Genderlinguistik. Helga Kotthoff
Referent menschlich ist (Lena). Selbstverständlich sind auch fiktive Gestalten und Artefakte, denen wir Agentivität (Götter, Helden) oder Persönlichkeit verleihen (Stofftiere, Puppen), ebenfalls als hochbelebt anzusehen. Auch Körperteile gehören dazu.
Bei den TierenTiere unterscheiden wir abermals nach Ähnlichkeit zu uns. Dies macht Säugetiere für uns belebter als Fische oder Insekten. Es folgen die schwach belebten, fortbewegungsunfähigen Pflanzen, danach inanimate, aber noch konturierte und damit zählbare Gegenstände, dann nicht-konturierte, nicht-zählbare Stoffe und schließlich immaterielle Konzepte, die i.d.R. durch Abstrakta versprachlicht werden.
Die Zusammenhänge zwischen Genus und Geschlecht sind bei genauerem Hinsehen komplex, doch gilt als die verlässlichste und produktivste (d.h. auch bei lexikalischen Neuzugängen wirksame) Regel, dass Bezeichnungen für weibliche Menschen feminin und solche für männliche maskulin sind. Es gibt kein anderes semantisches Genuszuweisungsprinzip von solch hohem Geltungsgrad. Die linguistische Genusforschung spricht hier vom Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip. Dieses Faktum ist deshalb so bemerkenswert, weil die ursprüngliche Funktion der Genera ja nicht in der Anzeige von Geschlecht bestand. Dass aber Genus in vielen indoeuropäischen Sprachen an Geschlecht gekoppelt wurde, zeigt, dass es ein Bedürfnis gibt, menschliches Geschlecht im Genussystem und damit tief in der Grammatik zu verankern.
Die Prinzipien der GenuszuweisungGenuszuweisung im Deutschen gliedern sich in formale und semantische, die Köpcke/Zubin (1984, 1996, 2009) beschreiben. So haben Einsilber eine hohe Wahrscheinlichkeit, maskulin zu sein (Stein, Job) und Trochäen, feminin zu sein (Kanne, Gruppe). Wichtiger ist das morphologische Letztglied-Prinzip, bei dem das letzte Morphem das Genus der gesamten Wortbildung diktiert; bspw. generieren die Diminutivsuffixe -chen und -lein Neutra und überschreiben damit das Genus der Basis: der Mann – das Männchen, die Mutter – das Mütterchen. Unter die semantischen Prinzipien i.w.S. fasst man alle nicht-formalen Prinzipien (die nicht dem materiellen Wortkörper entnehmbar sind):
1 das referenzielle Prinzip, wo der konkrete Referent Genus zuweist (gilt bei Eigennamen, vgl. die Adler als Schiffs- vs. das Adler als Biername; s. Fahlbusch/Nübling 2014);
2 das pragmatische Prinzip, wo Beziehung Genus zuweist (z.B. das Anna für eine Nähe- und die Anna für eine Distanzbeziehung zwischen SprecherIn und Frau; Kap. 9.3);
3 das semantische Prinzip i.e.S., wo die lexikalische Bedeutung eines Lexems Genus zuweist. Am stärksten evozieren vergeschlechtlichte Personen- oder Tierbezeichnungen ein bestimmtes Genus („Genus-Sexus-Prinzip“ z.B. der Vater, die Mutter, der Hengst, die Stute). Auch Lexeme für Früchte steuern Genus, nämlich das Femininum (die Mango, Ananas, Kiwi etc. – Ausnahmen: Apfel und Pfirsich).
Da Genus an Kongruenz gebunden ist, zieht es sich oft vielfach durch die Nominalphrasen (es ermöglicht maßgeblich die sog. Nominalklammer) und ist es dadurch sehr präsent, man könnte sagen: omnipräsent.
Abb. 4-2 zeigt, dass im linken Bereich höchster AnimatizitätBelebtheitshierarchie engste Genus/Sexus-Verschränkungen gelten. Von Genusarbitrarität kann hier nicht die Rede sein. Da sich die soziale Zweigeschlechtlichkeit direkt in entsprechender GenuszuweisungGenuszuweisung spiegelt, kommen auch nur Feminina und Maskulina vor und so gut wie keine Neutra (zu eingeklammertem s Anna s. Kap. 9.3, zu WeibWeib s. Kap. 4.2.6). Man kann hier also von einer Gleichschaltung zwischen weiblichem Geschlecht und Femininum sowie männlichem Geschlecht und Maskulinum sprechen. Der Festigkeitsgrad dieser Koppelung nimmt nach rechts hin zu den Tieren etc. sukzessive ab, franst immer mehr aus und löst sich schließlich auf. PersonennamenPersonenname als Spitze der Belebtheitshierarchie (Namen referieren auf individualisierte Einzelpersonen) verkoppeln Geschlecht und Genus am engsten (Rolf (m.) – Ronja (f.)).1 Hinzu kommt, dass diese Information sogar meist am Namenkörper salient (hör- und sichtbar) verankert wird (anderen Substantiven hört man kaum ihr Genus an), indem etwa die Auslaute -a und -e auf Frauen und konsonantische Auslaute oder -o auf Männer verweisen (Kap. 9.1). So benötigt man zur Sichtbarmachung von Genus keine Kongruenzmittel (im Standard sind PersonennamenPersonenname auch artikellos), das Genus wird der Phonologie selbst unbekannter Namen entnommen.
