Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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Der Erinnerungsdiskurs in der Novelle sichtet den Erfahrungshorizont, die persönlichen Erlebnisse, die Haltung zum Zeitgeschehen und das historische Erkenntnisvermögen von Figuren aus drei Generationen: Ursula Pokriefke, deren Sohn Paul und ihres Enkels Konrad (Konny). Paul ist Journalist und schildert die Ereignisse als Ghostwriter für einen im Hintergrund bleibenden, vom Schreiben ermüdeten Autor, der hin und wieder Anregungen gibt. Die Konturen des Geschehens, durch ständige Reflexion, Rückwendung, Blicke auf das Internet und Einschübe von kontrastierenden oder sich ergänzenden Handlungszügen retardiert, sind zeitlich verankert im Mord an Wilhelm Gustloff am 4. Februar 1936 in Davos, der Torpedierung der „Wilhelm Gustloff“ durch das russische U-Boot „S 13“ am 30. Januar 1945 in der Nähe der Stolpebank und der vorsätzlichen Tötung Wolfgang (David) Stremplins durch Konrad am 20. April 1997. Der Erzähler betont mehrmals das von ihm geschaffene Netz historischer Bezüge auf Hitlers Leben (*20.4.1889; Reichskanzler 30.1.1933; Selbstmord 30.4.1945).

      Die Erzählung versucht die Ursachen von Ereignissen zu verstehen, die sich immer wieder der Sinndeutung entziehen. Der Erzähler unterbricht seinen Bericht deshalb ständig mit Hinweisen auf seine Verunsicherung. Das historische Geschehen überfordert das Aufnahmevermögen: „ich stelle mir vor – nicht faßbar – niemand weiß, was endgültig geschah – muß eine Legende einschieben – was ich von mir weg krebsend tue, ziemlich nahe der Wahrheit beichte – so ungefähr ist es gewesen – mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am Straßenrand – ich kann es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben – über 4500 Kinder, Säuglinge, Jugendliche, Köpfe im Wasser, Beinchen in der Luft – eine Null am Ende mehr oder weniger, was sagt das schon – in Statistiken verschwindet hinter Zahlenreihen der Tod – ich kann nur berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist.“ Im Verlauf solcher Beobachtungen, die den Wahrheitsgehalt authentischer Berichte befragen, entsteht ein Gespräch mit der Vergangenheit, der Gegenwart und dem Lesepublikum. Außerdem vertieft Grass das abgestufte, krebsende Erzählverfahren, indem er die Figur des „Alten“ einführt. Der Alte bleibt im Hintergrund. Er hat Paul als Ghostwriter angestellt, der „stellvertretend“ ein Geschehen berichtet, über das die Beteiligten schwiegen. Der Alte hat sich „müdegeschrieben“ und gesteht, dass er sich dieser Aufgabe „seiner Generation“ entzogen hat. „Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen … dürfen.“ (99)

      Neben dem Alten führt Grass Figuren ein, die im Text durch ihre Verwicklung in das Zeitgeschehen von 100 Jahren und ihre persönliche Entwicklung repräsentativ wirken, aber keineswegs „außergewöhnlich“ sind. Wir hören von Wilhelm Gustloff, der 1895 in Schwerin zur Welt kommt, 1917 nach Davos reist, um ein Lungenleiden zu kurieren, dann in der Schweiz bleibt und scheinbar bürgerlich bescheiden lebt. Er tritt in die NSDAP ein, wird Landesgruppenleiter, wirbt in der Schweiz unter den dort lebenden Deutschen und Österreichern für die Partei und wird am 4. Februar 1936 in seiner Wohnung in Davos von dem Juden David Frankfurter erschossen. Die Entrüstung in der deutschen Presse ist enorm; die deutsche Regierung sendet einen Sonderzug, der Gustloff nach Schwerin „heimführt“. Fortan wird er als Opfer jüdischer Meuchelmörder hoch geehrt; ein Denkmal wird gebaut und ein KDF-Schiff nach ihm benannt. David Frankfurter, 1909 in Serbien geboren, lebt und studiert in Deutschland, befindet sich aber zeitweilig in der Schweiz zur Kur seiner chronischen Knochenmarkvereiterung. Er begründet seine Tat mit der Feststellung: „ich bin Jude.“ Er wird im Gerichtsverfahren zu 18 Jahren Zuchthaus und anschließendem Landesverweis verurteilt. Er gesundet im Gefängnis und wandert nach dem Kriegsende nach Israel aus.

      Der Erzähler Paul Pokriefke kommt am 30. Januar 1945 zur Welt. Die „dramatisch-alltägliche“ Geburt, Minuten nachdem seine hochschwangere Mutter von dem torpedierten Schiff „Wilhelm Gustloff“ gerettet wurde, verknüpft sein Leben mit der Gustloff-Legende. Sein Vater bleibt unbekannt; die Mutter hat ihn vergessen, will nicht über ihn sprechen und verwechselt ihn möglicherweise mit einem anderen Mann. Paul wächst in der DDR auf, setzt sich aber nach Westberlin ab und studiert Germanistik. Er wird von seinem „möglichen“ Vater finanziell unterstützt und arbeitet als Journalist für Springers „Morgenpost“. Paul verfertigt Sachberichte und schreibt über alles, auch über „Nie wieder Auschwitz“, aber nie über die „Gustloff“, denn das Thema war jahrelang nicht diskussionswürdig. Paul heiratet und hat einen Sohn. Seine Frau trennt sich von ihm und zieht mit dem Sohn Konrad in den Westen. Nach der Scheidung betrachtet sich Paul als „lebensversehrten“ Versager.

