Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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ist die Tatsache, dass Michael der Frau vor dem intimen Zusammensein immer vorlesen muss. Das Vorlesen beginnt, nachdem er ihr von den in der Schule besprochenen Texten erzählt. Sie ist hochinteressiert, will mehr wissen und erwidert auf seine Bemerkung, sie könne die Sachen doch selbst lesen, er habe eine besonders schöne Stimme und solle ihr zur Freude vorlesen. „Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen – das wurde das Ritual unserer Treffen.“60

      Der Sommer kommt; Ferienzeit; Michael ist mit Gleichaltrigen im Schwimmbad, sieht plötzlich Hanna, die ihm zuschaut, und am nächsten Tag hat sie die Stadt verlassen. Ob es die Erkenntnis war, dass er letztlich nicht zu ihr, sondern zu seiner Generation gehörte, oder ob sie fühlte, wie es ihn wegzog, bleibt unbeantwortet. Er beendet die Schule, studiert Jura und nimmt an einem Seminar teil, in dessen Rahmen die Studenten die Verhandlung in einem KZ-Prozess verfolgen und zu Diskussionen über Schuld und rückwirkende Bestrafung auswerten. Michael sieht Hanna als Angeklagte im Gerichtssaal wieder, sie wird für den Tod einer Gruppe von KZ-Häftlingen in einer brennenden Kirche verantwortlich gemacht. Er beobachtet das Verfahren von Verlesung der Anklage über Bestandsaufnahme, Untersuchung, Eingaben der Verteidiger und Gutachten bis zur Urteilsverkündung. Michael ist jedoch nicht nur objektiver Beobachter, sondern Mitbeteiligter, der sein eigenes Verantwortungsbewusstsein überprüft, und Mitwisser, denn er ist der Einzige, der Hannas streng gehütetes Geheimnis kennt, dass sie Analphabetin ist. Die Bedeutung seines früheren Vorlesens wird deutlich, zugleich auch Hannas Verlangen, unter keinen Umständen ihre Unkenntnis zu gestehen.

      Michael gerät in tiefste Gewissenskonflikte. Hanna ist der volle Umfang der Anklage überhaupt nicht bewusst; sie hat Dokumente unterschrieben, deren Inhalt ihr unbekannt geblieben ist; mildernde Umstände wären anzuführen; sie wird von den Mitangeklagten zum Sündenbock gestempelt, ohne dass sie es merkt. Ihr Schweigen verlangt eine Entscheidung. Er fragt sich, ob er das Geheimnis auch gegen den Willen Hannas lüften soll, versucht die ethische Voraussetzung seines Handelns oder Schweigens zu ergründen, und erfährt die Notlage des Mitwissers, die ihn dazu zwingt, sich mit der Situation der Mitwisser in der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Michael durchläuft Stufen der Entwicklung in seinem Verhältnis zur Vergangenheit, die in Umrissen eigentlich in allen Aufarbeitungen der deutschen Geschichte geschildert werden. Die Studenten des KZ-Seminars verlangen Rechtfertigung und Sühne. „Je furchtbarer die Ereignisse waren, über die wir lasen und hörten, desto gewisser wurden wir unseres aufklärerischen und anklägerischen Auftrags. Auch wenn die Ereignisse uns den Atem stocken ließen – wir hielten sie triumphierend hoch.“ (88) Michael erfährt Gruppensolidarität: „das gute Gefühl, dazuzugehören“. (89)

      Michael erkennt die Schuld Hannas, versucht aber auch ihr Verbrechen zu verstehen. Es gelingt nicht. „Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen.“ (151) Sie nicht zu verstehen, kommt ihm wie ein Verrat an ihr vor. Er grübelt nach über das Grässliche und zugleich Verständliche im Handeln Hannas. Sie hatte als Lageraufseherin die Aufgabe, die Arbeiter und Arbeite­rinnen, die nicht mehr tauglich waren, zum Transport zur Vergasung bereitzustellen. Sie hielt immer Vorleserinnen zurück, gab ihnen damit eine längere Lebensfrist, setzte sie aber letztlich doch auf die Liste, um ihre Pflicht zu tun. Michaels Vorstellungskraft versagt: „Wenn ich heute an die Jahre damals denke, fällt mir auf, wie wenig Anschauung es eigentlich gab, wie wenig Bilder, die das Leben und Morden in den Lagern vergegenwärtigten.“ (142) Später beschließt Michael das KZ Struthof-Natzweiler anzusehen. Er trampt. Ein Autofahrer nimmt ihn mit. Ein Gespräch beginnt, als der Fahrer nach seinem Bestimmungsort fragt. Der Fremde, ein Kriegsteilnehmer, der kein Schuldgefühl hat, vertritt die Ansicht, dass die Lageraufseher, Offiziere und Soldaten nur ihre Arbeit taten. Keine Befehle, kein Gehorsam, kein Hass, keine Rache, keine Gefühle, sondern eine allumfassende Gleichgültigkeit. Michael erkennt die Sollerfüllung der Tagesarbeit. (144–146) Er findet, das Böse als Alltäglichkeit trifft auch auf Hanna zu. Als er im KZ herumläuft, kann er die Baracken nicht mit Bildern Leidender füllen: „Aber es war alles vergeblich, und ich hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens.“ (149) Der Erzähler bemerkt, dass für einige die permanente Auseinandersetzung mit der Vergangenheit „Ausdruck des Generationskonflikts“ war, für andere, die ihren Eltern nichts vorwerfen konnten, wurde die Vergangenheit zum eigentlichen Problem. „Was immer es mit Kollektivschuld moralisch und juristisch auf sich haben oder nicht auf sich haben mag – für meine Studentengeneration war sie erlebte Realität.“ (161) Einige überwanden ihre Scham, indem sie sich von der vorausgegangenen Generation absetzten, andere blieben auf immer einfach durch die Liebe zu den Eltern verstrickt.

