Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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Darstellungen setzen ein Verhalten voraus, das nicht ableitbar ist von zeitbedingtem Handeln der Menschen, die die Orientierung verloren haben, keine sicheren Maßstäbe für ihre Entscheidungen finden und sich dem kollektiven Interesse fügen. Zuweilen unausgesprochen, zunehmend häufig in Dialogen und Selbstgesprächen der Figuren zeichnet sich eine ethisch verankerte, zeitlose Deutung des verantwortlichen Handelns ab. Der Blick zurück, sei er von Beteiligten, Überlebenden, Kindern oder Enkeln, erfasst die Vergangenheit aus einer Sicht des richtigen und falschen, sittlichen und unsittlichen Handelns. Alle Nachkriegsautoren, die sich mit der NS-Zeit und dem Krieg auseinandersetzten, trugen zu einem wachsenden historischen Bewusstsein bei und haben maßgeblichen Anteil an der Entwicklung eines kollektiven Selbstverständnisses. Sie betrachten die Vergangenheit als ein unabgeschlossenes Kapitel, als einen im Entstehen begriffenen Entwurf einer umfassenden Dokumentation.

      Was ist das, die Vergangenheit? Der Begriff kennzeichnet geschichtlich überlieferte Ereignisse aus einer zurückliegenden Zeit. Die Überlieferung umfasst jedoch ein weites Feld: Quellen, historische Darstellungen, die zugleich Interpretationen sind, Tatsachenberichte, soziologische, politische, philosophische Auslegungen und literarische Konzeptionen.Historische Ausführungen teilen gewöhnlich Geschichte in zusammenhängende Abschnitte ein, die eine Verstehenseinheit bilden. Jeder Abriss enthält eine der Schilderung angemessene Abstraktionsebene. Für die Beurteilung historischer Prozesse bleiben die im Schnittpunkt literarischer Schilderungen liegenden Schicksale, Freuden und Leiden, Erfolge und Misserfolge Einzelner im Hintergrund. Deshalb besteht grundsätzlich eine tiefgreifende Spannung zwischen dem Kollektivgeschehen und dem Schicksal Einzelner. Literarische Texte konzentrieren sich auf diesen Schnittpunkt zwischen kollektiven und persönlichen Erfahrungen und versuchen, im individuellen Erlebnis die geschichtliche Dimension anzudeuten und ein Geschichtsbewusstsein zu vermitteln, das im Konkreten das Allgemeine erfasst.

      Historiker konstatierten, dass es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im November 1918 keine Möglichkeit gab, sinnvoll an die vorausgegangenen Zeiten anzuknüpfen.3 Kulturgeschichtlich orientierte Untersuchungen verdeutlichen jedoch tiefgreifende Verflechtungen und Traditionen, die Schwerpunkte für das Verständnis eines historischen Ablaufs formen.4 Die Literatur verdeutlicht die Problematik in historischen Untersuchungen, die sich mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern objektive, faktische Darstellungen der Vergangenheit überhaupt möglich sind oder ob jedes Urteil von persönlichen Erfahrungen der Wissenschaftler beeinflusst wird.5 Die kritische Aneignung, Distanzierung und tiefgreifende Umwertung der historischen Bewusstseinslage verläuft in drei Phasen. In ihrem Ablauf setzt sich die Erkenntnis durch, dass jede Erinnerung an und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von der jeweils gegenwärtigen gesellschaftlichen Umwelt mitbestimmt wird. Individuelle und kollektive Erinnerungen hängen von den zeitbedingten, zurückliegenden und gegenwärtigen Umständen ab. Die Entwicklung setzt nach 1945 in den Auseinandersetzungen mit der deutschen NS-Vergangenheit ein, wird in der Literatur der sechziger bis achtziger Jahre in der Fragestellung erweitert und prägt literarische Ortungen und möglicherweise das Selbstverständnis einzelner Autor(inn)en bis heute. Begrifflich schließt die Denkform Fragen von persönlicher Verantwortung, sittlichem Handeln wie auch Schuld und Sühne ein. Die Entwicklung mündet schließlich in die eigenartige Situation, in der die Vergangenheit scheinbar unvermittelt in die Texte hineinredet, zur Kurzformel für eine alle Deutschen belastende Erbsünde geworden ist, aber zugleich im Blick zurück zum Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit wird.

      Die Vergangenheit lebt auf, sobald Autor(inn)en Figuren entwerfen, die über sich nachdenken und ihr persönliches Selbstverständnis entwickeln, das sich nicht von dem nationalen Selbstverständnis trennen lässt. Diese Vergegenwärtigungen haben eine gemeinsame historische Substanz. Sie sind einerseits individualisiert, da Erzählungen die Ereignisse aus der Perspektive und Erlebnissphäre Einzelner gestalten. Andererseits erhalten sie eine Abstraktion des Allgemeinen oder Typischen durch die unterschiedlichen Erzählverfahren, durch eingeflochtene Kommentare und Fragen an die vorausgegangene Generation, die manchmal zu Familienzerwürfnissen führen. Fragen, Dialoge und Selbstgespräche erweitern die historische Sicht, in der sich dann ein mögliches Verstehen der Geschichte anbahnt. Darüber hinaus stoßen die Darstellungen auf schwer zu beantwortende Fragen, die die nationalsozialistische Vergangenheit betreffen. Die gegenwärtigen politischen Debatten über Schuld, Verbrechen, Nazi-Opfer, Holocaust, aber auch Schlussstrich, einseitige Stilisierung und Anklagen gegen die Tätergeneration, sowie Erkundung der Leiden einer verführten Generation wiederholen sich in den Erzählungen.

