Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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bestimmt gleichermaßen das Geschehen in Erzählungen und Stücken, die auf die Antike zurückgreifen oder alternative Vergangenheitsbilder entwerfen. Die Rückgriffe auf die Antike umfassen unter anderem Nachdichtungen, Neuschöpfungen und Wiederbelebungen. Außerdem lassen sich in der Gegenwartsliteratur Versuche nachweisen, Figuren wie etwa Galatea, Kassandra, Laokoon, Odysseus, Medea, Medusa, Pasiphae oder Priapos auf die Gegenwart zu beziehen und umzudeuten. Besonders aufschlussreich sind Auslegungen der menschlichen Gegenwartssituation im Spiegel der Vergangenheit. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass es sich bei diesem Vorgang nicht nur um Anschluss und Erneuerung einer Tradition handelt. Stattdessen dienen die Rückgriffe dazu, in symbolisch mythischen Handlungsräumen gegenwärtige politische und gesellschaftliche Krisen in der Form existenzieller Entscheidungen zu gestalten.

      Antike und Gegenwart, Cotta, Ovid, Fontane und eine alte Frau, Rom und Preußen: die Vergangenheit ist Gegenwart, sie ist ein weites Feld, ein unabgeschlossenes Kapitel. Die Erzählungen von Christoph Ransmayer und Günter Grass beleuchten diesen Sachverhalt. Als Mein Jahrhundert 1999 erschien, betonte Grass in einem Interview: „Ja, nehmen Sie den ersten Satz des Buches: ‚Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen.‘ Das heißt, ich schlüpfe in Rollen, ganz verschiedene: männlich, weiblich, alt, jung. Ich blicke auf dieses Jahrhundert aus der Perspektive von Menschen, denen Geschichte widerfährt. Es sind nicht die großen Handelnden, von denen ich erzähle, sondern die Mitläufer und Opfer.“11 Diese Perspektive verwandelt schließlich die Erzähler in Historiker, welche die Vergangenheit im Alltag beleben und selbst das kaum Denkbare schildern. Gemeinsamkeiten und Divergenzen bestimmen Rückblick und Ausblick. Die gravierenden Unterschiede in Gestaltungen der Gegenwart und der Vergangenheit sind offensichtlich im Erfahrungshorizont der Figuren in Erzählungen von Ransmayr und Grass.

      Die Erzählung Morbus Kitahara (1995) von Christoph Ransmayr schildert die Verfinsterung, die sich nach dem „Frieden von Oranienburg“ über die Ortschaft Moor, die Bevölkerung, den großen Steinbruch nahebei und das Niemandsland des Steinernen Meers ausbreitet.12 Es ist endlich Frieden, nachdem „die halbe Menschheit in der Erde und im Feuer verschwunden ist.“ Im Schnittpunkt der Handlung stehen der Schmied Bering, zum Ende des großen Krieges geboren, Ambras, der Fotograf und ehemalige Häftling Nr. 4273 eines Konzentrationslagers, und das Mädchen Lily, die überlebende Tochter eines zu Tode geprügelten Bewachers. Die Einwohner von Moor, ehemals ein malerischer Badeort, haben keinen Zugang zur Außenwelt, denn die einzige bestehende Bahnverbindung wurde abgerissen. Alle müssen für sich selbst sorgen. Die existenzielle Situation der Menschen und das Zeitgeschehen werden bestimmt durch Auswirkungen des „Stellamour-Plans“, eine Anspielung auf den Morgenthau-Plan, der das besetzte Land in die Steinzeit zurückwirft, eine Steinzeit, in der jedoch Besatzungstruppen die Menschen bewachen und organisierte Banden, kahlköpfige Schläger und Guerillas die Welt verunsichern. Das Milieu determiniert die Entwicklung der Figuren, in denen jedoch wiederholt eine wilde, unbezähmbare Sehnsucht nach Entgrenzung aufflackert. Arbeitsfähige (jeder, der noch gehen kann, ist arbeitsfähig) werden zur Arbeit im Steinbruch verpflichtet. Alle sind gezwungen, an den von Major Elliot veranstalteten Erinnerungsfeiern für die Opfer der jüngsten Vergangenheit teilzunehmen. „HIER LIEGEN / ELFTAUSENDNEUNHUNDERTDREIUNDSIEBZIG TOTE / ERSCHLAGEN / VON DEN EINGEBORENEN DIESES LANDES / WILLKOMMEN IN MOOR“ (33). Zum Sommerfest ersteigen die Einwohner die berüchtigte Stiege, auf der die meisten Häftlinge umkamen. Die Gefangenen schleppten riesige Steinquader nach oben und brachen häufig unter der Last zusammen. Der Kommandant verlangt nur, dass die Bewohner Attrappen transportieren, die sie an die Vergangenheit erinnern sollen. Major Elliot besteht nicht auf krasser Wirklichkeit, aber darauf, dass der Schein gewahrt wird und die Tätigkeit die Umerziehung fördert. Er will die Illusion einer zivilisierten Besatzung bewahren, hat aber die Ausführung aller Anordnungen und selbst der alltäglichen Arrangements Ambras übertragen.

