Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher


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Lager in zwei Teile aufgeteilt, während viele andere das Thema „Konstruktivismus“ in der Fremdsprachenforschung – warum auch immer – bis heute totschweigen.4 Dem gegenüber hat Wolff durch zahlreiche Publikationen versucht, sachliche Gründe für einen konstruktivistisch orientierten Fremdsprachenunterricht darzulegen (vgl. z.B. Wolff 1994; 1997b; 2000; 2001; 2002b). Auf internationaler Ebene dagegen vertreten im Bereich des Fremdsprachenlernens beispielsweise Nie/Lau (2010) und insbesondere Williams/Burden (1997) eine explizit konstruktivistische Perspektive (vgl. Kapitel 4.3.3.1.2).

      Der Konstruktivismus will und muss skeptisch betrachtet werden. Zweifelsohne. Er sollte nicht als Dogma, sondern vielmehr als inspirierende „Irritationstheorie“ genutzt werden (Pörksen 2006, 11), um gewisse Denktraditionen, Handlungsgewohnheiten und „Wahrheiten“ immer wieder neu zu überprüfen. Genau das beabsichtigt er nach meinem Verständnis auch. Und genau das hat er in der Vergangenheit auch getan: provoziert. Mittlerweile scheint dies nicht mehr in dem Ausmaß erforderlich zu sein. So betrachtet auch Roth (2003b) den Konstruktivismus, „was die erkenntnistheoretischen Fragestellungen betrifft (...) im positiven Sinne für ausdiskutiert“ (Ebd., 16)5, und Schmidt (2003) verabschiedet sich von naturalistischen Begründungsformen des Radikalen Konstruktivismus zugunsten einer kulturalistischen und philosophischen Erkenntnistheorie, die nach dem Sinn von Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungen fragt. Er geht davon aus, dass kulturelle Sinnstrukturen in Geschichten und Diskurse eingebettet sind: „Geschichten und Diskurse liefern Erwartungs- und Deutungsmuster für das Erleben und Erfahren der Aktarten, wodurch über Anschlussmöglichkeiten entschieden wird. Geschichten und Diskurse entstehen aus und bestehen durch Relationalität und Reflexivität“ (Ebd., 56).

      Viele Vertreterinnen bzw. Vertreter des Konstruktivismus (z.B. Ciompi, Roth und auch Maturana) verweisen auf die handlungsleitende Kraft der Gefühle. Dieses Thema wurde in meinen Ausführungen bisher nur ganz am Rande gestreift. So behauptet Maturana (1997, 130): „Wer den kulturellen Wandel zu erklären und zu verstehen wünscht, muß bei den Gefühlen ansetzen“. Er unterstreicht die emotionalen Grundlagen des Handelns und stellt die These auf, „daß allein Gefühle über den Sinn und die Bedeutung von Taten entscheiden“ (Ebd.).6 In diesem Sinne ist auch Kommunikation (als Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft) nie nur eine Verstandessache, sondern stets auch – oder besser: vor allem – eine Gefühlssache: Verstehen, Verständigung und Perspektivenverschränkung erfordern „nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch emotionale Antriebe“ (Siebert 2005, 26). Diesen Aspekt gilt es bei der Unterrichtsgestaltung und gerade auch beim Fremdsprachenlernen mit Bezug zur angestrebten interkulturellen kommunikativen Kompetenz viel stärker zu berücksichtigen.

      Dass der Konstruktivismus vielschichtig ist und sich in den vergangenen Jahren auch auffallend in Richtung eines sozialen und kulturalistischen Konstruktivismus weiter entwickelt hat, wird vielerorts, und vor allem von seinen Kritikern und Kritikerinnen, nicht wahrgenommen. Dies trifft meines Erachtens auch auf die Fremdsprachendidaktik zu, und das ist bedauerlich.

      Konstruktivistisches Denken mag an Grenzen stoßen, aber das tut letztendlich – wie auch die Geschichte zeigt – (fast) jede Theorie. Theoriediktate sind gefährlich und kontraproduktiv. Eine prinzipielle Skepsis ist also immer angebracht, da sie den Blick weitet. Dies betrifft vor allem soziale Konstruktionen, wenn diese von der Gesellschaft objektiviert und „wie naturgegebene Phänomene“ (von Ameln 2004, 198) betrachtet werden, „mit entsprechenden Folgen für reales Denken und Handeln“ (Ebd.). Ich denke hier vor allem an „Urteile“ in Bereichen wie (psychische) Gesundheit, Schicht-, Konfessions- oder Kulturzugehörigkeit, die beispielsweise auch im schulischen Kontext relevant sind. Dasselbe gilt natürlich auch für die individuellen Konstrukte, also die Wahrnehmungs- und Interpretationsfolien, mit deren Hilfe jeder und jede Einzelne die Welt betrachtet.

