Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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geistigen Eindrücken basiert. Die Eindrücke werden sinnvoll zu einer Wahrnehmungseinheit gestaltet und im Gedächtnis bewahrt.14 Die Wahrnehmung wurzelt in Erleben, Handeln, Betrachten und Reflektieren. Jedes Erleben erfasst eine sinnliche und geistige Reaktion auf das, was uns in Natur und Gesellschaft umgibt und auch auf Ereignisse im Leben. Das Handeln kann in instinktiven Reaktionen gründen, die besonders in der Kriegsthematik geschildert werden. Der Begriff kennzeichnet jedoch ferner jedes bewusst überlegte Verhalten zur Umwelt und bildet die Voraussetzung zu möglicher Selbst- und Welterkenntnis.15

      Das Gedächtnis ist sowohl individuell als auch kollektiv eingefärbt. Es erfasst den Augenblick des Geschehens, die Zeitspanne eines Eindrucks, die konkrete Reaktion auf eine Begebenheit und die festgehaltene Sensation, welche unterschiedliche Sinneseindrücke zu einer Einheit verschmilzt. Die gespeicherten und geordneten Eindrücke initiieren außerdem bewusste Lernprozesse. Der Vorgang beeinflusst die Bewusstseinslage von Individuen und Figuren in Texten und schafft die Voraussetzung für die unterschiedlichsten literarischen Gestaltungen. Beispielsweise erfährt der Erzähler, ein Physiker, in Christoph Aigners Anti Amor (1994), wie komplex abgründig jede Wahrnehmung ist. Sein Gegenspieler, Theseider, reduziert die ideelle, ideale klassische Liebesvorstellung und sittliche Neigung auf rein biologische Vorgänge. Beide bezweifeln schließlich jede Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis. Scharfsinn und Spekulation, Phantasie und Wahn stehen zuletzt gleichberechtigt nebeneinander in der im Text postulierten immer „werdenden und vergehenden Welt.“16

      Ein in der Erinnerung kritisch beleuchteter Eindruck kann tradierte oder kollektive Vorstellungen übernehmen und das Ereignis zu einer neuen, authentisch wirkenden Einheit verbinden. Dieser Vorgang führt zu Verunsicherungen in Tatsachenberichten und Aussagen von Augenzeugen. Er ist Ausgangspunkt für Erkundungen zahlreicher Autor(inn)en in Bestandsaufnahmen der Vergangenheit. Darüber hinaus beleuchten die Realismus-Diskussionen (sozialistischer, klinischer, magischer Realismus) und die Literaturkrisis-Debatten das Wechselverhältnis von Stileigenheiten und Wahrnehmung, Erinnerung und politischen oder ästhetischen Überzeugungen.17 Augstein und Walser versuchten 1998 in einem kritischen Gespräch die Beschaffenheit der Erinnerung zu bestimmen. Ihr Meinungsaustausch „Erinnerung kann man nicht befehlen. Martin Walser und Rudolf Augstein über ihre deutsche Vergangenheit“18 verdeutlicht in Feststellung, Frage und Gegenfrage, wie beide im Rückblick ihr Handeln und ihre Unterlassungen häufig so deuten, dass sie ihrem gegenwärtigen Erfahrungshorizont entsprechen. Beide suchen die Wahrheit, unterbrechen aber ihre Beobachtungen durch kritische Einwände, in denen deutlich wird, dass nicht alles so verlaufen sein kann, wie sie es in ihrer jetzigen Erinnerung im Gedächtnis haben. Beispiele: „Walser: Bist du sicher? … Das halte ich für die nachträgliche Inszenierung eines Films. Augstein: Ich weiß es noch. Sonst hätte es sich mir ja nicht eingeprägt. … Walser: Und das hast du dir gemerkt? Da warst du erst zehn.“ Walser fasst nach: „Das hast du nicht gesagt, jetzt verklärst du irgend etwas. … Du wußtest doch nicht, wer Lovis Corinth ist und daß man die Bilder verkaufen muß. Gib zu, das hat dein Vater gesagt, Rudolf!“ Augstein betont die Ablehnung Hitlers in seiner Familie, die politisch wach erscheint; darauf Walser: „Du bist gleich auf der SPIEGEL-Seite der Welt geboren worden. … Rudolf, du bist wirklich der beste, schönste, liebenswürdigste, ungefährdetste Roman …, den ich je gelesen habe. … Mit der Wirklichkeit kann es nichts zu tun haben.“ Darauf Augstein: „Es ist erlebte Wirklichkeit, nicht geschönt.“ Walser ist überzeugt davon, dass jeder bewusste Rückblick die Vergangenheit verändert. Das Gespräch weist hin auf die Problematik „falscher“ Erinnerungen, die subjektiv als wahr, untrüglich, wirklich empfunden werden, aber objektiven Tatsachen widersprechen.19

