Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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und ohne Beschönigung berichtet Wellershoff von seinem Einsatz als jugendlicher Freiwilliger an der Ostfront, seiner Verletzung, seinem Aufenthalt im Lazarett Bad Reichenhall, seiner Gefangennahme und dem Neuanfang nach dem Kriegsende. Die Rückblenden und Aufarbeitung seiner Jugend bieten die Voraussetzung für seine Einsicht in „zwei“ wesentliche Erfahrungen. „Die eine ist der Zusammenbruch einer kollektiven Identität, die als mörderisches Wahngebilde kenntlich wurde, und das Glück, das darin lag, die weltanschauliche Obdachlosigkeit als geschenkte Freiheit zu erleben. Die zweite ist die Einsicht in die Zufälligkeit meiner Existenz.“53 Die Stellungnahme vieler Autoren steht unter dem Leitgedanken des moralischen Versagens einer Generation, der zwischen 1890 und 1920 Geborenen, und des Orientierungsverlusts der im Weimarer Staat und im Dritten Reich Aufgewachsenen. Häufig charakterisieren Beschuldigungen der für die Terrorherrschaft der Nazis und für den Krieg Verantwortlichen, massive Schulderlebnisse, Schuldverdrängung und exzessive Selbstanklagen die Erzählhaltung. In Auseinandersetzungen mit Hitlers willigen und halbwilligen Helfern treten Fragen der individuellen Verantwortung und des Gewissens in den Vordergrund. Das schlechte Gewissen breitet sich aus, nachdem der volle Umfang der Verbrechen öffentlich bekannt wird. Es schärft den Blick und bestimmt die Fixierung auf die Vergangenheit. Diese erscheint unverständlich. Die während der Naziherrschaft begangenen Verbrechen stehen im Licht des vorausgegangenen Anspruchs des deutschen Geisteslebens einzigartig da. Die Erbschaft deutscher Schande und Schuld verdrängt das Erbe deutscher Denker. Der Holocaust und Auschwitz werden zum negativen Gegenbild des idealistischen Denkens.

      Verbindlich für die Literatur ist eine Denkform, der die Überzeugung zu Grunde liegt, dass die existenzielle Gefährdung der Menschen im NS-Staat das zeitlose und damit heute gegenwärtige Problem menschlicher Verantwortlichkeit besonders scharf hervortreten lässt. Historisches Bewusstwerden wird zum Ausgangspunkt der Kritik der Gegenwart. Die folgenden Ausführungen heben markante Aspekte hervor. Sie können keine zusammenhängenden Entwicklungen nachweisen, da der Gesamtkomplex von Verschuldung und Vergeben immer neu aufgegriffen wird. Deutlich nachweisbar sind scharfe, zuweilen einseitig anmutende Abrechnungen mit der Schuld und Einstellung von Figuren, deren Verblendung oder Ethos der Pflichterfüllung zu einer menschenfeindlichen Geisteshaltung führt. Sie konzentrieren sich auf das Versagen einzelner Personen, nicht auf die Schuld der gesamten Generation. Heiner Müllers Kurzgeschichte „Das Eiserne Kreuz“ (1956) schildert beispielsweise den Entschluss eines Papierhändlers, eines ehemaligen Reserveoffiziers im Ersten Weltkrieg, seinem Führer die „Treue zu halten“ und mit seiner Frau und Tochter zu sterben. Er holt seinen Revolver hervor, steckt das Eiserne Kreuz an den Rock und marschiert mit Frau und Tochter ins Freie. Er erschießt beide, überdenkt seine Lage, schöpft Hoffnung, entschließt sich, irgendwo unterzutauchen, wirft das Eiserne Kreuz weg und läuft davon. Die Geschichte akzentuiert im Einzelfall das Handeln aller, die Verbrechen gegen die Menschheit begangen haben.54

      In dem Agitprop-Stück Germania Tod in Berlin liegt die Betonung weiterhin auf dem Handeln Einzelner, aber Müller erweitert die Perspektive auf historische Prozesse in absteigender Linie. Die Szenen rollen in aphoristisch zugespitzter Diktion vorbei: Die Straße 1 Berlin 1918; Die Straße 2 Berlin 1949; Brandenburgisches Konzert 1 (mit Manege und 2 Clowns); Brandenburgisches Konzert 2 (Schloß mit Genossen); Hommage a Stalin 1 (Schnee, Schlachtlärm); Hommage a Stalin 2 (Kneipe, Kleinbürger, Huren, Aktivist, Schädelverkäufer); Die heilige Familie (Führerbunker); Das Arbeiterdenkmal (Polierer, Maurer); Die Brüder 1 (historischer Rückblick Arminius und Flavus); Die Brüder 2 (Gefängnis); Nachtstück; Tod in Berlin 1 (Strophe von Georg Heym); Tod in Berlin 2. Die deutsche Geschichte als Teil der Weltgeschichte führt in die Entmenschlichung, bis sie in die Mechanik eines monströsen Maschinenwesens mündet, das in sich die Vergangenheit (Gernot, Hagen, Volker und Gunther) und die namenlosen Soldaten (Nr. 1, 2, 3) des Zweiten Weltkriegs aufnimmt. Alle schlagen sich in Stücke. Der Schlachtlärm hört auf. „Dann kriechen die Leichenteile aufeinander zu und formieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial.“ (51) Mitläufer, pflichtbewusste Untertanen, Verblendete, die an einen gerechten Staat glauben, staatshörige Nischenbewohner, die klagen aber überleben wollen und auf das Recht freier Meinungsäußerung verzichten, fliehen in die innere Immigration. Übrigbleibende Individuen werden zu Seife verarbeitet.

