Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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als unerledigte, unvollkommene Dokumentation erscheint. Die Abrechnung im Gedicht „nach dem zweiten / krieg“ erfasst das Fortbestehen des Alten in der zeitlichen Veränderung:

      nach dem zweiten

      krieg vergaß man beim aufräumen

      einige vokabeln

      aus der welt zu schaffen.

      noch immer nicht

      sind aus der deutschen sprache verbannt

      wörter wie

      unverbrüderlich

      unzertrennlich

      uneinnehmbar

      unbesiegbar.55

      Jurek Becker verfolgt in der souverän gestalteten Erzählung Bronsteins Kinder (1986) die Spuren, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart führen und in der Lösung der Konflikte die Möglichkeit des Vergebens andeuten. Die vorsichtige Sondierung des Gegenwärtigen und Gestrigen erfolgt aus der Sicht des jüdischen Schülers Hans. Becker schildert einen grundlegenden Ausschnitt aus dem Lebensweg von Hans, indem er multiperspektivisch gebrochene, gegenwärtige Erfahrungen und Erinnerungsmuster entwirft, die deutsch-jüdische Beziehungen, den Konflikt zwischen Rechtsstaat und Willkür und Vergeltung und Vergeben objektivieren. Das Zusammenwirken von Individuellem und Gesellschaftlichem wird deutlich in dem scharf profilierten Handlungsverlauf. Der Vater und zwei seiner Freunde nehmen den ehemaligen Lageraufseher Arnold Heppner gefangen, binden ihn in einem Sommerhaus fest, verhören ihn und verlangen ein Geständnis seiner Schuld. Hans überrascht die Gruppe und versucht, seinen Vater von dem widerrechtlichen Handeln zu überzeugen. Er selbst denkt über vergangene Willkür, das Unrecht, die Opfer des Faschismus und die gegenwärtige Situation nach. Er besucht den Gefangenen und ringt sich schließlich zu dem Entschluss durch, den Lageraufseher zu befreien. Er kauft Feilen, um die Fesseln zu beseitigen, kommt nach Hause, wo er den am Herzschlag verstorbenen Vater findet, führt aber seinen Plan durch und befreit Heppner. Hans wird von Freunden des Vaters, Rahel und Hugo Lepschitz, aufgenommen und lebt mit ihnen 1973 bis 1974. Er besteht das Abitur, wird zum Studium zugelassen und hofft auf eine Zukunft, in der die Vergangenheit endlich bewältigt ist.

      Die Darstellung ist konzentriert auf den geistig-seelischen Prozess der Selbstfindung, der in der Auseinandersetzung mit der Familie, der Gesellschaft und der Vergangenheit zu einer höheren Stufe der Selbsterkenntnis führt. Zwischenmenschliche Beziehungen werden erschwert durch die Reaktion der Umwelt auf die „jüdische Frage“ und durch die konkrete Situation des Sohnes, der mit seinem Vater lebt – die Mutter ist verstorben, die Schwester lebt in einem Krankenheim – und die Welt aus eigener und dessen Sicht erlebt. Der Vater ist verschlossen. Kleine Missverständnisse erschweren das tägliche Leben. Hans stellt fest: „Ich hörte ihn seufzen und wollte etwas Tröstliches sagen, doch als ich mich umdrehte, saß er nicht mehr da. So war es immer: immerzu war einer gekränkt, immerzu mußte der andere sich plagen, das Elend wieder aus der Welt zu schaffen.“56 Hans steht den oft gehörten Erzählungen des Vaters „kühl und skeptisch“ gegenüber und findet, er sei unwillig den Umschwung im Denken der jungen Generation zu verstehen. Hans ist beliebt in der Schule, aber wird anders, vorsichtiger behandelt, sobald man weiß, dass er Jude ist. Ein Vorfall im Duschraum, wo Hans seine Badehose nicht auszieht, belegt, dass auch er sich zuweilen als Außenseiter sieht. Positive und negative Vorurteile bestehen fort. Die Freundin Martha findet Arbeit als Komparsin und spielt eine Jüdin mit gelbem Stern. Sofort findet man, sie sehe „echt“ jüdisch aus. Die Komparsen sitzen in Pausen als Gruppen: die SS-Soldaten zusammen und gegenüber die Juden nebeneinander. (196ff.) Die Gefangennahme des Lageraufsehers und die Diskussionen der Beteiligten veranschaulichen die nahezu unüberbrückbaren Vorstellungen vom gegenwärtigen Staat. Hans ist sicher, dass jedes Gericht den Mann ohne Sympathie und aus Überzeugung verurteilen werde. Der Vater dagegen glaubt, der Aufseher wird nur verurteilt, weil „ihnen nichts anderes übrigbliebe.“ (129) Hans kämpft gegen die Unvernunft, findet die Opfer haben kein Recht, sich über die Gesetze zu stellen, und fürchtet sich, in einem Land zu leben, in dem sich jeder selbst zum Richter ernennt. (136–140) Aber er erkennt die ständige Gereiztheit der überlebenden Juden. Ihre Vorstellung vom Deutschtum war literarisch und philosophisch gefärbt. Die Wirklichkeit entsprach nie und entspricht auch jetzt nicht dem Ideal.