      Walser unterscheidet zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Gedächtnis ist faktisch; es erfasst Einzelheiten, die etwas genau bestimmen (ein Lehrer stolpert im Klassenzimmer; der Pfiff eines Freundes; ein Bild an der Wand im Wohnzimmer), aber keine größeren Zusammenhänge herstellen. Walsers Skizze „Ein Jahr und das Gedächtnis“ setzt mit der Beobachtung ein: „Das Gedächtnis, unsere große Unfähigkeit: ein Haus, das unser eigen ist, aber wir haben nichts zu sagen darin.“20 Darauf folgen vorbeifliegende politische und gesellschaftliche Pressenachrichten und persönliche Eindrücke eines Jahres. An sie schließt die Frage an, ob das Ganze lediglich ein Angebot ist, aus dem sich das Gedächtnis nur aussucht, was ihm gefällt. Möglicherweise kann das Gedächtnis „Steine blühen lassen“ oder sich vertraut machen mit der endgültigen „Redaktion aller Communiqués.“ (267) Gedächtnis ist sicherlich in fiktiven Dokumentationen von Kriegserfahrungen stark mit Appellen an die Einfühlung der Leser verknüpft. Erinnerung dagegen ist gestaltetes Gedächtnis; sie stellt Assoziationen her, schafft Überblicke, vermittelt Einsichten, die auch anderen nachvollziehbar werden. Sie erweckt in Texten Sympathie; sie ist eine kritisch besonnene Rückschau. Erinnerung ist letztlich geistig literarisch. Sie ist das, was Hesse im Kapitel „Die Berufung“ (Das Glasperlenspiel, 1943) schildert, wenn er darauf hinweist, Knecht habe in seinem Denken zwischen „legitimen“ und „privaten“ Assoziationen in der Gestaltung eines Spieles unterschieden. Zur Erläuterung führt der Erzähler das Beispiel eines abgeschnittenen Holunderblattes an. Der Geruch des Blattes zusammen mit der Erinnerung an ein Schubertlied „Die linden Lüfte sind erwacht“ ergibt eine Assoziationskette, die „Frühling“ ins Allgemeine, Typische erhöht.

      Im dritten Kapitel der Novelle Ein fliehendes Pferd (1978) findet sich ein aufschlussreicher Hinweis auf die Walser ständig beschäftigende Ermittlung des Zusammenspiels von Gedächtnis und Erinnerung. Der Stuttgarter Studienrat Helmut Halm denkt über den plötzlich in seinem Leben aufgetauchten Klaus Buch und dessen Rekonstruktion seiner Vergangenheit nach. Der Erzähler stellt fest: „Helmut begriff allmählich, daß dieser Klaus Buch für einige ihm teure Jahre seines Lebens keine Zeugen mehr gehabt hatte. Und gerade aus diesen Jahren wollte er offenbar überhaupt nichts verlorengehen lassen. Zur Wiedererweckung des Gewesenen brauchte er einen Partner, der zumindest durch Nicken und Blicke bestätigte, daß es so und so gewesen sei. Ohne diesen Partner könnte er gar nicht sprechen von damals. Helmut sah, daß er es mit dem Kriegskameradenphänomen zu tun hatte. Er kannte diesen Wiedererweckungsfanatismus nicht. Jeder Gedanke an Gewesenes machte ihn schwer. Er empfand eine Art Ekel, wenn er daran dachte, mit wieviel Vergangenheit er schon angefüllt war.“21 Nach kurzem Nachdenken folgt der Satz: „Meistens wußte dieser Klaus Buch allerdings so genau Bescheid über das, was gewesen war, daß Helmut erschrak.“ (284) Helmut ist bestürzt und spürt Neid, weil sein Gedächtnis zwar mit Namen und Eindrücken angefüllt ist, aber keine erkennbare Form hat. Er kann das „Erzählbare“ nicht fassen. „Die Namen und Gestalten, die er aufrief, erschienen. Aber für den Zustand, in dem sie ihm erschienen, war tot ein viel zu gelindes Wort.“ (284) Für Klaus Buch dagegen lebt das Vergangene in einer „Pseudoanschaulichkeit“ auf, die alles Vergangene verleugnet und in plastischer Fülle vergegenwärtigt. „Bei Klaus Buch rollte es nur so von Tönen, Gerüchen, Geräuschen; das Vergangene wogte und dampfte, als sei es lebendiger als die Gegenwart.“ (285) Walser lässt der Sprache freien Lauf, um in einer Fülle von Eindrücken die formlose Vergangenheit im gegenwärtigen Gedächtnis festzuhalten und zugleich kritisch zu ironisieren. Demgegenüber versichert Jurek Becker 1997 in einem Interview, dass in seinem „Unbewußten“ Eindrücke des Vergangenen existieren. Aber auf die Frage, ob ihn seine Kindheit im Ghetto beeinflusst habe, antwortet er: „Das kann ich nicht sagen. Das müßte ein Psychiater rauskriegen. Ich habe keine Erinnerung daran. Ich kann Ihnen nichts über das Ghetto erzählen. Ich habe es vergessen – so als wäre es nie gewesen.“22 Er fährt fort mit der Feststellung, dass er sich zuerst intensiv mit der Vergangenheit beschäftigte, als er Material für seine Erzählungen sammelte. Dass die Konzentration auf Details, besonders wenn ein Autor alles „genaugenommen“ festhalten will, zu wuchern beginnt und die Gesamtdarstellung trüben kann, wird in der Erinnerungsdiskussion in Klaus Schlesingers Die Sache mit Randow (1976) deutlich. Die als Kriminalroman angelegte Erzählung beschreibt den Prozess gegen die Randow-Bande und den Mörder Randow. Sie verdeutlicht jedoch außerdem in detaillierten Einzelheiten das Leben in der DDR, fängt das Berliner Lokalkolorit und die damaligen Unterhaltungen der Einwohner ein und bietet viele lesenswerte Kurzporträts. Konkrete Hinweise auf die allgemeine Situation machen die Zeitumstände auch jungen Lesern verständlich, die der geschilderten Zeit bereits fernstehen.

      Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart ist einge­hender


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