      Die Mutter, Konrads Großmutter, Ursula (Tulla) Pokriefke ist eine Virtuosin der Anpassung an politische und gesellschaftliche Umstände. Sie überlebt; ist zufrieden und voller Widersprüche, die sie selbst nicht empfindet. Sie erinnert sich an die Nazizeit, die „gute Seiten“ hatte und denkt mit Freude an die „schöne“ Fahrt auf dem KDF-Schiff „Gustloff“. Sie wird Tischlerin und Leiterin einer Tischlerbrigade in der DDR. Sie ist überzeugte Kommunistin und zündet eine Trauerkerze an, als Stalin stirbt. Trotzdem macht sie keine Schwierigkeiten, als sich Paul nach Westberlin absetzt. Sie hat außergewöhnlichen Einfluss auf Konrad und vermittelt ihm Ansichten über die Vergangenheit, die der Erzähler als „das unbeirrbare Gequassel des Ewiggestrigen“ charakterisiert. Aber Tullas Gerede, das ihre enge Verflechtung mit dem Schiff, der Torpedierung und der Schiffslegende herausstellt, beeinflusst nachdrücklich Konrads Leben. Als Konrad (Konny) seine Großmutter nach dem Mauerfall in Schwerin besucht, erzählt sie ihm erregende Geschichten aus der Vergangenheit.

      Für Konrad lebt die Vergangenheit nicht nur auf, er will sie rehabilitieren. Nachdem ihm Tulla einen Computer schenkt, konzentriert er sich auf den Fall Gustloff, den er „richtig stellen“ muss. Durch sein unablässiges Bemühen wird „Gustloff“ eine Internet-Sensation. Die Berichterstattung schließt ein: Stapellauf, Lobesreden, Nachrichten über Robert Ley, Urlauber- (Kraft durch Freude), Lazarett-, Ausbildungs-, Truppentransport- und schließlich Flüchtlingstransportschiff, Torpedierung durch ein russisches U-Boot, dessen Kapitän Alexander Marinesko kurz erwähnt wird, und schließlich Erinnerungsfeiern der Überlebenden. Währenddessen debattieren zwei junge Menschen auf der Website www.blutzeuge.de alle mit dem Untergang der „Gustloff“ verknüpfbaren Gedanken. Ihre Meinungen sind hart, kompromisslos und unvereinbar. Konny vertritt die Ehre deutscher Vergangenheit; sein Gesprächspartner David ist Fürsprecher des Judentums und versucht, Konnys Ansichten zu widerlegen. Paul verfolgt die Debatten und erkennt, dass sein Sohn der „schiffskundige“ Germane ist, beurteilt aber das Schreiben Konnys als „harmlos kindisches Zeug, das er als Cyberspace-Turner von sich gab“ (88). Er erkennt auch hinter Konnys Feststellungen das Gerede Tullas. Was er nicht erwartet, was niemand ahnt, ist das unerhörte Ereignis der Novelle. Konrad schlägt David vor, sich zu treffen. Er erschießt David bei der Begegnung am 20. April 1997. Er handelt aus innerer Notwendigkeit: Die Stimme des Feindes muss zum Schweigen gebracht werden. Das Gerichtsverfahren ergibt, dass David eigentlich Wolfgang heißt, kein Jude ist, aber alles Jüdische hoch verehrt. Er leidet unter schweren Schuldvorstellungen und verlangt Sühne vom deutschen Volk. Er hat kein Verständnis für die Meinung seiner Eltern, die finden, „irgendwann müsse Schluß sein mit den ewigen Selbstanklagen.“ Dieser Sachverhalt ändert Konnys Meinung nicht. Er wird mit 7 Jahren Jugendhaft bestraft. Die Eltern können Konrad nicht verstehen. Dagegen debattieren andere die Schuldfrage weiterhin auf einer neuen Webseite Kameradschaft-konrad-pokriefke.de. Sie kennzeichnen seine Haltung als vorbildlich.

      Was bleibt: eine unabgeschlossene Auseinandersetzung, an der jede Generation mitwirkt und in der alle ihren Erfahrungshorizont erweitern. Die Gegensätze bestehen fort. Die Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, stößt auf das ständige Bemühen, die Vergangenheit zu begreifen.

      2. Vergangenheit: Erinnern – Wiederherstellen – Deuten

      2.1. Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Retrospektive

      Fragen der Begriffsbestimmung von Wahrnehmung, Gedächtnis und Erinnerung führen in Literatur und Kritik seit 1945 zu theoretischen Ermittlungen und Überlegungen, die im Handlungsverlauf von Erzählungen anklingen. Die Problematik eine wie auch immer ausgeprägte Realität sprachlich ausdrücken zu können, führt zuweilen dazu, theoretische Ansätze aus den Geisteswissenschaften in literarische Texte


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