Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher
den vorangegangenen Seiten wurde versucht, den Begriff „lebenslanges Lernen“, der als Lösung für viele Probleme herhalten muss, näher zu erläutern und einige der in diesem Zusammenhang erforderlichen Kompetenzen auf allgemeiner und fachlicher Ebene zusammenzutragen. Es fällt auf, dass mit dem Konzept in Wirtschaft, Politik und Pädagogik ganz unterschiedliche Erwartungen verbunden werden: die einen zielen auf flexible Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab, die andern auf mündige Bürgerinnen und Bürger, und wieder andere fragen sich, ob bzw. wie sie eine Brücke zwischen materialer Qualifizierung und formaler Bildung schlagen sollen.1 Entsprechend fällt die Bewertung des Konzepts des lebenslangen Lernens sowie die Beurteilung der Kompetenzorientierung in den Bildungsstandards2 mit der anvisierten europaweiten Vereinheitlichung von Leistungsmessung und Abschlüssen aus. Zugleich ergeben sich viele Fragen und Bedenken, von denen hier nur einige genannt werden können.
Zunächst stellt sich die grundsätzliche Frage, ob und wie sich das Vermitteln von Qualifikationen und Kompetenzen im Interesse des Wirtschaftsstandorts mit dem Erwerb demokratischer Gestaltungskompetenz vereinbaren lässt (Lenz 2004b, 123), also inwiefern sich Persönlichkeitsbildung und emanzipatorische Grundgedanken mit rein utilitaristischen Zielen (Bildung als Ware) – Rößler (2006, 273) spricht in diesem Zusammenhang von „Just-in-Time-Qualifikationen“ – in Einklang bringen lassen. Auch wenn immer wieder suggeriert wird, dass Bildung und Kompetenzerwerb dasselbe bedeuten – in diesem Punkt scheint auch der Begriff „Bildungsstandards“ irreführend zu sein – bestehen hier meines Erachtens grundsätzliche Unterschiede: Bildung zielt eher auf Urteilsvermögen, Selbstbestimmung und Freiheit ab, wohingegen der Begriff „Kompetenzerwerb“ sehr viel stärker Anpassungsfähigkeit und Abhängigkeit impliziert. Und: Bildung ist mehr als marktgängiges Wissen.3
Zu Recht stellt Lenz (2004b, 124) die Frage, „welchen Beitrag (...) das Konzept des lebenslangen Lernens zum Schutz des sozialen Zusammenhalts und zur Pflege der Gemeinschaft“ leistet, zumal der wachsende Druck zur „Selbstoptimierung“ (Ebd., 123) Versagens- und Existenzängste und somit auch Aggressionen schürt, und sich durch die zunehmende Individualisierung die soziale Spaltung fortsetzt.
Eine weitere Frage lautet, wie sich die Standardisierung von Lernerfolgen mit der individuellen Förderung der Lernenden vereinbaren lässt. Auch Küster (2006, 20) moniert, dass „die Ausrichtung fremdsprachlichen Lernens auf standardisierte Tests (...) nur schwer kompatibel mit den Postulaten einer Lerner- und Prozessorientierung“ sei. Diese Problematik ist im deutschen Bildungssystem nicht unbekannt und könnte sich jetzt sogar noch verschärfen! Wie also kann bei standardisierten Output-Vorgaben – neben allen anderen individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen – die leistungsspezifische Heterogenität der Lernenden insofern berücksichtigt werden, dass sowohl leistungsschwache als auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler profitieren? Wie können Gleichheit und Differenz ausbalanciert werden? Wie wirken sich die in den Bildungsstandards verankerten Vorgaben auf die Qualität des Unterrichts aus?4 Und: Welche Kompetenzen benötigen Lehrkräfte, um den Unterrichtsalltag in jeglicher Hinsicht gewinnbringend zu gestalten?
Im Zuge der gegenwärtig dominierenden Kompetenzorientierung und der Diskussion um Standards und internationale Vergleichsstudien geraten Inhalte des Lernens leicht in den Hintergrund – auch im Bereich des Fremdsprachenlernens. Wie aber soll man eine Sprache lernen, ohne über Inhalte zu kommunizieren? Wie soll man sich bilden, ohne sich ein Bild von der Welt zu machen? Nicht nur Schröder (2005, 43) vermisst eine fachdidaktische Reflexion des neusprachlichen und schulischen Bildungsauftrags: „Der Titel Bildungsstandards verspricht wesentlich mehr, als der Text hält. (...) So gesehen sind die Bildungsstandards (Englisch/Französisch) für den Mittleren Schulabschluss in ihrer derzeitigen Form ein Rückfall in eine fremdsprachendidaktische Steinzeit“. Auch Doff und Klippel (2007) stören sich an der fehlenden Diskussion um den Bildungsauftrag und die Inhaltsfrage:
Funktionale Ziele des Englischunterrichts dominieren; die Diskussion der Inhalte ist weitgehend verstummt. Bildungsstandards und der Gemeinsame europäische Referenzrahmen (GeR) sind vor allem an den Fertigkeiten orientiert. Dazu liefern sie durchaus hilfreiche Beschreibungen, allerdings finden sich dort keine Hinweise auf die Inhalte von Englischunterricht. Die Inhaltsfrage ist jedoch (...) von enormer Bedeutung, wenn es darum geht, das Gerüst der Bildungsstandards sinnvoll zu füllen und den Zweck des Englischunterrichts neu zu definieren (Ebd., 41).
