Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher

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und festlegen wollen, was tatsächlich und objektiv der Fall ist –, betreten wir eine Welt des Diskurses“ (Ebd., 276). Eine ähnliche Position vertreten Baecker, Borg-Laufs, Duda und Matthies (Baecker u.a. 1992). Dennoch sind hier Parallelen zum Radikalen Konstruktivismus erkennbar, wie die folgenden Zitate verdeutlichen: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ (Maturana 1998, 25). Oder: „Wenn immer man denkt oder sagt: es ‘gibt’ eine Sache, es ‘gibt’ eine Welt, und damit mehr meint als nur, es gibt etwas, das ist, wie es ist, dann ist ein Beobachter involviert“ (Luhmann 1990, 62). Auch Singer (2002) spricht bekanntlich von einem „Beobachter im Gehirn“.

      Der deutlichste Unterschied zwischen den beiden Ansätzen besteht laut Baecker u.a. (1992, 119) darin, „daß Radikale KonstruktivistInnen sich für intrapsychische Prozesse (...) interessieren und dort den Ursprung von Wirklichkeitskonstruktionen sehen, wogegen social constructionists sich nur für interpsychische Prozesse, d.h. für Formen und Inhalte des Diskurses zwischen den Individuen interessieren“. Aus der Sicht des Radikalen Konstruktivismus sind Individuen autonom, also nicht gezielt beeinflussbar. Dies steht im Widerspruch zu der „sozial konstruktionistischen Annahme einer sozialen Determiniertheit“ (Ebd., 128). Andererseits wird auch von Vertretern und Vertreterinnen des Radikalen Konstruktivismus die Bedeutung der sozialen und sprachlichen Interaktion sowie der Einfluss des sozio-kulturellen Kontexts auf die Entwicklung kognitiver Strukturen nicht (wie oft kritisiert) grundsätzlich verneint, sondern – wenn auch zum Teil auf einer anderen Ebene – mit berücksichtigt (vgl. z.B. von Foerster, Luhmann oder Maturana).

      Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt darin, dass der Soziale Konstruktivismus keine explizit erkenntnistheoretischen Aussagen oder gar einen „empirischen Nachweis der Konstruiertheit von ‘Tatsachen’“ anstrebt (Knorr-Cetina 1989, 88), wie dies beispielsweise Maturana oder Roth durch die empirische Verankerung des Radikalen Konstruktivismus in der Biologie tun. Besagte neurobiologische Argumentation wird allerdings häufig als äußerst problematisch befunden und hat in der Vergangenheit nicht selten zur unreflektierten Ablehnung sämtlicher konstruktivistischer Ansätze geführt.1

Kognitivistischer Konstruktivismus Sozialer, kulturalistischer Konstruktivismus
Individuum Gesellschaft
Lebenslauf Lebenswelt
Verstehen Verständigung
Beobachtung Perspektivenverschränkung
Erkennen Handeln
Sprechen Sprache
Kognitive Selbststeuerung Soziale Zugehörigkeit
Operationale Geschlossenheit Strukturelle Koppelung

       Tab. 2:

      Individueller und sozialer Konstruktivismus (Siebert 2005, 25)

      Auch wenn sich Autoren wie Gergen explizit vom Radikalen Konstruktivismus distanzieren, gibt es wiederum andere, wie die Bochumer Arbeitsgruppe um Baecker, die sich bemüht haben, beide Perspektiven zu vereinigen, was mir sinnvoll und gerade aus sozial-konstruktivistischer Sicht auch logisch und konsequent erscheint. Durch die Vereinigung der beiden Ansätze und der beiden unterschiedlichen Menschenbilder haben Personen „die Möglichkeit, auf Perturbationen individuell und selbstbestimmt zu reagieren, ihre eigenen Vorstellungen zu reflektieren und zu manipulieren; sie sind nicht einer unabänderbaren Wirklichkeit ausgeliefert“ (Baecker u.a. 1992, 130). Diese erweiterte Position ist sicher unterstützenswert, denn sie scheint mir – auch für die Schule – eine konstruktive Perspektive zu bieten!