      Die eindeutige Verurteilung des Ewig-Gestrigen erstreckt sich besonders auf Figuren, die überzeugt sind oder waren, dass sie nur ihre Pflicht erfüllten, Einzelne, deren Leben scheinbar nahtlos aus der Vergangenheit in die Gegenwart übergeht und die nichts aus der Katastrophe gelernt haben und Figuren, die nicht an die Vergangenheit erinnert werden wollen und sie abschotten. Siegfried Lenz schildert diese Haltung in der Deutschstunde (1968) im Lebensabriss des Landpolizisten Jens Ole Jepsen. Personen, die diese Geisteshaltung repräsentieren, erfüllen Funktionen des Appells an die Vernunft und der Kontrastierung mit anderen, die sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Gezielte Charakterstudien dieser Art sind beispielsweise der ehemalige Lageraufseher Arnold Heppner (Becker, Bronsteins Kinder), der Bürgermeister und die Leiterin des Jugendamts von Steyr (Erich Hackl, Abschied von Sidonie), Skodlerrak, Sozialist, SS-Mitglied, Schwarzhändler, Anpassungskünstler (Peter Härtling, Eine Frau, 1974), Eduard Nemec (Peter Härtling, Nachgetragene Liebe, 1980), die Mutter Anitas und der Fotograf (Botho Strauß, Schlußchor, 1991) und die schweizer Polizisten, die Karel Neruda und Heinrich Zinn zusammenschlagen, Neruda an die Deutschen ausliefern und nach Kriegsende Zinn festnehmen und in ein Heim bringen. Zinn wird überwältigt, denn sein Haus muss enteignet werden und einem Staudamm Platz machen, der schließlich die ganze Gegend unter Wasser setzt (Silvio Blatter, Das blaue Haus, 1990). Eng verknüpft mit Kontrastierungen dieser Art ist der Kunstgriff im Erzählverfahren, zwei Welten zu konfrontieren, die in knapper Chiffrierung Fotos zeitlos schöner Landschaften mit eingestreuten Dörfern und Schlössern dem Leben im Dorf gegenüberstellen, das alle Merkmale des Daseins in einer Diktatur hat.

      In anderen Romanen und Erzählungen wird eine Einstellung deutlich, welche die kollektive Schuld und die Verfehlung Einzelner nicht einseitig anprangert, sondern aus distanzierter Sicht die Schuldfrage erwägt. Dieses Anliegen bedingt ein Erzählverfahren, in dem das Unfassbare zu Wort kommt. Darüber hinaus verlangt die literarische Gestaltung dieser Problemstellung eine Auseinandersetzung sowohl mit den Gefühlen der Generation Jugendlicher, die das Dritte Reich noch miterlebt haben, aber überzeugt sind, persönlich unschuldig zu sein, als auch mit der Einstellung der nach dem Krieg geborenen Menschen, die sich gegen den Generalverdacht wenden, dass sie als Deutsche mitverantwortlich für die Vergangenheit sind und den Vorwurf der Schuld und Schande ablehnen. Von wesentlicher Bedeutung ist die charakteristische Nuancierung in den Erzählungen, die bei allen Gemeinsamkeiten unterschiedliche Deutungen zulässt. Vergleicht man beispielsweise die Aufarbeitung der Vergangenheit in Peter Schneiders Roman Eduards Heimkehr (1999) mit Jurek Beckers Bronsteins Kinder (1986), so ergeben sich bei vergleichbarer Fragestellung erhebliche Unterschiede.

      Schneider wählt Berlin als Handlungsraum. Der Ort, Hauptstadt des Dritten Reiches und der DDR, zehnjährige Wiederkehr des Mauerfalls, neue Hauptstadt Deutschlands, bietet die Voraussetzung für eine Fixierung auf die deutsche Vergangenheit. Der Handlungskern ist jedoch eine alltägliche, fast banale Geschichte. Eduard erhält eine Stellung in Berlin, kehrt aus den USA heim, muss seine Frau und Kinder nachholen und eine Wohnung für die Familie finden. Die Erzählung schildert häufig erörterte alltägliche Probleme moderner Ehen, die im konkreten Fall durch die Umsiedlung profiliert werden. Von zentraler Bedeutung ist Eduards Verhältnis zu seiner deutsch-jüdischen Frau. Dieses wird maßgebend bestimmt von seinem Beziehungswahn, der ihn zwingt, die alltäglichsten Ereignisse aus der Sicht seines Deutschtums und dadurch im Licht seiner deutschen Vergangenheit zu sehen.

      Eduards Erinnerungen führen zu ständigen Beziehungskrisen und vermitteln den Eindruck, dass die Vergangenheit nicht bewältigt ist. Auch die Menschen, denen Eduard begegnet, neue Kollegen und alte Bekannte, leben in einer „ewigen Nach-der-Wende-Zeit und Nachkriegszeit“. Dieser Sachverhalt tritt deutlich hervor in ständigen Debatten und Reibungen zwischen Ossis und Wessis, Ossis, die dageblieben sind und Ossis, die nach dem Westen abwanderten, und zwischen all den Gruppen, die sich in der DDR gebildet hatten. Der versöhnliche Schluss des Romans kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vergangenheit immer gegenwärtig ist und die Grundlage quälender Erinnerungen bleibt.

      Ganz


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