen, sondern nur auf sog. Inanimata (unbelebte Objekte). Das heißt, ihre von der Kongruenz mit dem Nominalgenus sich entkoppelnden bzw. bereits entkoppelten Pronomina wurden reanalysiert und refunktionalisiert, indem sie in den Dienst der Belebtheitsanzeige gestellt wurden (he/she vs. it) und im Fall der beiden belebten Pronomen zwei Geschlechter bezeichnen, weiblich (wl.) und männlich (ml.). Im Prinzip verhalten sich Possessivpronomen ähnlich (engl. his (ml.), her (wl.), its (unbel.) – schwed. hans (ml.), hennes (wl.), dess (unbel.). In Zweigenussprachen wie Niederländisch und Schwedisch kommt es zu einigen zusätzlichen (interessanten, doch hier irrelevanten) Entwicklungen im Pronominalsystem (s. Audring 2010).
Ganz anders verhält es sich in Dreigenus-Sprachen wie dem Deutschen, wo er, sie, es in aller Regel das Genus des Nomens, auf das sie verweisen, aufgreifen (Kongruenz) und sich damit alle drei Genera sowohl auf Belebtes als auch auf Unbelebtes beziehen können. Man spricht hier von grammatischer Kongruenz:
Maskulinum | Femininum | Neutrum | ||||
– belebt: | der Durst | er | die Wurst | sie | das Maß | es |
+ belebt: | der Mann (ml.) | er | die Frau (wl.) | sie | das Kind (ml./wl.) | es |
Zu unterscheiden sind also die drei Genera Femininum (f), Maskulinum (m) und Neutrum (n) und die zwei großen Geschlechtsklassen weiblich (wl) und männlich (ml). Hier besteht eine zahlenmäßige Asymmetrie, die noch von Interesse sein wird. Abgesehen von der Geschlechtskennzeichnung leisten Pronomen auch eine Belebtheitsanzeige. Belebt – egal welchen Geschlechts – wird mit „+ bel.“ abgekürzt, unbelebt mit „– bel.“.
4.3.2 Das Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip
Ähnlich wie sich eine strikte Geschlechtsbinarität nicht aufrechterhalten lässt, handelt es sich auch bei ‚+/– belebt‘ nicht um eine Dichotomie: Menschen und Götter werden als belebter wahrgenommen als Säuge- und Kuscheltiere, diese wiederum mehr als Quallen, Pflanzen, Steine oder Hohlmaße. In der Linguistik hat sich die in Abb. 4-1 skizzierte sog. Belebtheits- oder AnimatizitätshierarchieBelebtheitshierarchie bewährt, die zahlreiche grammatische und lexikalische Strukturen zu erklären in der Lage ist.
Abb. 4-1: Die Belebtheits- oder AnimatizitätshierarchieTiere
Diese Belebtheitshierarchie ist anthropozentrischAnthropozentrismus organisiert, d.h., sie speist sich primär aus der Ähnlichkeit uns umgebender Entitäten zu uns selbst (Ego). Deshalb sind Verwandte für uns belebter als andere Menschen. Da hierbei auch Agentivität und Individualität eine Rolle spielen, sind handlungsmächtige Personen wie Kanzlerinnen, Präsidenten, Politikerinnen oder