Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher
nur allgemeine Aussagen und Vorschläge sein, da die individuelle Ausgestaltung von Lernkontexten der jeweiligen Lerngruppe vorbehalten bleiben muss. Ich werde mich dabei auf eher gemäßigte Positionen des Konstruktivismus beziehen, zumal der Radikale Konstruktivismus mit institutionellem Lernen allgemein nur schwer vereinbar (aber nicht unmöglich) ist, und ich ferner die Ansicht vertrete, dass der soziale Aspekt des Wissenserwerbs bzw. des Lernens im Sinne der strukturellen Kopplung gerade im Bereich des fremdsprachlichen Lernens nicht unterbewertet werden darf. In diesem Sinne verschränke ich – wie bereits angedeutet – den Radikalen mit dem Sozialen Konstruktivismus.
Faktoren konstruktiven, konstruktivistisch aufgeklärten Lernens (Siebert 2005, 31)
Mit Blick auf die vorangegangen Ausführungen halte ich fest, dass unter dem Begriff „Lernen“ ein aktiver, eigenverantwortlicher und subjektabhängiger Prozess der Konstruktion von Wissen verstanden wird, der auf der Grundlage von bisherigen Erfahrungen und früheren Konstruktionen (Interimswissen) stattfindet und zu individuell verschiedenen (viablen) Ergebnissen führt. Der soziale Kontext ist insofern ein bedeutsamer Faktor, als im Rahmen von sozialer Interaktion und Kooperation die subjektiven Wissenskonstrukte angeglichen (Prinzip der Konsensualität) und gleichzeitig die individuellen Lernprozesse erleichtert werden. Lernen wird als ganzheitlicher Prozess betrachtet, in dem Leiblichkeit, Emotionalität, Sinnlichkeit und Handlungsfähigkeit wichtige Ankerpunkte darstellen. Das alles trifft auch bei Storyline zu (vgl. Kapitel 2.3).
Um gleich zu Beginn ein häufig geäußertes Vorurteil aus dem Weg zu räumen: Konstruktion muss Instruktion nicht grundsätzlich ausschließen. Allerdings erhält der Begriff „Instruktion“ bzw. „Lehren“ eine völlig andere Bedeutung, und zwar im Sinne der Anregung (Perturbation). Auch wird die Lehrkraft im Klassenzimmer nicht gänzlich überflüssig und überlässt die Lernenden ihrem Schicksal, wie so oft befürchtet wird. Stattdessen übernimmt sie eine Vielzahl an neuen Aufgaben und Funktionen, die auf einer veränderten Weltanschauung basieren, welche die Prozesse in den Köpfen der Lernenden „in ihrer Eigendynamik und in ihrer Vernetztheit mit Umwelt, Körperwelt und Ichwelt“ berücksichtigt (Meixner 1997, 11). Im Klartext: „Das Bekenntnis zu einer konstruktivistisch orientierten Fremdsprachendidaktik bedeutet jedenfalls nicht, die SchülerInnnen völlig in einer falsch verstandenen Autopoiesis oder Autonomie allein und laienhaft herumkrebsen zu lassen ...“ (Stegu 2000, 212).
