Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher
auf der Basis seiner individuellen Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata darstellt. Dabei kann der „Sender“ nicht bestimmen, wie der „Empfänger“ sein Verhalten interpretiert (von Ameln 2004, 59). Auch jede Form der Verneinung oder Vermeidung von Kommunikation wie Schweigen (z.B. im Klassenzimmer) ist „selbst eine Kommunikation“ und stellt eine Art der Stellungnahme dar (Watzlawick u.a. 1969, 52).
2. Axiom: „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, derart, daß letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist“ (Ebd., 56).
In der menschlichen Kommunikation dominiert die Beziehungsebene die Sachebene: „Der Inhaltsaspekt vermittelt die ’Daten’, der Beziehungsaspekt weist an, wie diese Daten aufzufassen sind“ (Ebd., 55). Diese Verstehensanweisungen (Ton, Betonung, Mimik, Gestik usw.) können jedoch auch mehrdeutig sein oder im Widerspruch zum Inhaltsaspekt stehen und somit gravierende Missverständnisse und vor allem Beziehungsprobleme verursachen. Dies gilt gerade auch für (das) Fremdsprachen(lernen)!
3. Axiom: „Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt“ (Ebd., 61).
Die Interpunktion von Ereignisfolgen bestimmt die Konstruktion der Wirklichkeit. Diskrepanzen auf dem Gebiet der Interpunktion, also wenn zwei Kommunikationspartner bzw. -partnerinnen ein und dieselbe Handlung in einen unterschiedlichen kausalen Zusammenhang bringen, sind häufig die Ursache für Beziehungskonflikte – auch in der Schule. Relevant für den Fremdsprachenunterricht ist auch die Tatsache, dass jede Kultur eigene Interpunktionsweisen hat, „die zur Regulierung dessen dienen, was (...) als ‘richtiges’ Verhalten betrachtet wird“ (Ebd., 58).
4. Axiom: „Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitige logische Syntax, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kommunikationen dagegen besitzen dieses semantische Potential, ermangeln aber die für eindeutige Kommunikationen erforderliche logische Syntax“ (Ebd., 68).
Watzlawick unterscheidet zwei Kommunikationsweisen, die sich in jeder Mitteilung ergänzen: während die digitale Kommunikation (z.B. Sprache) abstrakter und präziser ist, herrscht in der analogen Kommunikation (z.B. Zeichnung, Mimik, Gestik) eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem sowie eine allgemeinere Gültigkeit, was allerdings das Problem der Mehrdeutigkeit nach sich zieht. Inhaltsaussagen werden in der Regel digital vermittelt, Beziehungsaussagen dagegen vorwiegend analog, also nonverbal übertragen. Dies bedeutet, dass wir ständig von der einen „Sprache“ in die andere „übersetzen“ müssen, was häufig Verluste und Störungen verursacht (Ebd., 67) – besonders bei Fremdsprachen.
5. Axiom: „Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht“ (Ebd., 70).
Kommunizierende nehmen unterschiedliche Rollen ein. Diese sind häufig auch gesellschaftlich oder kulturell bedingt (z.B. Lehrer-Schüler-Beziehung) und beeinflussen den Kommunikationsablauf maßgeblich, und zwar im positiven wie im negativen Sinne (z.B. partnerschaftliche oder hierarchische Beziehung).
Die Kommunikationstheorie der Palo-Alto-Schule macht deutlich, dass menschliche Kommunikation aus dem Zusammenspiel von verbalen und nonverbalen Aspekten besteht und nicht eine „einfache Informationsübertragung“, sondern ein subjektiver und äußerst störanfälliger Konstruktionsprozess ist. Für das fremdsprachliche Klassenzimmer hat dieses Thema eine besondere Bedeutung, zumal Defizite in der Fremdsprache zusätzlich die Kommunikation erschweren können. Dies wird besonders deutlich, wenn Diskrepanzen zwischen Inhalts- und Formebene auftreten, also wenn sich Lernende mitteilen möchten, jedoch die Lehrkraft nur die sprachliche Korrektheit der Aussage berücksichtigt und nicht deren Inhalt oder gar die Beziehungsebene. Im Rahmen von Storyline-Projekten kann die geschilderte Problematik jedoch leicht entschärft werden, nämlich dadurch, dass die Lernenden vielseitige Formen der Kommunikation in einem authentischen Kontext praktizieren, dabei digitale und analoge Kommunikationsweisen verwenden, also neben Sprache ergänzend auch Bilder, Mimik, Gestik, Objekte usw. einsetzen und überdies unterschiedliche Rollen in Kommunikationssituationen einnehmen, um den erwähnten Perspektivenwechsel konkret erfahrbar zu machen. Darüber hinaus bietet die Arbeit in Gruppen zahlreiche Anlässe und Gelegenheiten, um zielgerichtete Metakommunikation in authentischen Situationen zu betreiben. Ob meine These tatsächlich stimmt bzw. auch auf das fremdsprachliche Klassenzimmer übertragen werden kann, sollen meine Fallstudien in Teil B zeigen.
