Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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Der Tod greift um sich. Der Konditor Wokurka stirbt an einem Herzanfall, nachdem ihn SA-Leute zusammengeschlagen haben; der Buchhandlungsangestellte Marek wird wahnsinnig; eine Jüdin, die zu ihrem Sohn nach Brasilien ausreisen will, verliert jede Hoffnung bei der Beantragung des Ausreisevisums und stirbt. Einzelne begehen Selbstmord, einige werden abtransportiert und andere werden erschossen. Jeder Protest endet mit der Auslieferung in Konzentrationslager. Ganz wenigen, wie etwa dem Redakteur Menanzbach, gelingt die Flucht ins Ausland. Das Gesamtbild ist ein Kaleidoskop der Leiden der Bevölkerung wie sie auch Ernst Sommer in der Revolte der Heiligen (1946), einer Schilderung der Vernichtung einer Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter in Polen, festhält.

      Bobrowski skizziert in Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater (64) das Anwachsen der deutsch-polnischen Spannung und des um sich greifenden Antisemitismus. Der Erzähler berichtet, kommentiert und denkt über das Geschehen nach, in dessen Schnittpunkt die Auseinandersetzung zwischen dem Großvater und dem Juden Levin steht. Der Großvater, ein reicher Wassermühlenbesitzer, „grunddeutscher Mann“ und „Eckpfeiler“ eines stolzen deutschen Reichs, ist verantwortlich für die Zerstörung von Levins Mühle, die von angestautem Wasser weggeschwemmt wurde. Levins Klage vor Gericht wird verzögert und vertagt. Ein großer Teil der Dorfbewohner ist von der Schuld des Großvaters überzeugt, der schließlich seine Mühle verkauft und nach Briesen übersiedelt. Auch Levin verlässt das Dorf und geht nach Kongresspolen. Die weiterhin geschilderte finanzielle Auseinandersetzung des Großvaters mit seinen Kindern erweitert das Geschehen zum Konflikt zwischen Geldgier und sozialistischem Geschichtsverständnis. Bobrowskis historische Vignette aus dem Jahr 1874 beleuchtet überzeugend die zunehmenden Konflikte zwischen Deutschen, Polen, Juden, Zigeunern, Reichen und Häuslern. Sie bietet ein Zeitbild ungelöster Spannungen, die später in zwei Weltkriegen die Zivilisation auslöschten.

      Erich Hackls Erzählung Abschied von Sidonie konzentriert sich auf einen Ausschnitt der Banalität des Bösen, das der Lebensangst und dem Trieb zu überleben entspringt. Der Text gehört zu den Werken österreichischer Literatur, in denen Autor(inn)en wie Josef Winkler, Gerhard Roth, Elfriede Jelinek und Brigitte Schwaiger zu ungelösten Fragen des Zeitgeschehens Stellung nehmen, indem sie fiktive Dokumentationen und historisch denkbare Ereignisse mit Vorgängen der Gegenwart verschmelzen. Abschied erfasst das Zeitgeschehen in der Beschreibung des Lebensweges von Sidonie Adlersburg: Als Kind 1933 im Windfang des Krankenhauses in Steyr ausgesetzt, von der Familie Breirather aufgenommen und wie ein eigenes Kind liebevoll gepflegt, wird sie 1943 von den Behörden als Zigeunerkind abgeholt und nach Auschwitz verfrachtet, wo sie umkommt. Die bemerkbare, leidenschaftliche Anteilnahme des Erzählers realisiert ein lebendiges Bild der Familie. Es umkreist die Sorge der Pflegemutter, die „die kleine Schwarze“ mit ihrem Sohn aufzieht, den Widerstand des Vaters, eines überzeugten Kommunisten, gegen die Nationalsozialisten und den ständigen Kampf ums Dasein. Gleichermaßen scharf getroffen sind Skizzen der Stadt Steyr und des allgemeinen Notstands sowie Beschreibungen der Arbeitslosigkeit, eines misslungenen Arbeiteraufstands sowie der Jugendbehörde, die ständig versucht, das Kind abzuschieben. Nachdem Hans Breirather zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wird, bleibt seine Frau Josefa mit den Kindern allein.

      Um das Mädchen zu retten und die Unterstützung der Kirche zu erhalten, lassen sich Hans und Josefa nachträglich kirchlich trauen.36 Inzwischen ist der Magistrat Steyr aktiv, sich dem allgemeinen Ziel, dem „Kampf gegen die Zigeuner“, anzuschließen. Die Behörde ermittelt die Geburtsmutter und geht nach dem Anschluss an Deutschland radikal vor. Der Kampf gegen alles Volksfremde besiegelt Sidonies Schicksal. Alle im Ort, Bürgermeister, Leiterin des Jugendamtes, Lehrer, Fürsorgerin, lügen und passen sich den neuen, schließlich alten Umständen an. Jeder ist stolz auf die vom Erzähler angeprangerte „Bestialität des Anstands.“ (93) Sidonie wird abgeholt, ihrer leiblichen Mutter ausgeliefert und in derselben Nacht mit allen Zigeunern abtransportiert. (110) Aufschlussreich ist der Ausklang der Erzählung, der sich auf die Alternative zur Anpassung und einen denkbaren Widerstand konzentriert. Hackl schildert den aufrechten Widerstand einer kleinen Gruppe von Bürgern. Sie informieren das Amt. Ein Sturm von Entrüstung wäre die Folge, falls man das Mädchen entferne. Der Erzähler stellt fest: Auch das ist geschehen, in der Ortschaft Pölfing-Brunnen, in der Steiermark, „das Kind hieß nicht Sidonie, sondern Margit und lebt heute noch, eine Frau von 55 Jahren, und kein Buch muß an ihr Schicksal erinnern, weil zur rechten Zeit Menschen ihrer gedachten.“ (128) Diese Überlegung erweckt Sympathie für den Widerstand in allen, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, und unterstreicht den Konflikt zwischen Anpassung und möglicher Auflehnung.

