Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher
entwickelt haben.7 In den folgenden Kapiteln werden einige Ansätze des Radikalen und Sozialen Konstruktivismus vorgestellt, da sie eindeutige Bezugspunkte zum Lernen nach dem Storyline Approach aufweisen. Ferner werden einige ihrer jeweiligen Hauptvertreterinnen bzw. -vertreter und deren Kernthesen genannt. Auf Grund der Komplexität der einzelnen Theorien und Modelle kann hier keine ausführliche Darstellung und Diskussion der unterschiedlichen Perspektiven erfolgen.
3.3.1 Der Radikale Konstruktivismus
Der Radikale Konstruktivismus1 – sein Name ist Programm – wird häufig als Prototyp des konstruktivistischen Denkens bezeichnet, zumal er quasi als Sprungbrett und Quelle der Inspiration für eine Vielzahl von weiteren Ansätzen gilt. Da dieser Ansatz für die Gestaltung von Lernumgebungen eine Reihe äußerst relevanter Erkenntnisse vermittelt, die in der Vergangenheit jedoch teilweise missverstanden und somit zum Streitpunkt wurden, möchte ich hier etwas differenzierter vorgehen als bei den sozial-konstruktivistischen Positionen, die später vorgestellt werden (vgl. Kapitel 3.3.2).
Der Radikale Konstruktivismus ist keine eigene Wissenschaftsdisziplin oder in sich geschlossene Erkenntnistheorie, sondern „eine disziplinübergreifende erkenntnistheoretische Plattform, die dem etablierten Paradigma des Realismus (...) entgegen tritt“ (von Ameln 2004, 187) und zum Teil auf den zuvor erwähnten frühen Forschungsarbeiten aufbaut. Dabei bemühen sich die einzelnen Vertreterinnen und Vertreter um eine „Theorie des Wissens“, und nicht etwa um eine „Theorie des Seins“, wie Ernst von Glasersfeld (1992, 34) immer wieder explizit betont. Den radikalen Konstruktivisten geht es um das Verhältnis, in dem Wissen zur Welt und zur Wirklichkeit steht, also um die Frage, „was Wissen ist und woher es kommt“ (von Glasersfeld 1993, 23, Zit. nach Gerstenmaier/Mandl 2000, 4), oder mit den Worten von Paul Watzlawick, der hier für den Begriff „Wirklichkeitsforschung“ (Watzlawick 2002, 10) plädiert: „Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben?“2.
Zu den Begründern des Radikalen Konstruktivismus zählen insbesondere Heinz von Foerster (1911-2002), Ernst von Glasersfeld (1917-2010) sowie Humberto R. Maturana (1928-) und sein Mitarbeiter Francisco J. Varela (1946-2001). Ein weiterer einflussreicher Vertreter ist zweifelsohne Niklas Luhmann (1927-1998). Paul Watzlawick (1977; 2002) war es schließlich, der den Radikalen Konstruktivismus in Deutschland populär gemacht hat. Als weitere wichtige Konstruktivisten im deutschen Raum gelten vor allem die Hirnforscher Gerhard Roth (1997; 2001; 2003a; 2003b; 2006; 2009) und Wolf Singer (2002; 2006) sowie der Philosoph, Literatur- und Medienwissenschaftler Siegfried J. Schmidt (Hrsg.) (1987; 1992a; 1992b), welcher sich später jedoch vom Radikalen Konstruktivismus etwas distanziert hat.3
Siebert (2005) gelingt es, die diversen Forschungsergebnisse und Strömungen zusammenzufassen und mit wenigen Worten eine aussagekräftige Kernthese des Konstruktivismus zu formulieren, die für unseren Kontext zunächst ausreichen soll:
Menschen sind autopoietische, selbstreferenzielle, operational geschlossene Systeme. Die äußere Realität ist uns sensorisch und kognitiv unzugänglich. Wir sind mit der Welt lediglich strukturell gekoppelt, d.h., wir wandeln Impulse von außen in unserem Nervensystem ‘strukturdeterminiert’, d.h. auf der Grundlage biografisch geprägter psycho-physischer kognitiver und emotionaler Strukturen, um. Die so erzeugte Wirklichkeit ist keine Repräsentation, keine Abbildung der Außenwelt, sondern eine funktionale, viable Konstruktion, die von anderen Menschen geteilt wird und die sich biografisch und gattungsgeschichtlich als lebensdienlich erwiesen hat. Menschen als selbst gesteuerte ‘Systeme’ können von der Umwelt nicht determiniert, sondern allenfalls perturbiert, d.h., ‘gestört’ und angeregt werden (Ebd., 11).
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Existenz einer „Realität“ von den Konstruktivisten geleugnet wird, sondern lediglich, dass alles, was wir von einer äußeren Realität wissen, unsere eigenen Konstruktionen sind, die in sozialen Kontexten „als Ko-Konstruktionen“ stattfinden (Terhart 1999, 18). Dieser Aspekt ist in der Vergangenheit oft missverstanden worden.