      Michael verfolgt den Prozess im Gericht. Alle wirken ermüdet. Richter, Schöffen und Anwälte sind nach langen Verhandlungswochen nicht mehr bei der Sache. Alle haben genug, wollen wieder in die Gegenwart (131). Michael erkennt das Ausmaß der Schuld, aber auch die Lebenslüge Hannas und stellt fest: „Mit der Energie, mit der sie ihre Lebenslüge aufrechterhielt, hätte sie längst lesen und schreiben lernen können.“ (132) Hanna wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er liest wieder, schickt ihr Kassetten, bekommt dann Antwort, der er entnimmt, dass sie lesen und schreiben gelernt hat. Sie wird begnadigt; er erhält einen Brief der Leiterin des Gefängnisses, besucht Hanna, verspricht, sie abzuholen. Als er kommt, hat sie als Sühne Selbstmord begangen. In der Zelle findet er umfassende und vielseitige Holocaust-Literatur und ihr Testament: Michael soll ihre Ersparnisse und etwas Geld, das in einer lila Teedose ist, der Tochter der Frau übergeben, die mit ihrem Kind den Brand in der Kirche überlebte. „Sie soll entscheiden, was damit geschieht.“ (196) Michael findet die Frau in New York; sie behält die Teedose, das Geld wird im Namen Hannas an die „Jewish League Against Illiteracy“ überwiesen. Mit der kurzen „computergeschriebenen“ Antwort in der Tasche besucht Michael Hannas Grab, zum ersten und einzigen Mal.

      Die Novelle „Das Mädchen mit der Eidechse“ greift in konzentrierter Form das dem Vorleser zugrunde liegende Thema der Vergangenheitsbewältigung auf.61 Der Erzähler schildert ein sein Leben von der Kindheit bis in die ersten Jahre des Jurastudiums bestimmendes Urerlebnis: die Wirkung eines Gemäldes. Das Bild ist der Angelpunkt der Erzählung. Es ist geheimnisumwittert. Die Eltern schweigen über seine Herkunft und die Identität des Künstlers. Es führt zu Spannungen zwischen den Eltern, wird vom Vater wie ein Schatz gehütet, von dem niemand wissen darf. Das Bild fasziniert, verzaubert den Jungen, wirkt geheimnisvoll und zugleich bedrohlich, weckt sein leidenschaftliches Interesse und lässt ihm keine Ruhe. Der Junge bemerkt, dass die Eltern etwas verschweigen und erkennt ihre Vorsicht im Umgang mit anderen. Er macht sich scheinbar keine besonderen Gedanken darüber, als der Vater als Richter abtritt, eine gering bezahlte Stellung bei einer Versicherung annimmt und schließlich jede Arbeit verliert, weil er zu viel trinkt. Der Versuch das Rätsel nach dem Tod des Vaters zu lösen, enthüllt zwar dessen Verstrickung in moralischer und juristischer Schuld im Krieg, lässt aber dennoch keine eindeutige Antwort zu. Der Vater hat als Kriegsgerichtsrat in Straßburg Menschen zum Tod verurteilt, hat möglicherweise das Gemälde von einem halbjüdischen Künstler als Geschenk erhalten, weil er der Familie zur Flucht verhalf, möglicherweise aber auch nur zur Aufbewahrung. Da sich aus den Nachforschungen des Sohns ergibt, dass sich in Straßburg jede Spur von dem Maler René Dalmann verliert, entsteht zusätzlich der Verdacht, der Vater habe sich vielleicht am Eigentum des Malers vergriffen, sei selbst für dessen Tod verantwortlich. Die Fragen bleiben unbeantwortet. Vom Vater liegt nur eine juristische Richtigstellung seines Falls vor. Der Sohn nimmt das Bild zu sich, kann sich jedoch nicht dazu durchringen, es einem Museum auszuliefern. Er verbrennt es am Strand und sieht noch für den Bruchteil einer Sekunde unter dem Bild das berühmteste in Ausstellungskatalogen und Kunstgeschichten erwähnte Gemälde des Malers, das er „hatte schützen und auf die Flucht mitnehmen wollen.“ (54) Der Schluss der Novelle stellt die Frage der Selbstverantwortung in grelles Licht: „Eine Weile schaute er den blauroten Flämmchen zu. Dann ging er nach Hause.“ (54)

      Die Handlung in Das Wochenende ist auf Gespräche, Diskussionen, Behauptungen und scharfe Entgegnungen begrenzt. Der Anlass für das Treffen ist die Begnadigung des Terroristen Jörg. Seine Schwester hat auf dem Land in Brandenburg ein Haus gekauft, hat seine und ihre alten Freunde eingeladen, die hier Freitag, Samstag und Sonntag bleiben sollen, holt Jörg vom Gefängnis ab und bereitet


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