      Eine andere Erzählung, Abschied von Sidonie vergleichbar, die reflektierend und kommentierend Fragen persönlicher Verantwortung und unvereinbarer nationaler Gefühle herausarbeitet, ist Die Wolfshaut (1960) von Hans Lebert. Der Roman verfolgt das Leben nach dem Krieg in einem österreichischen Dorf. Johann Unfreund kommt in das Dorf Schweigen. Der Name symbolisiert das Schweigen der Einwohner, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen. Unfreund will herausfinden, warum sein Vater kurz vor Einmarsch der Roten Armee Selbstmord begangen hat. Was er aufspürt sind Verbrechen, Schuldige, die alles leugnen, Mitläufer und Nischensteher, die moralisch versagten und weiterhin ihre „Ruhe haben wollen“. Niemand will daran erinnert werden, dass die „Ortswacht“ in den letzten Kriegstagen sechs ausländische Zwangsarbeiter erschossen hat. Der Vater war mitbeteiligt, gleichfalls der damalige Ortsgruppenleiter, der jetzt den Landratsposten bekleidet. Andere, die beteiligt waren oder zu viel wissen, kommen um oder werden beseitigt. Als Johann versucht, die Barriere des Schweigens zu beseitigen und der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, stößt er auf die einhellige Ablehnung der Dorfbewohner. Er bekennt sich zur eigenen Verantwortlichkeit, verlässt aber resignierend das Dorf. Die Tendenzen der Vergangenheit bestehen fort.

      Scharf akzentuiert, hart, des Öfteren verfremdet und ins Mythische gesteigert sind Abrechnungen mit der Geschichte und der eigenen Vergangenheit, die jedes Vergeben ablehnen. Sie stehen unter dem Dreigestirn: Systemzwang, Wiederkehr des Bösen und Ausweglosigkeit. Nicht zu übersehen ist der Aufruf zur gebotenen Reform in allen Darstellungen. Bernhards Ursache (1975) schließt an die Tradition thematisierter Leiden von Schülern an, die unter anderem von Robert Musil (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 1906) und Hermann Hesse (Unterm Rad, 1906) geschildert wurden, besteht jedoch in seiner Kritik darauf, dass seine Wahrheitssuche herausfinden will, „wie ich damals empfunden habe, nicht wie ich heute denke.“37 Der Rückblick auf das Gymnasium in Salzburg, erst ein nationalsozialistisches Schülerheim, dann das katholische Johanneum, mündet in eine beißende, zuweilen maßlos erscheinende Verurteilung der Gesellschaft, die diese Schule hervorgebracht hat. Das Gymnasium erscheint als eine menschenfeindliche Brutstätte der Intoleranz, der Verdummung und der erzwungenen Anpassung. Es ist ein Organismus, der wie die Stadt Salzburg jedes Denken einebnet und alle Außenseiter verschlingt. Bombenangriffe im Krieg zerstörten die alten Bauten, aber der Neuaufbau belebt und verstärkt die überlieferten Ansichten. Die Stadt ist „ein auf der Oberfläche schöner, aber unter dieser Oberfläche tatsächlich fürchterlicher Friedhof der Phantasie und Wünsche.“ (11–12)

      Die Erinnerung der Kindheit, der Schulzeit und der Kriegs- und Nachkriegsjahre ist gefühlsbetont und wird in intensiven, hektischen, atemlos wirkenden Sätzen festgehalten.38 Die Eindrücke überstürzen sich. Im Blitzlicht tauchen in ständiger Wiederkehr Skizzen der Stadt und Bilder auf, die frühste Erlebnisse und Vorfälle aus dem Krieg beleuchten. Die Großmutter nimmt das Enkelkind auf Friedhöfe mit, hält ihn hoch, um Tote besser zu sehen („siehst du, siehst du, siehst du“) und versucht, ihre Leidenschaft, die Faszination mit dem Tod, auf ihn zu übertragen. Dieses Urerlebnis wird gesteigert durch wiederkehrende Eindrücke (eine Kinderhand im Schutt nach einer Bombardierung; Stehen am Grab von Selbstmördern und Gefallenen) und das eigene Denken, das um Aussichtslosigkeit im Leben und den Tod kreist. Der Schulleiter Grünkranz, ein „Muster-SA-Offizier“, steht mit funkelnden Stiefeln an einem Grab. Der Mann, der brutal seine eiserne Disziplin durchsetzt, findet ein Spiegelbild im katholischen Präfekten, der die Schule nach dem Krieg leitet und den Geist von Grünkranz am Leben erhält. Zutiefst bedrückend ist das Gesamtbild der Stadt, das unvereinbar ist mit dem von Touristen besuchten lieblichen Mozart-Salzburg. Hinter der Fassade verbergen sich feindliche Mächte, die die Anpassung an die Gesellschaft erzwingen und die Stadt in einen „fürchterlichen Friedhof der Phantasie und Wünsche“


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