Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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und Karl Mannheim in ihren Schriften feststellten: Die Erinnerung an Vergangenes wird von der gesellschaftlichen Umwelt mitbestimmt. Individuelle und kollektive Erinnerungen hängen von den zeitbedingten, zurückliegenden und gegenwärtigen Umständen ab. Dieser Sachverhalt tritt besonders deutlich in Marons Pawels Briefe hervor. Der konkrete Anlass der Suche nach der vergangenen und vergessenen Zeit ist die Umfrage eines holländischen Fernsehteams, das 1994 nach Berlin kommt, um die Haltung der Deutschen zur Vergangenheit zu dokumentieren. Die Autorin beginnt die Erzählung mit Fragen: Warum jetzt diese Geschichte schreiben? Die Lebensläufe gehören der Vergangenheit an. Wie entstand das Gefühl, sich „rechtfertigen zu müssen“? Warum etwas festhalten, das „wenig sicher ist“?23 Was ist Erinnerung? Wie ist sie beschaffen? „Erinnern ist für das, was ich mit meinen Großeltern vorhatte, eigentlich das falsche Wort, denn in meinem Innern gab es kein versunkenes Wissen über sie“. (8) Darüber hinaus erwägt Maron die Möglichkeit, dass das ganze Vorhaben ein Versuch sei, dem eigenen Leben Sinn zu geben oder es geheimnisvoll zu gestalten.

      Die entstehende Familiengeschichte vermittelt Einblicke in das Leben von drei Generationen. Sie schildert die Herkunft, den Existenzkampf und den Tod des Großvaters Pawel Iglarz, eines zum Baptismus konvertierten Juden aus Polen, der sich mit seiner Frau Josefa in Berlin niederlässt, um dort als Schneider eine sorgenfreie Existenz aufzubauen; die Großeltern werden 1939 nach Polen ausgewiesen und kommen nach kurz befristetem Dasein im Ghetto im Konzentrationslager um. Die Geschichte beschreibt ferner die Kindheit der Mutter Hella und ihre Entwicklung zu einer überzeugten Kommunistin; sie erfasst das Aufwachsen und die kritische Meinungsbildung von Monika im Hause der Mutter und des Stiefvaters Karl Maron, des DDR-Innenministers von 1955 bis 1963. Das besondere Kolorit dieser alltäglichen Geschichten entspringt den Beobachtungen der Beteiligten, ihren Versuchen, das Geschehen zu verstehen, es selbst zu verklären, und der ständigen Befragung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Maron schildert die Auswirkungen des politischen Geschehens auf die Großeltern als ein von unkontrollierbaren Mächten gesteuertes Schicksal. Gleichzeitig bezweifelt sie die Vorstellung von undeutbaren Mächten und lehnt jeden Mythos des Vergangenen ab.

      Marons Verunsicherung ist persönlich und bestimmt zugleich die Zweifel der Erzählerin, die sich fragt, ob es überhaupt möglich ist, eine objektiv-kritische Schilderung des Vergangenen zu geben. Die Darstellung der Auswirkungen des politischen Geschehens der NS-Zeit, der DDR-Jahre und der Wende auf die Betroffenen erfasst widersprüchliche Auffassungen: man musste sich anpassen; man wollte überleben; das Schicksal ist undeutbar; man wurde aufgerufen, verantwortlich zu handeln. Der Rückblick hält eine Szene fest, in der die Mutter nach alten Fotos sucht und auf einen Karton mit Briefen des Großvaters aus dem Ghetto und Antwortbriefen der Kinder stößt. Die Mutter ist verwirrt, kann sich nicht erinnern, diese Briefe gelesen oder geschrieben zu haben. Maron stellt fest: „es war unmöglich, daß sie die Briefe nicht gelesen hatte, so wie es unmöglich war, daß sie die in ihrer eigenen Handschrift nicht geschrieben hatte.“ (10) Die Erkenntnis, dass sich die Mutter an den Briefwechsel, „in dem es um ihr Leben ging, nicht erinnern konnte“ (11), verbunden mit der Tatsache, dass jedes Vergessen in der öffentlichen Meinung gerade zu einem Synonym für Verdrängung und Lüge geschrumpft“ (11) war, leitet Reflexionen über Gedächtnis, Erinnern, persönliche und historische Wahrheit, Dokumentation und Authentizität ein, welche die gesamte Darstellung prägen. Diese Überlegungen sind nicht nur maßgebend für die Schilderung des Lebens der Großeltern und der Mutter, sondern bestimmen auch Marons Bestandsaufnahme ihres eigenen Lebens.