      Die Befragung der Vergangenheit nimmt vielfältige Formen an. Sie kann direkt erfolgen, indem die Handlung in die Vergangenheit verlegt wird. Darstellungen erwecken zuweilen, besonders wenn sie auf historisch belegbare Ereignisse zurückgreifen, den Eindruck realistischer Berichterstattungen. Deutlich erkennbar sind markante stilistische Unterschiede zwischen kritisch reflektierten Auseinandersetzungen und Schilderungen von Kriegserlebnissen, die versuchen, authentisch überzeugend, aus der Nahperspektive Ereignisse festzuhalten. Die Nahperspektive verwickelt Leser. Der Anspruch auf Authentizität – ich sehe, fühle, spüre – ist besonders deutlich ausgeprägt in der Kriegsliteratur. Er verbürgt, dass das Vergangene im Text, belegt durch Dokumentationen, die sich auf eigene Erlebnisse, Aussagen von Zeitzeugen, Briefe und Nachrichten aller Art (Zeitungen, Radio, Wochenschauen) stützen, zuverlässig und glaubwürdig festgehalten ist. Die eingehende Untersuchung der Kriegsliteratur zeigt jedoch einerseits Rückgriffe auf tradierte Motive in der Kriegsthematik, andererseits dass das Gedächtnis der Autoren nachhaltig individuell gefärbt ist. Die Befragung ist ferner integriert in Generationskonflikten, die ihren Ursprung in der Sensibilisierung für die politische Vergangenheit haben; sie kann im Mittelpunkt von Identitätskrisen stehen; sie bildet den Rahmen für autobiographische Darstellungen, die das Verhältnis Einzelner zum historischen Geschehen thematisieren; sie ist oft verknüpft mit primären Themen (Anpassung; Entwicklungsthematik; Holocaust; Reifung; Selbst- und Welterkenntnis) und Motiven (Konflikte zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Vater und Sohn oder Tochter). In Auseinandersetzungen mit der jüngsten Vergangenheit des geteilten Deutschlands kommen hinzu: Utopie und Verlust der utopischen Vision; alle Bereiche des Alltagslebens im sozialistischen Staat; Stasi und Spitzelunwesen. Die erstaunliche Sensibilität für die politische Vergangenheit ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Einerseits regt die Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation zur Befragung der Vergangenheit an. Andererseits entwerfen zahlreiche Autoren Erzählungen, in denen die Vergangenheit als wirksames Kolorit für das Geschehen dient.

      Der Anspruch, authentisch zu berichten, ist außerdem besonders ausgeprägt in fiktiven historischen Erzählungen, die sich auf Lebensläufe unbekannter, vergessener oder umgedeuteter „Personen“ konzentrieren. Das Verfahren, klar ersichtlich in Geschichten von Wolfgang Hildesheimer (Marbot. Eine Biographie. 1981), Christoph Ransmayr (Die Schrecken des Eises und der Finsternis. 1984) und Horst Stern (Mann aus Apulien. Die privaten Papiere des italienischen Staufers Friedrich II. 1986), stellt eine Figur in den Schnittpunkt des Geschehens, die keine Spuren hinterließ und deshalb von Historikern übersehen wurde. Diese Erzählungen verwischen bewusst die Grenze zwischen Geschichte, Vergangenheit und Fiktion.

      In anderen Darstellungen erscheint zuweilen die Gegenwart aus der Perspektive einer erstrebenswerten ausgeglichenen Gesellschaftsordnung. Die Vergangenheit dagegen erweckt den Eindruck einer unabgeschlossenen Akte. Sie prägt die Gegenwart und kommt deshalb in manchen Texten in Ereignissen oder Reflexionen der Erzählstimmen unvermittelt zu Wort. So entsteht der Eindruck, die Geschichte rede noch immer in alles Geschehen hinein. Die Gespräche verleihen den Figuren aus der Vergangenheit plastisch-realistisches Sein. Sie geben den Verstorbenen, den Stummen und denen, die zum Schweigen verurteilt waren, die Stimme zurück. Die Autor(inn)en versetzen sich in die Lage der direkt Beteiligten, der Opfer, Täter, Mitläufer und aller, die innerlich das Regime ablehnten, aber den Umständen erlagen. Sie verfolgen den eigentümlichen Sachverhalt, dass die Vergangenheit selbst früher für die damals Lebenden Zukunft und Gegenwart war. Der Dialog mit der Vergangenheit vermittelt Eigenheiten des Denkens, die dem Erkenntnisvermögen des Publikums entgegenkommen. Es erkennt im Lesevorgang seine eigenen Bemühungen, historische Entwicklungen zu begreifen. Darüber hinaus schließt der Appell an verantwortliches Handeln in der Andeutung, dass das Leben Einzelner in der sozialen und historischen Vernetzung


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