      Konstruktivistisches Denken löst fixierte Denkmuster auf und zieht letztendlich auch ethische Konsequenzen nach sich, denn der Verzicht auf eindimensionale Welterklärungen bedeutet gleichzeitig auch einen Verzicht auf Machtanspruch:7

      Mit keiner Bewertung ist in der Geschichte der Menschheit mehr Elend verantwortet worden als mit der Wahrheit. (...) Der zentrale Wert des im Konstruktivismus angelegten Menschenbildes ist die Autonomie. (...) Die Stärke des Radikalen Konstruktivismus liegt in der Notwendigkeit des bewußten und selbstverantwortlichen Umgangs mit sonst nur allzuoft unhinterfragten Grundannahmen (Kruse/Stadler 1990, 44).

      Konstruktivistisches Denken erlaubt, fördert und fordert divergentes und kreatives Denken. Dies sollte auch im Zusammenhang mit Erneuerung, Pluralismus, Respekt, Friedfertigkeit, Solidarität und Toleranz sowie den dafür erforderlichen bzw. immer wieder geforderten Kompetenzen gesehen und wertgeschätzt werden (vgl. Kapitel 1.6). Mit Beliebigkeit hat dies meines Erachtens wenig zu tun, sondern im Gegenteil verlangt konstruktivistisches Denken eine neue Dimension von anspruchsvollen Qualitäten wie Eigenverantwortlichkeit, Selbstorganisation, Selbstmotivation, Reflexionsvermögen, (Selbst-)Kritikfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Interaktions- und Diskursfähigkeit, was zweifelsohne eine große Herausforderung – vor allem auch für die Schule – darstellt.

      Auch wenn von manchen Zeitgenossinnen bzw. -genossen8 moniert wird, dass es im Konstruktivismus keine einheitliche und in sich schlüssige Theorie gäbe, um überhaupt von einem ernstzunehmenden Ansatz sprechen zu können, so ist doch verwunderlich, dass diese angeblich unsolide Basis seit Jahren als Sprungbrett für viele anregende Diskussionen in der Wissenschaftslandschaft und unzählige erfolgversprechende Modelle in der pädagogischen Praxis dient: „Konstruktivismus muss Vielfalt ermöglichen, dies ist in seinem theoretischen Kern eingeschrieben, aber er bietet auch ein hinreichendes konstruktives, methodisches und praktisches Repertoire, um wissenschaftlich relevante, neue Ergebnisse zu erzielen“ (Reich 2012, 92). Auf die Schule und das Fremdsprachenlernen bezogen, mit den in vielerlei Hinsicht heterogenen Klassen, ergibt sich daraus ein ganz neues Bild: Wenn nämlich die vielfältigen individuellen und/oder sozialen Konstruktionen bzw. Konstrukte als jeweils viable Lösungen und Lösungsversuche ernstgenommen und reflektiert werden, dann könnte sich das möglicherweise positiv auf den Lernerfolg und die Bildungsmotivation der Schülerinnen und Schüler auswirken! Ob und inwiefern der Storyline Approach im fremdsprachlichen Klassenzimmer der Sekundarstufe I einen Beitrag dazu leisten kann, sollen meine Fallstudien in Teil B zeigen.

      3.4 Von der Theorie zur Praxis oder vice versa

      I hear and I forget, I see and I remember, I do and I understand (Chinesisches Sprichwort)

      In der traditionellen Unterrichtslehre geht es vor allem darum, wie Unterricht geplant, gesteuert und organisiert werden muss, damit die Lehrkraft die Kontrolle über den (angeblichen) Lernprozess in der Hand behält und den Stoff ungestört „vermitteln“ kann. Wie jedoch die unmittelbar vorangegangenen Kapitel verdeutlicht haben, ist die besagte „Informationsübertragung“ nach dem Input-Output-Prinzip (Computermetapher) so nicht möglich, da Menschen keine steuerbaren „trivialen Maschinen“ sind. Aus diesem Grund muss das Lehren zugunsten des Lernens in den Hintergrund treten, so dass die Lernenden ihre eigenen Konstruktionsprozesse aktiv vollziehen können und somit ihr Wissen nicht „träge“ bleibt, sondern im Alltag – auch im fremdsprachlichen – zur Anwendung gelangen kann, also transferfähig ist.

      In den vergangenen Jahren wurde von verschiedenen Seiten der Versuch unternommen, eine konstruktivistische Didaktik zu entwickeln, die den zuvor genannten Forderungen entspricht.1 Im Bereich der Fremdsprachendidaktik ist das Vorhaben, eine eigene konstruktivistische Fremdsprachendidaktik2 zu konzipieren, aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch verlaufen. Nicht unerwähnt bleiben sollte dabei, dass der Radikale Konstruktivismus nie den Anspruch erhoben hat, als Lerntheorie – im Sinne eines allgemeingültigen Rezeptes – übernommen zu werden, zumal er sich dadurch selbst widersprechen und auflösen würde, sondern vielmehr als Anregung verstanden werden will, die eigenen Positionen und Grenzen der Instruktion zu überdenken. Dies wurde von Vertretern wie Ernst von Glasersfeld immer wieder ausdrücklich betont: „Die Annahme lautet vielmehr, dass sie [die allgemeinen Postulate, Anm. D.K.] praktisches Handeln inspirieren, dieses jedoch nicht im Modus linear-kausaler Einflussnahme determinieren (Ableitungsverhältnis)“ (Pörksen 2006, 325).

      Nachfolgend sollen einige Kernthesen und Anregungen


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