      3.3.3.2 Zur Kritik am Konstruktivismus

      Der Konstruktivismus war in den vergangenen Jahren immer wieder das Ziel von teils heftiger Kritik aus verschiedenen Richtungen, wobei meist wenig zwischen den einzelnen Ansätzen und Positionen differenziert wurde, und man unterstellen könnte, dass manchen nicht immer bewusst war, dass es tatsächlich unterschiedliche Konzepte gibt. Dies wird auch von Reich (2012, 91) bemängelt: „Besonders peinlich ist die Rezeption in der Pädagogik. Hier wurde der Konstruktivismus z.B. entweder aus der Sicht der Systemtheorie bewertend als weniger lesenswert abgewertet (...) oder nur rudimentär dargestellt“. Im gleichen Zug hebt Reich hervor, dass im deutschen Sprachraum „die Bedeutung des Konstruktivismus in den Sozial- und Kulturwissenschaften (...) noch unterschätzt“ wird (Ebd.). Mit ein Grund dafür mag sein, dass es für Außenstehende nicht immer leicht ist, die einzelnen – zum Teil auch widersprüchlichen bzw. gegensätzlichen – Theorien einzuordnen und die – zum Teil hochkomplexen – Gedankengänge nachzuvollziehen.1 Reich (2012) hat sicher nicht unrecht mit seiner Behauptung:

      Es setzt zudem ein gehöriges Literaturstudium voraus, wenn man sich mit der Fülle gerade auch impliziter Konstruktivismen vertraut machen und deren Bedeutung in den wissenschaftlichen Diskursen der Gegenwart einschätzen will. Erschreckend naiv und willkürlich verfährt daher mitunter die Kritik am Konstruktivismus, sofern sie ihn nicht in der Breite seiner Ansätze rezipiert und nicht hinreichend den erkenntnistheoretischen Status seiner Ansätze markiert (Ebd., 91).

      Diese aus Sicht des Konstruktivismus erforderlichen Konstruktionsprozesse (mit den entstehenden Unschärfen) sowie die Verabschiedung von traditionellen Verfahren und Ansätzen mit Universalitätsanspruch stellen sicher eine große Herausforderung dar, aber auch eine große Chance und Bereicherung. Der Konstruktivismus fordert zur Trans- und Interdisziplinarität auf. Dies erfordert zwangsläufig einen intensiven Diskurs, so dass die Diskussionen um angeblich „fundamentale Denkfehler im Konstruktivismus“ (Unger 2003, 101) letztendlich ihr Ziel erreicht haben, nämlich die intensive Auseinandersetzung mit konkurrierenden Theorien und Konstruktionen von Wirklichkeit anzuregen, die schließlich zu der Erkenntnis führen (müsste), dass es „die“ absolute Wahrheit nicht gibt, sondern viele mögliche Perspektiven und zahlreiche Grauzonen.2

      Auf Grund von einseitigen und zum Teil auch lückenhaften Interpretationen wurden in der Vergangenheit konstruktivistische Ansätze als Ganzes (auch im Bereich der Fremdsprachen) immer wieder abgelehnt, obwohl es in der therapeutischen, sozialen und ebenso in der pädagogischen Praxis kurioserweise schon seit vielen Jahren zahlreiche erfolgreiche Modelle gibt, die explizit oder implizit auf konstruktivistischen Ansätzen aufbauen bzw. von Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis heraus entwickelt wurden (wie z.B. der Storyline Approach), ohne jemals ein Wort über den Konstruktivismus gehört zu haben. Dies ist für mich mit ein Grund dafür, warum konstruktivistisches Denken auch in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften mehr Berücksichtigung finden sollte, und zwar im Sinne einer aufeinander abgestimmten Vernetzung von Theorie und Praxis und der Nutzung der sich daraus ergebenden Synergieeffekte. Wie dies erfolgen könnte, möchte ich in meinen Fallstudien 7-9 untersuchen.

      Kritik am Konstruktivismus bezieht sich bei genauerer Betrachtung meist auf den Radikalen Konstruktivismus, und speziell an der Gewichtung der Neurobiologie scheiden sich offenbar die Geister. Oft werden Vorwürfe wie Fundalismus, Egozentrismus, Biologismus, fehlende Empirie bzw. individuelle Ausgestaltung von Erlebniswirklichkeiten und Beliebigkeit in Bezug auf gesellschaftliche und persönliche Wertmaßstäbe geäußert. Ferner wird die Erklärung der Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Realität sowie System und Umwelt oft als mangelhaft kritisiert. Die Kritikpunkte müssen hier nicht im Einzelnen dargelegt werden, zumal einiges schon im Text berücksichtigt und vieles auch im öffentlichen Diskurs geklärt wurde.3

      Im Bereich der Fremdsprachendidaktik fand hierzulande um die Jahrtausendwende eine intensive und zum Teil auch recht feindselige Auseinandersetzung um den Radikalen Konstruktivismus insbesondere zwischen


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