Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher
Lernangeboten geschaffen werden, in der die Lernenden „ihre individuellen Erfahrungen gewinnen, die sie durch eine aktive Auseinandersetzung in der Lerngruppe für sich verständlich machen und in ihr Vorwissen einbauen“ (Dubs 1995, 890). Das Klassenzimmer wird zur „Lern- und Forschungswerkstatt“ (Wolff 2000, 104), in der mit authentischen Materialien und realitätsnahen Kommunikationssituationen an komplexen, ganzheitlichen und lebenswirklichen Problemstellungen gearbeitet wird, so dass die Lernenden vielseitige Anknüpfungspunkte an ihre bisherigen Erfahrungen und Wissenskonstruktionen vorfinden und ihr deklaratives und prozedurales Wissen in relativ authentischen Situationen anwenden und neu konstruieren können. Durch handlungsorientierte Arbeitsweisen (learning by doing) soll die oben erwähnte Kluft zwischen Wissen und Handeln vermieden und die Transferfähigkeit erhöht werden. Dabei sollten nicht nur die kognitiven Aspekte des Lernens berücksichtigt werden, sondern – da sich diese bekanntlich gegenseitig bedingen – auch emotionale6 und soziale. Konkret bedeutet das auch, dass die räumliche Lernumgebung ästhetisch gestaltet sein sollte, in der sich die Lernenden wohl fühlen und zum autonomen Lernen und kreativen Experimentieren inspiriert werden.7
Sozialformen: Wenn Lernprozesse und Wissenskonstruktionen maßgeblich auch durch soziale Interaktionen und Kommunikation bedingt werden, so dass individuelle Wirklichkeitsentwürfe, Interpretationen und Sinngebungen bewusst gemacht, überdacht und gegebenenfalls neu strukturiert werden, dann müssen das kooperative und soziale Lernen stärker gefördert und vielfältige Gelegenheiten zu Austauschsituationen gegeben werden. Dies kann in Form von Gruppen- oder Partnerarbeit (learning communities; Expertenteams) geschehen, aber auch durch außerschulische Kontakte sowie durch den Einsatz Neuer Medien, welche gänzlich neue Wissens- und Interaktionshorizonte öffnen. Dementsprechend verändert sich in einer konstruktivistischen Lernumgebung auch die Sitzordnung, der individuelle Lernort, die Rhythmisierung der Arbeitsphasen, die Rollen- und Aufgabenverteilung sowie der Einsatz von Medien. Dabei kann und soll auch die Lehrkraft als Lernpartnerin fungieren und die Lernenden bei ihren subjektabhängigen Konstruktionsprozessen anregen, beraten und unterstützen – allerdings nicht als Problemlöserin, sondern als Problemstellerin (Müller 1996b, 75).
Arbeitsmaterialien: Um eigenverantwortlich und eigenständig arbeiten zu können, brauchen die Lernenden entsprechende Hilfsmittel, die sie bei der individuellen und aktiven Konstruktion von Wissen unterstützen: Nachschlagewerke, Handbücher, vielseitiges authentisches Informations- und Arbeitsmaterial sowie weitere high tech und low tech Medien und Materialien jeglicher Art, die zur freien Wahl stehen und zum kreativen Arbeiten und Lernen herausfordern. Durch den sinnvollen und kritischen Umgang mit Medien und das eigene Ausprobieren und Gestalten von Medienprodukten erlangen die Lernenden eine vielseitige Medienkompetenz sowie die Erkenntnis, dass nicht nur die Umwelt, sondern auch Medienprodukte stets subjektabhängig wahrgenommen, genutzt und bewertet werden (vgl. Kapitel 1.6.2.1). In vielerlei Hinsicht unterstützend sind auch Gegenstände und Objekte, die von den Lernenden benutzt bzw. produziert werden, um ihre Ideen zu veranschaulichen: “This can help to support and sustain the discourse and (...) by making ‘cognition’ concrete, it may help students reflect on their own and others’ thinking. The production of artifacts may help students increase their efficacy for learning as well as increase their interest in the academic content and tasks“ (Schunk u.a. 2010, 329).
