Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher


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bedeutet also nicht, „fertiges Wissen rezeptiv zu übernehmen, sondern die Wege, auf denen Wissen entsteht, selbst zu gehen“ (von der Groeben 2006, 166). Diese Einsicht ist beileibe nicht neu, sondern „gilt längst als wissenschaftliches Allgemeingut. Aber in den vielen Schulen, vielleicht den meisten, ist sie noch lange nicht angekommen. Man weiß zwar, dass Lernen eigentlich ‘anders’ sein, nachhaltiger sein müsste, aber im Schulalltag dominieren die alten verkrusteten Strukturen und Paukmechanismen“ (Ebd.). Dies trifft offensichtlich auch auf den Fremdsprachenunterricht zu, wenn man folgender Aussage Glauben schenken will: „Warum der pattern drill tot ist und sich trotzdem bester Gesundheit erfreut“ (Solmecke 2005). Wolff (2000) moniert, dass sein Artikel aus dem Jahr 1994 „konkret nur wenig bewirkt“ habe (Ebd., 91), und auch Schwerdtfeger (2000) kritisiert, dass unterrichtsmethodische Vorschläge aus der Sprachlehrforschung „folgenlos“ (Ebd., 113) bleiben. Storyline bietet aus meiner Sicht viele Chancen, um diesem Problem konstruktiv zu begegnen. Wie? Das zeigen Fallstudie 7-9 in Teil B.

      Das im obigen Zitat erwähnte nachhaltige Lernen wird unter anderem von den folgenden Faktoren bedingt: Bedeutsamkeit des Themas, Praxisrelevanz, Anschlussfähigkeit, Flow-Gefühl13, Vielfalt der Lernwege, angenehme Lernatmosphäre und metakognitive Reflexion (Siebert 2005, 37). Auch dies ist keine neue Erkenntnis, sondern knüpft an bewährte Modelle an, wie etwa die Projektmethode (John Dewey/William H. Kilpatrick)14 oder das Konzept der Selbsttätigkeit und Handlungsorientierung aus der deutschen Reformpädagogik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit Vertreterinnen und Vertretern wie Georg Kerschensteiner (Arbeitsschule), Hans Aebli, Hugo Gaudig, Lotte Müller, Otto Scheibner, Peter Petersen oder Johannes Langermann. Handlungsorientierung und Selbsttätigkeit gelten auch als zentrale Aspekte in der Pädagogik von Célestin Freinet oder Maria Montessori sowie in der sowjetischen Kulturhistorischen Schule mit den Vertretern Lev Vygotskij, Alexej Leontjew und Pjotr J. Galperin. Nicht vergessen werden sollte in dieser Auflistung Johann Amos Comenius, der schon im 17. Jahrhundert die Berücksichtigung aller Sinne beim Lernen gefordert hatte.

      Auch Jérôme S. Bruner (1966) forderte in seinem Konzept des entdeckenden Lernens die Integration von realen Situationen in das Unterrichtsgeschehen, anhand derer neues Wissen selbstständig und explorativ erworben werden kann.15 Des Weiteren setzte sich Martin Wagenschein (1982) für den Ansatz des entdeckenden Lernens ein (Epochenunterricht), dem er ein genetisches Prinzip zugrunde legte: „Danach muß jedes Lehren von Problemstellungen ausgehen, die den Lernenden zum Nachdenken bringen und Fragen auslösen, die ihn wiederum dazu motivieren, eigene ‘Entdeckungen’ zu machen“ (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1999, 32). Ein weiteres Kriterium seines Konzepts liegt im Grundsatz, dass die Wirklichkeit immer „anwesend“ ist: „Fragestellungen, Begriffe, Symbole, Strukturen drängen sich dem Schüler aus der Sache auf“ (Gudjons 2001, 23). Erwähnt werden sollte auch noch D.P. Ausubels Konzept des sinnvollen Lernens, in dem die Rolle des Vorwissens der Lernenden betont wird.

      Offene Lernformen, das heißt – um nur einige Stichwörter zu nennen – schülerorientierter, handlungsorientierter, erfahrungsbezogener, ganzheitlicher, prozess- und produktorientierter, projektorientierter, inhaltsorientierter und selbstbestimmter Unterricht, sind heute zwar wieder zum Modebegriff geworden, sie sind jedoch keine Neuerfindung der zeitgenössischen Pädagogik bzw. Didaktik, sondern haben in manchen Schularten bereits eine lange Tradition. Allerdings – und das ist das Erstaunliche dabei – führen sie in der alltäglichen Unterrichtspraxis des Regelschulwesens noch immer nur ein Schattendasein, wie durch prominente Schulstudien in regelmäßigen Abständen belegt und moniert wird (vgl. Kapitel 1.5).