Die Grundideen des Radikalen Konstruktivismus sind nicht neu (vgl. Kapitel 3.2). Neu dagegen sind die Begründungen, die mit der oben aufgeführten Kernthese zusammenhängen. Diese lassen sich auf die drei Argumentationslinien aus Gehirnphysiologie, Kognitionswissenschaften und Systemtheorie zurückführen (Gerstenmaier/Mandl 1995), wobei der Neurobiologie eine besondere Rolle zukommt, da durch sie die Grundthesen des Radikalen Konstruktivismus naturwissenschaftlich bzw. empirisch fundiert werden. Nachfolgend sollen nun einzelne einflussreiche Positionen der „Gründerväter“ erörtert werden, um später entsprechende Ableitungen für förderliche Lernumgebungen formulieren zu können.
3.3.1.1 Humberto M. Maturana und Francisco J. Varela
Der chilenische Biologe und Neurokybernetiker Humberto R. Maturana1 und sein Mitarbeiter Francisco J. Varela entwickelten die Autopoiesis-Theorie, die einen wesentlichen Baustein innerhalb des konstruktivistischen Denkgebäudes darstellt. Maturana betrachtet das menschliche Nervensystem als operational geschlossenes System, das von außen zwar Energie (Quantität), jedoch keinerlei Informationen oder Inhalte (Qualität) aufnimmt, und letztendlich selbst entscheidet, ob es sich durch einen äußeren Reiz anregen lässt. Seine Kernaussage lautet, „dass autopoietische Systeme nicht gezielt von außen beeinflussbar sind“ (von Ameln 2004, 188).
Die oben erwähnte strukturelle bzw. soziale Kopplung ist eng an sprachliche Interaktionen gebunden, jedoch ist Sprache in Maturanas Augen „kein System der Kommunikation mit Hilfe abstrakter Symbole, sondern ein System von Orientierungsverhalten zwischen informationell geschlossenen Organismen“ (Ebd., 74). Nach Maturana ist uns die Welt nur über Beobachtung zugänglich, und diese ist stets an Sprache gebunden. Aus diesem Grund ist es uns nicht möglich, von Beobachtung und Sprache unabhängige – also objektive – Aussagen über die äußere Realität zu machen. Sprache wird somit ein rein konnotativer Charakter zugeschrieben, das heißt, Maturana wendet sich von der lange Zeit gängigen Vorstellung ab, dass Sprache ein denotatives Zeichensystem ist und der Übermittlung von Informationen über eine unabhängige Außenwelt dient. Statt einer Informationsübertragung findet also eine stets kontextabhängige Informationskonstruktion innerhalb der kognitiven Bereiche von autopoietischen Systemen statt. Dies dient „dem Aufbau eines gemeinsamen konsensuellen Bereiches“ (Ebd.). Konsens über die Beschaffenheit der Umwelt entsteht jedoch allein auf der Grundlage von Sozialisationsprozessen, die die Mitglieder einer Gesellschaft durchlaufen, sowie der kulturellen Konventionen einer Gesellschaft (Wolff 1994, 412). Maturana und Varela (1987) stellen den Erkenntnisprozess als Verkettung von Handlung und Erfahrung dar: „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun“ (Ebd., 32).2 Sie sprechen von der „Zirkularität“ (Ebd., 31) zwischen Erfahrung, Handlung und Wissen.
Die radikale Autopoiesis-Theorie fand nicht nur Zuspruch, sondern stieß auch auf heftige Kritik3, die Maturana zum Teil in die Fortentwicklung seiner Theorie aufgenommen hat. Zweifelsohne haben Maturanans Thesen weitreichende Konsequenzen für die systemische Praxis (z.B. die Schule): Dadurch dass Interventionen oder Instruktionen offensichtlich nur eine begrenzte Wirkung haben, verliert die Lehrkraft ihren „privilegierten Status überlegenen Wissens“ (von Ameln 2004, 189) und wird allenfalls zur „perturbierenden“ Expertin und Beobachterin, die zum Lernen und (Selbst-)Beobachten anregt. Eigenverantwortlichkeit, Eigendynamik und Selbstorganisation von Systemen gewinnen dagegen einen wesentlich höheren Stellenwert, als dies im regulären Unterricht bisher berücksichtigt worden ist, und fordern verstärkt autonome und selbstorganisierte Lernformen, wie dies beispielsweise in Storyline-Projekten vorgesehen ist (vgl. Kapitel 2.3.3.5). Wie dies im fremdsprachlichen Klassenzimmer realisiert werden kann, sollen meine Fallstudien untersuchen (vgl. Teil B).
3.3.1.2 Heinz von Foerster
Der Biophysiker und Kognitionswissenschaftler Heinz von Foerster1 suchte bereits in den frühen 1960er Jahren nach Lösungen für das Problem der Selbstorganisation und erkannte offensichtlich sehr früh das Innovationspotenzial der Kybernetik. Er bezieht sich in seiner Arbeit auf Maturanas These der operationalen Geschlossenheit kognitiver Systeme und geht der Frage nach, wie bei geschlossenen neuronalen Prozessen „das Erleben einer stabilen Wirklichkeit“ zustande kommt (von Ameln 2004, 85). Seine These