Lern- und Arbeitstechniken: Die Lernenden sollten befähigt und gefördert werden, eigene Wissenskonstruktionsprozesse, Lernwege und individuelle Lernstrategien bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren und zu beurteilen, um sie gegebenenfalls – im Sinne der Viabilität – modifizieren zu können: „Die Reflexion über den eigenen Lernprozess ermöglicht es den Lernenden, aus einem Angebot von Lern- und Arbeitstechniken diejenigen auszuwählen, die den eigenen Lernprozess besonders gut unterstützen“ (Wolff 1997a, 108). Um jedoch ein vielseitiges und flexibles strategisches Wissen zu erlangen, das den eigenen Lernprozessen förderlich ist, muss das Lernen als Prozess der Wissensverarbeitung gelernt werden (Lernen lernen). Diese Prozessorientierung im Sinne einer umfassenden Handlungskompetenz soll sich im (Fremd-)Sprachenunterricht jedoch nicht allein auf allgemeine Lernprozesse und Lernstrategien konzentrieren, sondern auch Prozesse der Sprachverarbeitung bewusstmachen und fördern (language awareness).8Betrachtet man die derzeit vorliegenden Ergebnisse aus der Gedächtnisforschung, so liegt es nahe, ganzheitliche, multimodale und multisensorische Arbeitsweisen anzubieten, um möglichst viele Hirnareale bzw. neuronale Vernetzungen anzuregen, flexibles Denken und vor allem nachhaltiges Handeln zu fördern.9
Rollenverständnis: Im Rahmen des selbstgesteuerten und eigenverantwortlichen Lernens verändern sich zwangsläufig die Rollen aller Beteiligten, und das Repertoire der Lehrenden und Lernenden erweitert sich erheblich: Lehrerinnen und Lehrer akzeptieren und fördern die grundsätzliche Autonomie und die individuellen Initiativen der Lernenden, das heißt, sie organisieren Interaktionen, vermitteln bei sozialen Lernprozessen, unterstützen bei der Informations- und Materialsuche, beraten bei der Entwicklung von individuellen Lernstrategien und fördern metakognitive Prozesse der Wissenskonstruktion. Sie geben keine fertigen und für alle verbindlichen Lösungen vor, sondern sorgen dafür, dass „Fehler“, Hypothesen und „Wahrheiten“ diskutiert und kritisch reflektiert werden. Lehrkräfte fungieren nicht mehr als sage on the stage, sondern vielmehr als guide on the side. Sie werden zu classroom managers, coaches und facilitators of learning, also zu beobachtenden und anregenden (perturbierenden) Lernberaterinnen und -beratern. Schülerinnen und Schüler dagegen nehmen nicht mehr passiv und kritiklos „präsentiertes“ Wissen an, um dieses möglichst punktgenau zu reproduzieren: Aus stummen Konsumentinnen und Konsumenten fremden Wissens werden experimentierfreudige Forscherinnen und Forscher, die ihr eigenes Wissen aktiv, kritisch und autonom konstruieren und reflektiert anwenden. In einer konstruktivistischen Lernumgebung sind die Lernenden die Akteure, nicht wie üblich die Lehrenden.Was den Erwerb von Fachwissen anbelangt, so werden an die Lernenden neue Herausforderungen gestellt, die von Gerstenmaier und Mandl (1995) konsequent zu Ende gedacht werden: Schülerinnen und Schüler müssen lernen, mit Wissen verantwortungsvoll umzugehen, die Folgen von Wissen und seiner Anwendung zu reflektieren, Tatsachen und gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen, Ziele und Werte anderer Menschen zu respektieren, und neben den persönlichen, auch kollektive Belange zu berücksichtigen. Im Falle des Fremdsprachenunterrichts deckt sich diese Perspektive mit den Anforderungen an eine umfassende interkulturelle kommunikative Kompetenz.
Reflexion und Evaluation: Wenn eigene Wissenskonstruktionen, und nicht etwa Wissensreproduktionen, angestrebt werden, dann ergeben sich daraus prinzipiell unvorhersagbare und heterogene Lernprodukte und Lernprozesse: eine Unterteilung der Lösungen in „richtig“ und „falsch“ wird dabei äußerst fragwürdig. Daraus folgt, dass bei der Evaluation des Lernerfolgs nicht primär die Lernprodukte, sondern auch die individuellen Lernprozesse und Lernfortschritte berücksichtigt werden sollten. Dabei spielen auch „Fehler“ eine wichtige Rolle, da sie Aufschluss über individuelle Lernschritte und -wege geben. Fehler implizieren konkrete Lernchancen:10 „Diskussionen in Lerngruppen sind nur sinnvoll, wenn Fehler geschehen und diese besprochen und korrigiert werden, denn die Auseinandersetzung mit Fehlüberlegungen wirkt verständnisfördernd und trägt zur besseren Konstruktion von Wissen bei“ (Dubs 1995, 891). Dies gilt auch für den Fremdsprachenunterricht. Deshalb sollte die Risikobereitschaft der Lernenden herausgefordert und nicht durch übermäßige sprachliche Korrekturen „erdrosselt“ (Bleyhl 2000, 8) werden.Selbstreflexions- und Selbstevaluationsprozesse stellen einen besonders wichtigen Faktor dar: Sie unterstützen die Lernenden darin, ihre Lernprozesse zu erkennen und darauf aufbauend auch beeinflussen zu können. Deshalb sind Reflexionsphasen (auch Selbst- und Fremdevaluation im Sinne von reflecting teams) bedeutsame „Lernmotoren“.Die Frage nach der Leistungsmessung und Benotung kann an dieser Stelle nicht erschöpfend berücksichtigt bzw. beantwortet werden. Vermutlich scheint dieser Punkt der Ursprung allen Übels in unserem Schulsystem zu sein:11 Leistungsorientierung versus Lernorientierung – im Prinzip ein Widerspruch. Konsequenterweise muss in die Beurteilung von Lernerfolg und Lernprozessen selbstverständlich auch die Bewertung der Betroffenen selbst mit einfließen, und genauso selbstverständlich sollten Kriterien gemeinsam entwickelt werden und zu jeder Zeit transparent sein. Noten haben hier meines Erachtens allerdings wenig Aussagekraft und sind häufig eher kontraproduktiv.12 Im Gegensatz zum üblichen “assessment of learning“ (Nunan