      Ambras, der ehemalige Gefangene des Schotterwerk-Konzentrationslagers, hat die gesamten Machtbefugnisse über die Arbeiter und zwingt alle unnachgiebig zur Erfüllung der ständig gesteigerten Norm. Er rächt sich an der Gesellschaft in seiner Rolle des Lageraufsehers. Er spielt den Giganten und verkörpert zugleich eine unerhörte Brutalität. Die charakteristischste Szene für seine Einstellung zur Welt ist sein Einzug in die von ihm ausgesuchte Wohnung, eine mit Stacheldraht umgebene Villa, in deren Garten ein Rudel verwilderter, aggressiver Hunde haust. Er betritt den Garten, wirft den vierzehn Hunden rohes Fleisch zu, spricht beschwörend auf sie ein, erschlägt den ersten, der ihn anspringt, mit einem Eisenrohr, jagt einem großen irischen Rüden das Eisen in den Schlund, springt auf ihn, verbeißt sich in das Tier und bricht ihm das Genick. Daraufhin zieht er ein. Das Rudel folgt dem Meister gehorsam, der seitdem vom Volk „Hundekönig“ genannt wird. Sein Umgang mit Menschen folgt demselben Muster: Sie müssen dienen; jeder Widerstand wird gebrochen. Bering, zu der Zeit ein Neunjähriger, beobachtet den Vorfall und umgibt den Hundekönig in seiner Erinnerung mit dem Nimbus eines „biblischen Helden“, eines „unbesiegbaren Königs“, der seine Feinde „in die Wüste jagte und in den Tod.“ (81)

      Bering verbringt seine früheste Kindheit in einem Kellergewölbe in einem von der Decke hängenden Korb. Unter ihm scharren Hühner auf der Erde, Hühner, deren Gackern er nachahmt und unter sein Schreien mischt. Geflügel und Vögel bestimmen seinen Erfahrungshorizont. Er lebt sich ein in ihre Welt, ahmt ihre Rufe nach und versucht zu fliegen. Selbst diese Empfindungen sind ambivalent: „Noch Jahre später bedurfte es bloß eines Hahnenschreis, um in ihm rätselhafte Empfindungen wachzurufen. Oft war es ein melancholischer, ohnmächtiger Zorn, der keinen bestimmten Gegenstand hatte und ihn doch mehr als jeder tierische Laut mit dem Ort seiner Herkunft verband.“ (19) Unvereinbare Tendenzen bestimmen seine Entwicklung von früher Verehrung bis zum Hass auf den Hundekönig. Als Dreiundzwanzigjähriger erlebt er, wie Ambras sein von Elliot erhaltenes Fahrzeug schwer beschädigt und bietet ihm an, den Wagen völlig neu herzustellen. Er verwandelt den Studebaker in einen mythologischen Wagen: eine Krähe im Sturzflug, am Kühler „zwei zum Fangschlag geöffnete Krallen.“ (96) Daraufhin ernennt Ambras Bering zu seinem Vertreter, befiehlt ihm in die Villa zu ziehen und fortan sein Leben zu teilen. Das Verhältnis der beiden wird bestimmt von den kurzen, fast bellenden Befehlen, die Ambras erteilt. Das grausame Zusammenleben beeinflusst Berings Handeln. Er tötet zuerst in Notwehr, dann aus Hass auf die Welt. Sein Verhältnis zu Ambras, den er sowohl fürchtet als auch bewundert, ablehnt und anerkennt, zwingt ihn in eine Abhängigkeit, die schließlich dazu führt, dass er seinen Beherrscher nachahmt und Freude an der Unterdrückung anderer verspürt. Ambras beansprucht für sich nichts, außer Gehorsam. Er lebt in einem verwahrlosten Zimmer der Villa und überlässt den Rest des Hauses den Hunden. Er zeigt eigentlich nur ein Interesse, das nicht mit seiner Arbeit verbunden ist, wenn ihn Lily besucht und ihm seltene Steine und Smaragde aus dem Hochgebirge bringt.

      Lilys Gefühle spiegeln die gegensätzlichen Tendenzen der Umwelt wider. Sie hasst Gewalt, besitzt jedoch ein verstecktes Waffenlager und geht zweimal, auch dreimal im Jahr auf Menschenjagd. Sie spürt dann den Banditen nach, die die Bevölkerung angreifen, und tötet sie, während ein überwältigendes Gefühl von „Angst, Triumph und Wut“ in ihr aufsteigt. Plötzlich will sie ausbrechen und frei sein. Dann wieder passt sie sich an die Umstände an. Sie hat Mitleid mit Ambras und Bering, übernachtet zuweilen mit Ambras, scheint einmal Bering zu lieben, verstößt ihn aber, als er in rasendem Zorn einen Räuber tötet, der Hühner mit sich schleppt.

      Handlungsverlauf und Figurenzeichnung werden intensiviert, als das Bergwerk demontiert und nach Brasilien verfrachtet wird. Bering sorgt dafür, dass jedes Rädchen der rostigen Maschinerie sorgfältigst verpackt wird. Er erblindet langsam, hofft jedoch auf einen neuen Anfang in der Fremde und verspürt wie Lily Freude während der Übersiedlung. Auf der Fahrt nach Brasilien nehmen die körperlichen Leiden von Ambras ständig zu. Die Welt verdunkelt sich. Bering, Ambras und Lily fahren schließlich zur Hundeinsel, einem ehemaligen verlassenen Gefängnis, dem Ziel und Ende von Lebensfahrten in einer Welt, in der das Licht verbleicht. Lily schenkt der Brasilianerin Myra ihren Mantel und verlässt die Insel. Die Geste besiegelt Myras Tod, denn Bering ermordet sie im Glauben, Lily vor sich zu haben. Am Ende stürzt er blindlings vom Berg und reißt Ambras mit sich in die Tiefe. Die konsequente Handlungsführung aus Lager und Moor in die sumpfige Wildnis der neuen Welt, einer unbehausten Insel mit drei Toten, verdeutlicht die völlige Hoffnungslosigkeit der Welt nach dem Krieg.

      Dagegen


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