3.3 Neuere Varianten und Kernthesen des Konstruktivismus
Man kann nur finden, wonach man sucht, nur das erfahren, wonach man fragt (von Ameln 2004, 163)
In den vorangegangenen Kapiteln wurden einige wichtige Vorläufer und Vordenker des Konstruktivismus aufgeführt, die bezeichnenderweise aus ganz unterschiedlichen Disziplinen stammen. In meinen Ausführungen bleiben ohne Zweifel Lücken; so kann beispielsweise auf die Gestaltpsychologen1 Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka der „Berliner Schule“, die frühen Gedächtnisexperimente von Bartlett (1932) oder auf die kognitiven Theorien der Wahrnehmung und des Verstehens von Neisser (1967), die alle ebenfalls als „semikonstruktivistische“ Ansätze betrachtet werden (Müller 1996b, 72), nur verwiesen werden.
Während noch vor einigen Jahren auf interdisziplinärer Ebene eine Grundsatzdiskussion um „den“ Konstruktivismus geführt wurde und dieser – auch im Bereich der Fremdsprachendidaktik – entweder abgelehnt oder befürwortet wurde, ist diese (beinahe feindselige) Auseinandersetzung mittlerweile deutlich abgeebbt, was nicht nur damit zu tun hat, dass neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung und anderen Forschungsbereichen einen entsprechenden Beitrag geleistet haben, sondern auch, dass zwischenzeitlich zahlreiche Versuche unternommen wurden, Begriffe zu definieren, Positionen zu erörtern sowie die diversen Ansätze zu systematisieren, um weitere Anlässe für Irritationen und Provokationen zu vermeiden.
Im inter- und intradisziplinären Dialog hat sich gezeigt, wie oben bereits angedeutet wurde, dass unter dem Begriff „Konstruktivismus“ ganz unterschiedliche und teilweise konträre Vorstellungen subsumiert werden, die stellenweise nicht der Sache entsprechen. Dabei wurde auch erkannt, dass es „den“ Konstruktivismus nicht gibt, sondern dass stattdessen in den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften eine bemerkenswerte Bandbreite an unterschiedlichen Ansätzen mit extremen und gemäßigten Positionen existiert, die sich ergänzen, überschneiden oder aber voneinander abgrenzen. So sind in den letzten Jahren neue Varianten entstanden, während etablierte Modelle weiter ausdifferenziert und modifiziert wurden. Zwischenzeitlich gibt es auch zahlreiche konstruktivistische Modelle in der Instruktionspsychologie und der Empirischen Pädagogik2, Entwürfe für einen so genannten Pädagogischen Konstruktivismus3, für eine so genannte Konstruktivistische Didaktik4 oder für eine so genannte Konstruktivistische Fremdsprachendidaktik5 sowie unzählige Konzepte und Methoden mit explizit bzw. implizit konstruktivistischen Positionen.6
Die diversen konstruktivistischen Ansätze beziehen sich auch nicht etwa auf eine gemeinsame theoretische Problemstellung, sondern stimmen – wie bereits angedeutet – in der folgenden erkenntnistheoretischen Grundüberzeugung überein:
1) Das, was wir als unsere Wirklichkeit erleben, ist nicht ein passives Abbild der Realität, sondern Ergebnis einer aktiven Erkenntnisleistung.
2) Da wir über kein außerhalb unserer Erkenntnismöglichkeiten stehendes Instrument verfügen, um die Gültigkeit unserer Erkenntnis zu überprüfen, können wir über die Übereinstimmung zwischen subjektiver Wirklichkeit und objektiver Realität keine gesicherten Aussagen treffen (von Ameln 2004, 3).
Allgemein gesprochen können die diversen Ansätze auf ihren Theoriekontext bezogen jedoch grob in zwei Bereiche aufgeteilt werden (Gerstenmaier/Mandl 1995, 868):
Der Radikale Konstruktivismus als Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie
Der Soziale Konstruktivismus bzw. Soziale Konstruktionismus