Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher
selbstbezügliche neuronale Tätigkeit im Sinne von unbegrenzten Errechnungsprozessen darstellt (von Ameln 2004). Dabei verweist er auch immer wieder auf das in der Wahrnehmungspsychologie klassische Experiment mit dem blinden Fleck: „Stets gilt es, so seine ethische Forderung, die eigenen blinden Flecken zu bedenken, die scheinbar endgültigen Aussagen in einem ernsten Sinn als eigenes Produkt zu begreifen und Gewissheiten in jeder Form und Gestalt – immer auf der Suche nach anderen, nach neuen Denkmöglichkeiten – in Zweifel zu ziehen“ (Pörksen 2001, 20).
Heinz von Foersters Konzepte weisen enge Bezüge zu Selbstorganisationstheorien3 wie Chaostheorie und Synergetik auf und gelten als wichtige Grundlagen der systemischen Praxis. Sein Bild der nicht-trivialen Maschine wird als Leitvorstellung für ein Menschenbild gesehen, „das die Komplexität der menschlichen Psyche würdigt und simplifizierenden, rationalistischen Vorstellungen entgegen tritt“ (von Ameln 2004, 91). Diese Vorstellung hat weitreichende Folgen für die Praxis der Menschenführung:
Eine Führungskraft, die die Organisation und die in ihr arbeitenden Menschen nach dem Bild der trivialen Maschine betrachtet, wird demnach eher nach Vereinheitlichung streben, verbindliche Regeln erlassen und mit Hilfe von Anweisungen und Sanktionen führen, während eine Führungskraft, die sich am Bild der nicht-trivialen Maschine orientiert, eher Unterschiede zulassen, nach Formen der Selbststeuerung streben und die Autonomie des Systems fördern wird (Ebd.).
Auf die Schule bezogen wird somit leicht nachvollziehbar, dass die Ursachen für Disziplin- und Lernstörungen (vgl. Kapitel 1.5) nicht zwangsläufig in den einzelnen Schülerinnen und Schülern zu suchen sind, sondern dass diese zu einem großen Teil auch durch die frontal gesteuerte Unterrichtsführung verursacht werden. In Storyline-Projekten dagegen werden die Lernenden nicht als triviale Maschinen gesehen, sondern als individuelle und wertvolle Persönlichkeiten, die im Austausch mit ihrer Arbeitsgruppe zum Gelingen eines Projekts beitragen: Unterschiede sind ausdrücklich erwünscht, denn sie führen zu kreativen und produktiven Lösungen innerhalb der Lernprozesse. Dies sollen meine Studien in Teil B näher beleuchten.
3.3.1.3 Ernst von Glasersfeld
Der Psychologe, Kybernetiker und Kognitionswissenschaftler Ernst von Glasersfeld1 hat die konstruktivistische Theoriebildung durch seine Philosophiegeschichte des Konstruktivismus, seine Beschäftigung mit Piagets Erkenntnistheorie und insbesondere durch sein Viabilitätskonzept beeinflusst, welches hier kurz erläutert werden soll. Auch von Glasersfeld geht in seinen Studien der Frage nach, wie wir eine stabile und verlässliche Welt erleben, wenn Wahrnehmung und Außenwelt nicht übereinstimmen. Dabei behilft er sich zunächst mit Vicos Standpunkt: „Wenn (...) die Welt, die wir erleben und erkennen, notwendigerweise von uns selber konstruiert wird, dann ist es kaum erstaunlich, daß sie uns relativ stabil erscheint. (...) Das heißt ganz allgemein, die Welt, die wir erleben, ist so und muß so sein, wie sie ist, weil wir sie so gemacht haben“ (von Glasersfeld 2002, 28f.).