Abb. 4-2: Genus-Sexus-Relationen bei Animata (ohne Diminutiva)
Ein anderes Prinzip, das ebenfalls die enge Genus-Sexus-KopplungGenus-Sexus-Prinzip untermauert, wurde bei den Rufnamen im Germanischen, d.h. schon vor über zwei Jahrtausenden, praktiziert: Typischerweise bestanden die Namen aus zweigliedrigen, sog. programmatischen (d.h. mit Bedeutung gefüllten) Komposita (oft aus dem kriegerischen Bereich), wie sie heute noch in Gerhild oder Arnulf zu greifen sind. Dabei galt die strikte Regel, dass (gemäß dem Letztglied-Prinzip) das zweite Nomen bei Frauennamen ein Femininum und bei Männernamen ein Maskulinum sein musste: Ger-hild < ahd. gēr (m.) ‚Speer‘ + ahd. hiltja (f.) ‚Kampf‘; Arn-ulf < ahd. arn (m.) ‚Adler‘ + wolf /wulf (m.) ‚Wolf‘. Dadurch waren Neutra im Zweitglied kategorisch ausgeschlossen; das Genus des Erstglieds spielte keine Rolle. Deutlicher kann die Gleichschaltung von Genus und Sexus kaum zum Ausdruck kommen – außer beim sog. DifferentialgenusDifferentialgenus, das in Abb. 4-2 nicht enthalten ist. Vom Differentialgenus sind Substantivierungen von per se genuslosen Wortarten wie Verben oder Adjektiven betroffen, denen (als Substantiv) ein Genus zugewiesen werden muss, das jedoch variabel ist. Dabei erweist sich klar, dass Feminina ausnahmslos Frauen bezeichnen, Maskulina Männer (die Versicherte, der Versicherte) – und Neutra referieren auf Unbelebtes: das Versicherte würde kontextlos als ‚versichertes Gut‘ verstanden und kaum als *‚versichertes Kind' (Kap. 6). Da weder die Semantik noch die Form einen Beitrag zu diesen Geschlechtsinformationen leisten, handelt es sich hier nur um den reinen Effekt des Genus. Das (produktive und oft genutzte) Differentialgenus ist der stärkste Beleg nicht nur für einen eng verzahnten Verweis, sondern auch für die sprachliche Herstellung von Geschlecht allein durch Genus.2
Bei Verwandtschafts- und zentralen Personenbezeichnungen fällt auf, dass es zumindest im Singular keine gängigen geschlechtsabstrahierenden Oberbegriffe gibt: weder zu MutterMutter und VaterVater (hier springt im Bedarfsfall das etwas technisch wirkende Kompositum Elternteil ein) noch zu Tante/Onkel, Nichte/Neffe, Cousin/Kusine, Oma/Opa etc., aber auch nicht zu Nonne/Mönch (die zu Frau/Mann geschlechtsneutralen Ausdrücke MenschMensch und PersonPerson < lat. persona sind erst später entstanden; Kap. 8). Offensichtlich divergier(t)en soziale Verpflichtungen und GeschlechterrollenGeschlechterrolle so stark, dass eine sprachliche Geschlechtsabstraktion unmöglich ist. Viele Sprachen drücken im Verwandtschaftslexem zusätzlich die geschlechtliche Linie aus, über die das Verwandtschaftsverhältnis besteht – so auch im früheren Deutschen, wo Oheim und Muhme Onkel und Tante mütterlicherseits und Vetter und Base väterlicherseits bezeichneten.
Auch weitere Personenbezeichnungen sind durch enge Genus-Sexus-Bande gekennzeichnet (Mann, Mönch – Frau, Nonne). Allerdings kommt es, sobald man den Kernbereich verlässt und weitere Seme hinzutreten, durchaus zu Lockerungen, z.B. die Hilfskraft, Nachtwache, Geisel, Waise – das Mitglied, Opfer, Individuum – der Gast, Star, die für Frauen und Männer gelten. Ab hier lockert sich der Genus-Sexus-NexusGenus-Sexus-Nexus. Auch kommt es mit Mitglied, Individuum, WeibWeib und Kind zur Nutzung des Neutrums als drittes Genus (auch fachspr. das Geschwister). Während Mitglied sein Neutrum dem Wortbildungsteil –glied verdankt, treten junge, noch wenig geschlechtssaliente und nicht geschlechtsreife Menschen und NutztiereNutztiere häufig ins Neutrum (was umgekehrt das sexuierende Potential der Feminina und Maskulina unterstreicht): das Kind, Kid, Baby, Kleine, Neugeborene – das Junge, Kalb,