      Auch im Bereich des Fremdsprachenunterrichts sind die oben genannten methodischen Prinzipien wie Handlungsorientierung (kooperatives Lernen, kreative Arbeitsformen, Projektunterricht, Lernen durch Lehren), Lernerzentrierung (Individualisierung des Lernens, Lernerautonomie), prozessbezogene Bewusstmachung (Lernbewusstheit, Sprachbewusstheit, interkulturelle Bewusstheit) und ganzheitliche Spracherfahrung (Inhaltsorientierung, authentische und komplexe Lernumgebung) usw. natürlich nichts Neues: „Es handelt sich (...) um gängige didaktisch-methodische Grundsätze der neunziger Jahre, obwohl ihre praktische Realisierbarkeit teilweise noch nicht ganz geklärt ist“ (Reinfried 1999, 164f.). Neu ist allerdings, dass die genannten Prinzipien erst durch den konstruktivistischen Theorierahmen ein stützendes Fundament erhalten, so dass einzelne Methoden und Verfahren nicht mehr isoliert „im Raum“ stehen oder gar als Modeerscheinung abgetan werden, sondern in einem kohärenten Lehr-Lern-Konzept vereinigt werden.16 Dies scheint mir ein wesentlicher Aspekt zu sein, wenn es um die Frage nach der praktischen Realisierung von Ansätzen geht:

      Sicherlich haben Wendt und Wolff recht, wenn sie meinen, daß der heutige Fremdsprachenunterricht an den deutschen Schulen insgesamt zu instruktivistisch ist. Das hängt damit zusammen, daß viele Lehrerinnen und Lehrer es noch kaum gewöhnt sind, Gruppen- oder Partnerarbeit, Projekte oder ‘Lernen durch Lehren’ im Fremdsprachenunterricht einzusetzen, daß sie die entsprechenden Unterrichtstechniken nicht verinnerlicht haben (Ebd., 177).

      Diese Aussage spricht meines Erachtens Bände, und man fragt sich, warum offensichtlich viele Lehrerinnen und Lehrer die angeblich gängigen Methoden und Grundsätze nicht verinnerlicht haben. Ich wage zu behaupten, dass sie diese vermutlich nicht nach konstruktivistischen Vorstellungen „gelernt“ haben, so dass sie zu transferunfähigem „trägem“ Wissen mutiert sind. Nachhaltiges Lernen gilt natürlich nicht nur als Ziel für das schulische Lernen, sondern auch für die Ausbildung und Fortbildung von Lehrkräften. Dieser Aspekt ist auch insofern bedeutsam, als es heute – ganz im konstruktivistischen Sinne – weder „die“ Methode noch „die“ Fremdsprachendidaktik gibt, auf die man sich „getrost“ verlassen könnte, sondern gerade im Bereich der Englischdidaktik tendenziell „eine Diversifizierung der Ansätze“ (Viebrock 2008, 117) erkennbar ist, so dass Lehramtsstudierende (und nicht nur diese) umso mehr gefordert sind, immer wieder eigene „viable“ Lösungen und Wissenskonstruktionen zu vollziehen und diese professionell zu begründen.

      Vor dem Hintergrund der bekannten Problematik um transferunfähiges „träges“ Wissen wurden in den vergangenen Jahren in der Instruktionspsychologie zahlreiche neue (gemäßigte) konstruktivistische Konzepte für verschiedene Lernbereiche in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung entwickelt, die dem „Neuen“ Konstruktivismus17 nahestehen, und einige davon lassen sich auch gut auf das Fremdsprachenlernen übertragen. Dabei handelt es sich insbesondere um diejenigen Ansätze, die dem Paradigma der Situated Cognition zugeordnet werden. Zu den bekanntesten Konzepten des von Clancey (1993) und Greeno (1989; 1992; 1998) seit Ende der 1980er Jahre entwickelten Modells der Situated Cognition gehören die Folgenden: Guided Participation18, Cognitive Apprenticeship19, Communities of Practice20, Cognitive Flexibility21, Random Access Instruction22, Anchored Instruction23, Instructional Design bzw. Cognitive Tools for Learning24, Whole Language25 und einige mehr, die jedoch an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden können.26 Die Kernidee dieser Ansätze ist, dass Wissen unter Anwendungsgesichtspunkten erworben und deshalb an komplexen und authentischen Problemstellungen gelernt wird. Um die Lernenden jedoch nicht zu überfordern, erhalten sie Unterstützung. Angestrebt wird mit diesen Konzepten also eine „Balance zwischen Konstruktion und Instruktion“ (Gruber u.a. 2000, 144).

       Abb. 6:

      Historische Vorbilder konstruktivistischer Instruktionsansätze bzw. situierter Lernumgebungen (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1999, 33)

      In der Psychologie des Wissensmanagements (Reinmann/Mandl, Hrsg. 2004) werden derzeit auch Modelle wie Experten-Laien-Kommunikation (Bromme u.a. 2004), Methodik des Repertory Grid (Clases 2004) oder Story Telling (Neubauer u.a. 2004; Thier 2010) propagiert, dabei dient die Methode des Story Telling offensichtlich dazu, Erfahrungswissen und implizites Wissen innerhalb von Organisationen in narrativer Form festzuhalten und weiterzugeben. Eine ähnliche Version ist die Methode Story Template (Reinmann/Eppler 2008), anhand derer Wissen und Erfahrungen ebenfalls in Geschichten verpackt werden, oder die Szenario-Technik (Hinke 2007). Was die erwähnten Ansätze verbindet, ist die Tatsache, dass sie auf (gemäßigten) konstruktivistischen Grundsätzen aufbauen und mit den oben genannten Ansätzen der Situated


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