      Besonders aufschlussreich sind Marons Zweifel angesichts ihrer eigenen Vergangenheit. Beim Nachdenken über ihre 1995 im „Spiegel“ enthüllte Beziehung zum MfS gerät sie schließlich in ähnliche Verwirrung wie ihre Mutter. Sie ist überzeugt davon, dass ihr Kontakt, der der Stieftochter des DDR-Innenministers Karl Maron, mit der Stasi nichts als eine „kuriose und komische Episode“ war. Sie ist „nicht sonderlich stolz“ auf die Rolle, die sie gespielt hat, sieht aber auch keinen Grund, sich zu schämen, denn sie hatte die Konsequenz aus ihren Irrtümern bereits vor vielen Jahren gezogen. Besonders beachtenswert wirkt Marons Geständnis ihrer zunehmenden Verunsicherung, als ein Fernsehredakteur sie beschuldigt, einen Bericht über ihre beste Freundin für die Stasi verfasst zu haben. „Es war unmöglich, trotzdem begann ich, mir Situationen auszudenken, in denen ein Mensch etwas tun könnte, ohne später davon zu wissen … Es gab eine Stunde, in der ich bereit war, alles für möglich zu halten … wenn es das gibt, daß einer außerhalb seiner selbst ist und dann nichts mehr davon weiß.“ (200) Maron spricht hier die völlige Verunsicherung der Menschen in einem Staat an, in dem jeder nicht nur ständig überwacht wird, sondern auch selbst schließlich daran teil hat, eine Situation, die Hilbig in Ich (1993) und Eine Übertragung (1989) verfolgt.

      Aus dieser Sicht, in der jedes Erinnern in kritisches Nachdenken, Befragen und Neubesinnen übergeht, entsteht eine Denkform der fortgesetzten Reflexion, in der das Vergangene im Gegenwärtigen aufgehoben ist und zugleich das Zukünftige mitdenkt.24 Deshalb endet das Buch konsequent mit einem Blick auf unsere Tage. Die Erzählerin erträgt, dass ihre Mutter Mitglied der PDS ist, so wie diese sich damit abgefunden hat, dass ihre Tochter „Antikommunistin“ wurde. „Morgen werde ich sie anrufen, oder übermorgen … heute jedenfalls noch nicht.“ (205)25 Von ausschlaggebender Bedeutung ist die von nahezu allen Autor(inn)en erwähnte Eigenheit persönlicher Erinnerungen: beim Rückblick entstehen Angstzustände. Erfahrungen aller Art – irgend etwas schwer Bedrückendes, wirklich Erfahrenes, manches gehört oder gelesen und verinnerlicht – trüben die Erinnerung. Sie erregen Unruhe und Schrecken.

      Im Rückblick auf ihre Kindheit, der Fragestellung Marons vergleichbar, kommt Christa Wolf in Kindheitsmuster (1976) immer wieder auf das Problem zurück, wie eine Situation entstehen konnte, in der Menschen nicht nur gleichgültig wurden, sondern auch niemals die richtigen Fragen stellen konnten und nichts mehr wissen wollten. Sie betont den Verlust fester Normen und die Hilflosigkeit der Menschen in den Kriegsjahren, die jede sinnvolle, freie Entwicklung individueller Eigenschaften verhinderte. Wolf charakterisiert mit ihrer Feststellung die Haltung von Mitläufern, Nischenstehern, „Nicht-Betroffenen“ und allen, die wie Grass findet am Rande stehen. „Auch daß Schriftsteller – was ihres Berufes ist – die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, zu schnell vernarbte Wunden aufreißen, in versiegelten Kellern Leichen ausgraben, verbotene Zimmer betreten, heilige Kühe verspeisen oder wie Jonathan Swift es getan hat, irische Kinder als Rostbraten der herrschaftlich englischen Küche empfehlen, ihnen also generell nichts, selbst nicht der Kapitalismus heilig ist, all das macht sie anrüchig, strafwürdig. Ihr schlimmstes Vergehen jedoch bleibt, daß sie sich in ihren Büchern nicht mit den jeweiligen Siegern im historischen Verlauf gemein machen wollen, sich vielmehr dort mit Vergnügen herumtreiben, wo die Verlierer geschichtlicher Prozesse am Rande stehen, zwar viel zu erzählen hätten, doch nicht zu Wort kommen.“26 Die vorliegende Darstellung erschließt, dass eigentlich alle, die in den Jahren zwischen 1933 und 1945 lebten, betroffen sind.

      Auseinandersetzungen dieser Art entsprechen den Erwartungen der Leser in autobiographisch eingefärbten Kindheitserinnerungen, in historisch oder gesellschaftskritisch entworfenen Romanen, wie etwa Grass’ Ein weites Feld (1995) oder Erzählungen, die die persönliche Entwicklung Einzelner nach 1945 schildern. Sie wirken dagegen überraschend und geben den Texten ein besonderes Kolorit, wenn sie entweder unvermittelt auftreten oder gegenwärtige Familienverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen beleuchten, deren besondere Eigenart darin besteht, dass sie von der deutschen Vergangenheit geprägt wurden (wie etwa in Jurek Beckers Amanda herzlos, 1992; Herta Müllers Der Fuchs war damals schon Jäger, 1992 oder Herztier, 1994; Gerlind Reinshagens Zwölf Nächte, 1989 oder Jäger am Rand der Nacht, 1993; und selbst Birgit Vanderbekes Das Muschelessen, 1990).

      2.2. Abrechnen – Verstehen

      Erzählungen und Bühnenstücke, die Einblicke in das historische Geschehen aus der Perspektive der Betroffenen vermitteln, betonen nahezu ausnahmslos die Schwierigkeit, im Überblick ein Verständnis der Vergangenheit zu gewinnen. Sie thematisieren Ahnungslosigkeit, Dabeistehen, Schweigen, Wissen, Verfehlung, Tat und Sünden der Unterlassung. Die Aufarbeitung führt aus der Zeit der Weimarer Republik und der Kriegsjahre über die Zeit des getrennten Deutschlands bis in die Gegenwart. Aus der lebendig-bunten, wechselnden


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