      Pascal Bruckner kommt in seiner ausführlichen und überzeugenden Untersuchung des weitverbreiteten Schuldgefühls in der westlichen Welt zu einem vergleichbaren Ergebnis. Er findet, Schuldkomplexe entspringen der Überzeugung, dass der Verlauf historischer Entwicklungen nicht der Idealkonzeption gesellschaftlicher Reifung entspricht. Die Vorstellung eines Ablaufs der Geschichte in die Richtung höherer Sittlichkeit verurteilt alle, die an den Fehlentscheidungen des 20. Jahrhunderts beteiligt waren. Darüber hinaus verurteilt dieser Wertmaßstab die gegenwärtige Generation zum Schweigen.57 Bernhard Schlink hat sich in Essays und Vorträgen mehrmals eingehend mit der Vergangenheit, mit Schuld und Sühne auseinandergesetzt. Er hat die angeschnittenen Fragen außerdem überzeugend in einigen Erzählungen entwickelt. Da Schlink Jurist ist, kommt seinen Feststellungen der gesetzlichen Verantwortung für Straftaten besondere Bedeutung zu. Wie viele in der vorliegenden Darstellung aufgenommenen Kritiker und Autor(inn)en ist er überzeugt davon, dass Auschwitz und der Holocaust unter dem Zeichen der Unvergänglichkeit stehen. Die Katastrophe, in der die Grenze zwischen Gut und Böse eindeutig war, hat Wunden gerissen, die schwer zu heilen sind und „wieder aufbrechen können“. Schlink geht davon aus, dass sich alle mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen müssen, um einen Weg zum Geschichtsverständnis zu finden. „Der Vergangenheit in die Augen sehen – das heißt sehen, daß die Vergangenheit uns anschaut, uns stellt und daß wir ihr furchtbares Angesicht letztlich nur ertragen können, wenn wir entweder gleichgültig und zynisch werden oder aber etwas entgegenzusetzen haben. Letztlich heißt, der Vergangenheit in die Augen sehen, eine Entscheidung treffen. Zunächst heißt es, die Herausforderung ihres furchtbaren Angesichts annehmen.“58 Dieses Gegenübertreten verlangt die Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne.

      Die Erwägungen in Vergangenheitsschuld (2007) kommen zu Ergebnissen, die in jeder Aufarbeitung der Vergangenheit zu berücksichtigen sind. Schuld kann nicht nur im Handeln Einzelner, sondern in geschichtlichen Abschnitten wurzeln. Deshalb können Generationen schuldig werden oder sich schuldig fühlen. Diese Schuldgefühle entstehen in Personen aus der Empfindung, zwar nicht strafbar gehandelt zu haben, aber Zeuge der Ereignisse gewesen zu sein. Somit konnten Menschen schuldig werden, wenn sie keinen Widerstand leisteten oder Widerspruch erhoben. Diese Beobachtung setzt ein Ideal des persönlichen Verantwortungsbewusstseins, der Moral, Sitte, Religion voraus, das unter einer Diktatur, in der Menschen schon vor einem Parteiabzeichen erbleichten, kaum denkbar war. Schlink lehnt jedoch die Vorstellung kollektiver Tatschuld ab. „… es gibt Schuldübertragungen weder in der Horizontalen, unter Angehörigen einer Generation, noch in der Vertikalen, von einer Generation auf die nächste. Kollektivschuld, bei der alle Glieder des Kollektivs schuldig sind, weil einige schuldig sind, ist mit dem juristischen Begriff der Schuld unvereinbar.“59 Er erkennt jedoch, dass die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Volk „Solidarität“ stiftet, die Befangenheit, Scham und Schuldgefühle hervorruft, die den rechtlichen Schuldbegriff sprengen. Die einzige für die Nachkriegsgenerationen, aber wahrscheinlich für viele nicht denkbare Entscheidung wäre, sich von der Vergangenheit der Eltern loszusagen. (32–33) „Gerade weil die Vergangenheit die gegenwärtige Identität mitkonstituiert, gehört zum Umgang mit ihr, sich von Vergangenem loszusagen, mit Vergangenem zu brechen und, so es um kollektive Vergangenheit geht, diejenigen abzulehnen und auszugrenzen, deren individuelle Vergangenheit der kollektiven nicht zugerechnet werden soll.“ (78)

      Zuweilen verhüllte, manchmal klar ersichtliche Stellungnahmen zu diesen Fragen bestimmen den Erfahrungshorizont der Figuren in Schlinks Erzählungen Der Vorleser (1995), „Das Mädchen mit der Eidechse“ (2000) und Das Wochenende (2008). Die Handlung des Bestsellers Der Vorleser verknüpft in klar umrissener Folge von Ereignissen die alltägliche Geschichte eines Jungen, der sich in eine ältere Frau verliebt und mit ihr ein Verhältnis hat, mit dem Problem der Vergangenheitsbewältigung, das unter dem Vorzeichen „Auschwitz“ steht. Der fünfzehnjährige Michael Berg verliebt sich in die Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz. Das Verhältnis gibt dem „Jungchen“, wie sie ihn nennt,


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