Ernst von Glasersfeld stellt die These auf, dass wir erst durch die Stabilität der eigenen Wahrnehmung befähigt werden, uns in der Welt zu bewegen, das heißt, gewisse Erlebnisse zu verhindern oder verlässliche Vorhersagen zu treffen. Erkenntnis wird demzufolge „als Suche nach passenden Verhaltensweisen und Denkarten“ (Ebd., 37) betrachtet, also „nicht mehr als Suche nach ikonischer Übereinstimmung mit der ontologischen Wirklichkeit“ (Ebd.). Sie steht somit unter dem Vorzeichen der Nützlichkeit und ist als „Anpassungsleistung im funktionalen Sinne“ zu verstehen (von Ameln 2004, 94): Alles, was nicht passt, geht unter. Dieses Passungsverhältnis von Realität und Wirklichkeit wird mit dem Begriff „Viabilität“ umschrieben. Viabilität gilt jedoch nicht nur als Kriterium im Hinblick auf die Wirklichkeitskonstruktionen der Individuen, sondern auch für jegliche wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse. Somit verliert die Vorstellung einer objektiven Wahrheit im Radikalen Konstruktivismus ihre Bedeutung, denn es gibt keine unabhängige externe Instanz, die diese überprüfen oder belegen könnte.2
Überträgt man Ernst von Glaserfelds Viabilitätskonzept auf die Praxis (z.B. den Unterricht), so bedeutet dies, dass Toleranz und Respekt gegenüber anderen Menschen und deren Wirklichkeiten unter einem anderen Licht erscheinen, da es für ein beliebiges Problem nie nur eine mögliche bzw. die richtige oder falsche Lösung geben kann, sondern lediglich eine, die uns in einem Moment als passend erscheint, weil wir (noch) keine andere kennen. Dies gilt es nicht nur im Hinblick auf die individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse in heterogenen Klassen zu bedenken, sondern auch hinsichtlich der angestrebten interkulturellen kommunikativen Kompetenz im Bereich des Fremdsprachenlernens. Im Rahmen von Storyline-Projekten wird dieser Aspekt der Lernerorientierung explizit berücksichtigt, nämlich insofern als die so genannten key questions stets ergebnisoffene Fragen darstellen (vgl. Kapitel 2.3.2.2). So bringen die Lernenden für einen spezifischen Zwischenfall innerhalb der jeweiligen Geschichte (z.B. Krankheit) zunächst ihre eigenen Vorstellungen, Erfahrungen und Hypothesen ein, um mit ihren individuellen „Werkzeugen“ eigene „passende“ Lösungen zu entwickeln, die später diskutiert werden. Konkrete Belege sollen meine Fallstudien in Teil B liefern.
3.3.1.4 Niklas Luhmann
Der Soziologe1 Niklas Luhmann hat eine viel beachtete Gesellschaftstheorie – die so genannte Theorie sozialer Systeme (1984) – entworfen, die als eine der elaboriertesten konstruktivistischen Theorien in den Geistes- und Sozialwissenschaften gilt. Er vertritt zusammen mit Maturana (1987) und Varela (1987) die systemtheoretische Position innerhalb des Radikalen Konstruktivismus. Seine Arbeit basiert auf der soziologischen Systemtheorie von Talcott Parsons und weist einen starken Einfluss des von Maturana und Varela entworfenen Autopoiesis-Konzepts auf, das er später für seine eigenen „Konstruktionsversuche“ jedoch modifizierte. Seit etwa 1980 wurde die „autopoietische Wende“ in seiner Theorie immer deutlicher sichtbar, in seinem Hauptwerk Soziale Systeme (1984) versucht er schließlich, diesen ursprünglich biologisch geprägten Begriff in die Soziologie zu übernehmen (Reese-Schäfer 1996, 46). Luhmann (1984, 15) selbst spricht von einem „Paradigmawechsel in der Systemtheorie“ und erläutert in seiner hochkomplexen Theorie, wie sich soziale Systeme bilden, wie sie funktionieren und welchen Einflüssen sie unterliegen. Dabei ersetzt er zunächst die traditionelle Vorstellung, dass ein System aus einem Ganzen und seinen Teilen besteht, „durch die Grenzziehung zwischen System und Umwelt“ (Reese-Schäfer 1996, 98).
Bei Niklas Luhmann bestehen autopoietische Systeme – anders als bei Maturana – nicht aus zeitunabhängigen, stabilen Einheiten (z.B. Zellen), sondern aus Ereignissen mit minimaler zeitlicher Dauer (z.B. biochemische Reaktionen und elektrische Impulse). Ferner unterscheidet er drei verschiedene Typen autopoietischer Systeme mit jeweils eigenem Operationsmodus (von Ameln 2004, 190):
Systemtyp | Operationsmodus/Elemente | |
Lebende Systeme | → | Biochemische Vorgänge |
Psychische Systeme | → | Bewusstsein/Gedanken |
Soziale Systeme | → | Kommunikation |
Nach Niklas Luhmann besteht das soziale System nicht aus Menschen2 oder Handlungen, „sondern aus Kommunikationen, die erst in einem zweiten Schritt zerlegt und als Handlungen zugerechnet werden“ (Reese-Schäfer 1996, 103). Er verwendet den Kommunikationsbegriff im Sinne einer Relation aus Information, Mitteilung und Verstehen und verwirft die gängige Metapher der Informationsübertragung, „weil sie zu viel Ontologie impliziert. Sie suggeriert, daß der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil der Absender nichts weggibt in dem Sinne, daß er selbst es verliert“ (Luhmann 1984, 193). In seinen Augen ist eine Mitteilung jedoch stets nur als „ein Selektionsvorschlag, eine Anregung“ zu betrachten (Ebd., 194). Kommunikation kommt demzufolge erst dann zustande,