Andererseits liegt in dieser Offenheit vielleicht auch die Freiheit, zusammen mit den Lernenden Inhalte, Texte und entsprechende Aufgabenstellungen so auszuwählen, dass sie tatsächlich lerner- und lernorientiert – aber nicht beliebig – sind. Dies kann auch als große Chance betrachtet werden, den Englischunterricht motivierender zu gestalten – zum Beispiel durch Storyline-Projekte, im Rahmen derer die diversen Kompetenzen durch entsprechend gestaltete Aufgaben spielerisch erworben werden, so dass eigentlich weder für Lehrkräfte noch für Lernende ein Grund zur Sorge vor bundesweiten Kompetenztests bestehen müsste. Ob und inwiefern dies gelingen kann, sollen meine Fallstudien in Teil B zeigen.
1.7 Zusammenfassung und Fazit
Ohne Sinn sind Schulen Häuser der Leere, nicht der Lehre (Postman 1995, 20)
Schule hält offenbar nicht das, was sie verspricht, nämlich die Vorbereitung der jungen Menschen auf die komplexen Anforderungen des Lebens sowie die Vermittlung von Chancengleichheit und Gleichberechtigung beim Übergang ins Berufsleben. An vielen Schulen herrschen nicht nur Stress, Burnout und diverse Formen von Aggressionen und Gewalt, sondern auf Grund von Homogenisierungsbestrebungen und „Konformitätsdruck“ (Lösel/Bliesener 2003, 175) auch Über- bzw. Unterforderung auf Seiten der Lernenden und somit auch viel Frustration und Langeweile, so dass Unterrichtsstörungen nachvollziehbar werden. Ebenso nachvollziehbar sind Studien, die belegen, dass die Schulmüdigkeit mit dem Alter steigt und während der Pubertät in Schulverweigerung und Schwänzen münden kann, wenn sich so genannte Bildungsverlierer „einer für sie subjektiv hoffnungslosen Situation nicht mehr stellen wollen“ (Fuchs u.a. 2005, 269). Schober und Spiel (2004, 205) fassen die diversen Untersuchungsergebnisse wie folgt zusammen:
So wird immer wieder gezeigt, dass das durchschnittliche Interesse der SchülerInnen an der Schule und am schulischen Lernen mit zunehmender Jahrgangsstufe eher abnimmt. Die Frage, wie an dieser Situation etwas geändert werden kann (...), stellt nun kein wirklich neues Thema dar. Sie bekommt allerdings in den letzten Jahren besondere Brisanz im Kontext der Entwicklung Europas hin zur oft zitierten ‘Wissensgesellschaft’, die vor zahlreichen wirtschaftlichen, sozialen und strukturellen Herausforderungen steht.
Um jedoch mit den permanenten Veränderungen Schritt halten zu können, muss die Schule alle ihre Mitglieder und auch die Verantwortlichen in der Administration zum kontinuierlichen Lernen – auch außerhalb der Schule – anregen:
Daraus erfolgt die notwendige Arbeit an der Kultivierung des Schulalltags, an Lern- und Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche, die diesen nicht nur die Aneignung des nötigen Wissens, des nötigen Könnens – oder allgemeiner gesprochen: der nötigen Kompetenzen – erlauben müssen, sondern die darüber hinaus von diesen auch sinnvoll, interessant und zum Lernen herausfordernd erfahren werden können (Liebau 2005, 60).
„Lebenslanges Lernen“ heißt das vielsagende neue Bildungskonzept, „das den Um- oder Neubau des bestehenden Bildungssystems erfordert“ (Lenz 2004b, 122). Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, herrschen in unserem Bildungssystem aber noch viele Traditionen, die offensichtlich nicht von einem Tag auf den anderen verworfen werden können. Es braucht lange, bis der „Tanker“ in Bewegung kommt und ob er dann – in unserer schnelllebigen Gesellschaft – auf dem richtigen Kurs ist, lässt sich schwer prognostizieren. Aus diesem Grund scheint es mir wichtig, sinnvoller und erfolgversprechender, nicht auf Veränderungen von „oben“ zu warten, sondern aktiv mit konkreten Veränderungen im Klassenzimmer, also von „unten“, zu beginnen und im gleichen Zug Lehramtsstudierende auf die neue Situation konstruktiv vorzubereiten. Ob dies beispielsweise mit Hilfe des Storyline-Konzepts gelingen kann, sollen meine Untersuchungen zeigen (vgl. Teil B).
Wenn wir uns also von einer Risiko- zu einer Chancengesellschaft entwickeln möchten, dann müssen die heterogenen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen