Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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menschenumbringenden Zustand.“ (111) Die Kriegseinwirkungen (Bombardierung, zerstörte Gärtnerei, aufgebahrte Tote auf dem Bahnhof, Luftschutzstollen im Berg) finden Parallelen in der Gefühlsverarmung und Geistesvernichtung in der Gesellschaft.

      Streng auf eine Figur konzentriert ist die Abrechnung von Thorsten Becker. Er untersucht in Schmutz (1989) den belegten Kriminalfall des Wachmanns Joseph Schmutz. Die Erzählung erweckt den Eindruck einer Parabel des blinden Gehorsams in einem totalitären Staat. Schmutz glaubt, dass er die nur ihm verständlichen Befehle Gottes (des Führers) durchführt. Schmutz hat das Arbeitsethos der Gesellschaft völlig verinnerlicht. Er hat die Aufgabe ein verlassenes Fabrikgebäude und das anschließende Gelände zu bewachen. Ihm wird vom Oberkontrolleur der Organisation ein Mitarbeiter zugeteilt, der kurz darauf wegen Nachlässigkeit im Dienst wieder entlassen wird. Schmutz, nun allein in der Fabrik, beginnt mit der Planung und Ausarbeitung eines Systems der totalen Überwachung. Er fühlt sich Gott nahe, vergleicht seine Tätigkeit mit der Schöpfungsgeschichte und seine Taten mit denen von Herkules. Er ruht am siebenten Tag aus. Er schreibt an Gott („Ich bin, ich wollte, ich war …“) und berichtet ihm von seinem Werk. Er träumt, hat Visionen, sieht einen zauberhaften Pfau, den er als Boten Gottes deutet und der fortan zu einer wiederkehrenden Vision in seinem Leben wird. Er wird Meister seiner „Wissenschaft“, die den Zauber des Pfaus auf die totale Kontrolle überträgt.39 Ehe Schmutz seine Pläne zu Ende führen kann, erhält er vom Oberkontrolleur die Mitteilung, dass der Kunde das Projekt gekündigt hat. Schmutz soll erst Urlaub machen und anschließend eine andere Aufgabe übernehmen. Schmutz bestreitet das Recht des Kunden, lehnt die Anweisung ab, wird rasend vor Zorn („es ging ums Ganze“, 45) und greift den Vorgesetzten tätlich an. Der Mann entkommt.

      Schmutz hat Zeit gewonnen. Er gerät in einen Schaffensrausch, hört den Pfau schreien, spricht mit Gott, vernimmt den Befehl, „einen Pfau zu machen“, schreit wie ein Pfau, schießt in den Fernseher, schnitzt Pfeile und tötet alle Tauben auf dem Gelände, tummelt sich in einer Pfütze auf dem Hof wie ein Delphin und glaubt, über Ozeane zu segeln. Er kauft Proviant und bereitet sich vor, sein Gebiet bis zum Letzten zu verteidigen. Er steht mit dem Pfau gegen die ganze Welt. Schmutz trifft ein sechsjähriges Mädchen vor dem Tor, nimmt sie mit, vergeht sich an ihr, ermordet sie und tötet anschließend einen Ingenieur und den Oberkontrolleur. In den ihm verbleibenden Stunden sucht Schmutz noch immer Gott. Er kreuzigt den Pfau, rasiert sich kahl, entkleidet sich, betet den Pfau an und hört die Stimme Gottes: „Schmutz, mach den Pfau!“ (126) Der Handlungsverlauf beleuchtet die Gefährdung von Menschen in einem Kontrollsystem, in dem Einzelne absolute Machtbefugnisse ausüben. Jeder, der das Territorium betritt, ist ein Feind und muss beseitigt werden. Schmutz lebt in Wahnvorstellungen und fühlt sich nur „heil“ in aggressiven Taten. Sein Erfahrungshorizont ist begrenzt auf absolute Kontrolle. Er lebt geschichtslos und hat weder eine religiöse noch eine gesellschaftliche Bindung. Religiöse Symbole sind entweder ins Tierische verwandelt oder in Zeitungsillustrationen entstellt. Schmutz schneidet beispielsweise aus Sexillustrierten die Köpfe schöner Mädchen aus und sammelt sie in seiner Schublade. Später betrachtet er nachdenklich die Puppe des von ihm ermordeten Kindes. Das Glücksstreben des Wachmannes zielt auf Entgrenzung. Er will ausbrechen. Das gelingt nur, indem er sich zur Gottheit seiner begrenzten Welt erklärt und sie von allen Eindringlingen säubert. Im Gegensatz zu der Vorstellung einer Banalität der bürokratischen Verbrechen von Lageraufsehern und Beamten konzentriert sich Becker auf das Krankheitsbild des Gehorsams machtbesessener Aufseher: Eichmann und Schmutz erscheinen als Doppelgänger.

      Gleichermaßen bedeutend sind Schilderungen des Orientierungsverlustes in einer ins Mythische gesteigerten Gesellschaft, in der undurchschaubare Mächte das Denken steuern und jede individuelle Entwicklung begrenzen. Faschismus und Kommunismus, NS-Staat und DDR verschmelzen und erscheinen in schwer deutbaren Metamorphosen des Neuen. Die Erinnerung an die Vergangenheit scheint begrenzt auf die Raumperspektive von hoch/tief, in der oben/unten, Himmel/Hades erkennbar sind und die totale Einkreisung der Figuren, die hilflos in Schächten umherirren, vergebens nach oben streben oder in Elektronengehirne fliehen. Die Ich-Suche, der Verlust der Orientierung und die Raumperspektive werden besonders eindringlich in Erzählungen von Jochen Beyse und Wolfgang Hilbig geschildert. Die Darstellungen bevorzugen Motive der Einkreisung: Zellen, Krankenhaus, Altersheim, nebelhaft wirkende Zimmer, Bergwerke, Höhlen, Schächte, Gänge unter der Erde und anonyme Gruppen von Menschen. Die Wohnraumatmosphäre ist trügerisch; die Zimmer bieten keinen Schutz, denn die Bedrohung dringt von außen durch die Medien ein. Darüber hinaus ist die in der Lebensangst wurzelnde Gefahr im Gedächtnis der Figuren und deren zwanghaft grübelnden Reflexionen ständig gegenwärtig. Alle warten auf das Ende. Der Weg aus der Einkreisung führt in den Tod.

      In Beyses Ultima Thule. Eine Rückkehr (1987) und Bar Dom (1995) ist die Vergangenheit erkennbar, entzieht sich aber dem Verstehen. Der Untertitel „Rückkehr“ verspricht eine Wiederbegegnung, die jedoch in unbestimmte Vorstellungen mündet. Der Besucher, der Gouverneur, ein Bildhauer, ein Adjutant und einige Handwerker vermitteln Einblicke in das Phänomen der Osterinsel mit ihren Kolossalstatuen. Die zentrale Frage nach dem Sinn und Entstehen der Statuen wird mehrdeutig beantwortet und verblasst schließlich angesichts unerklärbarer Vorgänge auf der Insel. Die Statuen erinnern den Gouverneur an ein Urchaos auf der Insel: Sie sind vor-figürlich, scheinen noch zu leben, verändern sich nachts und wechseln das Aussehen im Lichtwechsel der Tage. Der Besucher erfährt, dass eine „gigantische“ Höhlenwelt unter der Erdoberfläche existiert, eine Mondlandschaft der Schwärze, ein trostloses Labyrinth, in dem nichts Menschliches waltet, aber in dem die Gefühlswelt und Denkform wurzelt, die die Kolosse entwarf. Scheinbar stehen die Statuen an der Grenze des Raums zum Außermenschlichen. Der Besucher bemerkt, dass die unbestimmten Ahnungen und Vorstellungen des Vergangenen selbst das Dasein in der Gegenwart bestimmen. Er sieht einen Vulkankrater, in dem Insulaner Steine zu Zwergstatuen verarbeiten, um Ordnung in die Welt zu bringen. Der Bildhauer fabuliert vom Tod des ersten Königs der Insel, dessen jüngster Sohn seinen Kopf abschnitt, ihn versteckte und so Anlass zur Gestaltung der Riesenköpfe gab. Der Adjutant berichtet von einem im Verwaltungsgebäude aufgestellten Torso, der atmet, zischt und die Atmosphäre einsaugt. Alle stimmen jedoch darin überein, dass sie in einem unendlich dauernden Augenblick gebannt sind. Jeder Versuch, der Insel zu entfliehen, würde den Verlust der Menschlichkeit zur Folge haben und in den Wahnsinn führen.40

      In den drei Erzählungen der Sammlung Bar Dom versucht der Erzähler, den Ort und in der erweiterten Perspektive seine Zeit zu bestimmen. Seine Orientierungssuche wird zu einem Gang durch Labyrinthe, auf dem sich, den von M.C. Escher gezeichneten Irrgängen vergleichbar, die Raumperspektive ständig verschiebt. Die Beobachtungen des Erzählers werden von kurz aufblitzenden Kindheitserinnerungen und Gedanken an vergangene historische Ereignisse unterbrochen. Die Orte, zeitlos und zugleich zeitnahe, spiegeln historische Prozesse, technische Entwicklungen und den Abbruch der Zivilisation wider. Der Dom, in Einzelheiten des Torbogens und des Chorgestühls als romanisch-fränkischer Bau bestimmt, befindet sich gleichzeitig in Frankreich und Santiago. Die Bauarbeiten außen dienen gleichermaßen der Restauration und der Neugestaltung, da Spielautomaten im Inneren des Doms den Besuchern Religionsersatz anbieten. Der Erzähler betritt den Dom. Die Anlage ist noch ersichtlich; innen ist alles nach oben aufgerissen; steile Wandtreppen mit Stahlgeländern verbinden die Stockwerke; in der Apsis und den Nischen sind Heiligenbilder oder Figuren ersetzt durch Menschen, die hinter Plexiglas in Maschinen sitzen. Der Erzähler ist hypnotisiert, sieht rotierende Elemente in die Höhe schweben, er­blickt ein Trapez, wird plötzlich in eine Uniform gekleidet, steigt nach oben, will fliegen, fürchtet zu stürzen, findet eine Luke und steigt hinaus. Die Luke fällt zu. Er ist fest gebannt und kann nie wieder nach unten. Ganz ähnlich findet sich der Erzähler im Schnittpunkt von Schienen („Glasdreieck“), die in eine Behausung führen, aus der jeder Weg hinaus verschlossen ist: „Es geht nicht weiter …“41 Jedes Nachdenken stößt auf eine Vergangenheit, die undeutbar ist, und auf eine gegenwärtige Realität, die keine festen Konturen hat.

      In Larries Welt (1992) konzentriert sich Beyse auf das Überleben in einer Gesellschaft, in der historische oder kulturelle Überlieferungen bedeutungslos geworden sind. Die Tradition existiert nur noch als Schablone, eine in die Welt gestellte Kulisse. Beyse schildert eine Wirklichkeit, in der eine Überfülle vorbeifliegender Bilder jede vertiefende Konzentration oder Erkenntnis abschaltet. Das andere Extrem ist


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