Normatives Paradigma | Interpretatives Paradigma | |
Technologischer Machbarkeitsoptimismus | ↔ | Unterstützung von Selbstorganisation |
Informationsgesellschaft (Sender-Empfänger-Modell) | ↔ | Lern- und Kommunikationsgesellschaft |
Wissensvermittlung Steuerung | ↔ | Selbst gesteuertes Lernen |
Verbindliche Wahrheiten | ↔ | Pluralität der Wirklichkeitskonstruktionen |
Reduktionistisches Weltbild | ↔ | Holistisches Weltbild |
Vermittlung von Antworten | ↔ | Anregung von Fragen |
Konsens/Einheit | ↔ | Differenz/Vielfalt |
Perfekte Lösungen | ↔ | Irrtumswahrscheinlichkeit |
Erkenntnis als Abbildung | ↔ | Erkenntnis als Konstruktion |
Tab. 3:
Normatives versus interpretatives Paradigma (Siebert 2005, 20)
Um vielseitige Lern- bzw. Konstruktionsprozesse im Sinne einer konstruktivistischen Lernkultur3 zu ermöglichen und zu fördern, sollten unter anderem die folgenden Aspekte bedacht werden.4 Diese können meines Erachtens auch als Folie und Anregung für die Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts dienen:
Lerninhalte: Die Unterrichtsinhalte sollten sich an komplexen, lebensnahen, ganzheitlich zu betrachtenden Problembereichen orientieren, „denn verstehen läßt sich nur etwas, wenn es im komplexen Gesamtzusammenhang erfaßt ist“ (Dubs 1995, 890). Das additive Aneinanderreihen vorgegebener, reduzierter und vorstrukturierter Lerngegenstände muss dem gemeinsamen Auswählen von schülerrelevanten Lerninhalten weichen, die an den Vorerfahrungen und Interessen der Lernenden anknüpfen (Anschlussfähigkeit) und in möglichst authentische, situative Kontexte eingebettet sind. Lernprozesse werden bekanntlich erst dann initiiert, wenn das Gleichgewicht eines Systems in Unordnung geraten ist. Aus diesem Grund bietet es sich an, Schülerinnen und Schülern immer wieder „Situationen zu präsentieren, in denen gewohnte Denkweisen fehlschlagen“ (von Glasersfeld 2005, 220), so dass sie zur Bildung und Überprüfung von Hypothesen sowie zu multiplen Problemlöseverfahren und Konstruktionsprozessen angeregt werden.5 Dabei sollten Gefühle und die persönliche Identifikation einbezogen werden, wie dies im Falle von Geschichten, persönlichen Erzählungen und Diskursen jeglicher Art berücksichtigt wird.Da Lerninhalte nicht im Voraus (und auf Jahre hin) festgelegt werden können, ist es auch nicht sinnvoll, mit Schulbüchern, in denen bereits alles bis ins Detail vorgeplant ist, zu arbeiten und diese Seite für Seite „durchzunehmen“: “The teacher must be weaned away from the idea that the textbook, neatly arranged into units as it is, each containing specific items of grammar and vocabulary, defines what the pupils learn. For learning is not instantaneous, linear and additive“ (Lennon 1993, 127). Sprache ist zwar linear lehrbar, aber auf Grund ihrer Komplexität nicht linear lernbar (Bleyhl 2000, 83). Nunan (2013, 19) sieht “second language acquisition more like growing a garden than building a wall. (...) The linguistic flowers do not all appear at the same time, nor do they all grow at the same rate“.
Lernziele: Generell sollten Lernarrangements so gestaltet sein, dass sich Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernen immer in der „Zone der proximalen Entwicklung“ (Vygotskij) befinden (vgl. Kapitel 3.2.3). Da die Lernenden jedoch eine heterogene Gruppe bilden, und somit die Lern- und Konstruktionsprozesse individuell verschieden sind, können nicht für alle verbindliche Lernziele im Voraus akribisch festgelegt und aufgeschlüsselt werden, wie dies durch die Progression der üblichen Schulbücher und durch andere außenstehende Instanzen (z.B. Lehrplankommissionen) im Sinne einer „Lehr-Plan-Wirtschaft“ (Bleyhl 2004, 229) vollzogen wird. Stattdessen müssen echte „Lern“-Ziele und nicht mehr „Lehr“-Ziele im Mittelpunkt des Unterrichts stehen:Konstruktivistische Lernzielsetzungen lassen sich von dem Grundprinzip leiten, daß die Auseinandersetzung mit der Umwelt (ihre subjektive Konstruktion) das alleinige Ziel hat, das Überleben des Lerners als autopoietisches System zu sichern. (...) Spezifische Lernziele können deshalb (...) festgelegt werden als Erwerb von Fähigkeiten und Wissenskomponenten, die in der realen Lebenswirklichkeit gebraucht werden können (Wolff 1994, 418).Die Lernenden zu Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation zu befähigen, so dass sie eigenständig und flexibel auf anstehende Probleme eingehen und diese zu Lösungen führen können, sollte also stets das übergeordnete Unterrichtsziel darstellen (kognitive Flexibilität). Dies deckt sich auch mit den Zielsetzungen des Bildungskonzepts „Lebenslanges Lernen“, steht jedoch im Widerspruch zu der Vereinheitlichung von Unterricht durch Bildungsstandards und bundesweite Vergleichsarbeiten (vgl. Kapitel 1.6).
Lernumgebung: Wenn Lernen als ein aktiver Prozess zu verstehen ist, bei dem vorhandenes Wissen und Können