Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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und politischen Entscheidungen von Spielern in einer anonymen, undeutbaren Organisation getroffen werden, wird jedoch mit dem Verlust der Menschenwürde bezahlt. Der Substanzverlust in verantwortlich-ethischem Handeln ist ersichtlich im Spiel mit Menschen. Menschen werden nicht angesprochen, sondern existieren nur als Elemente in der Datenverarbeitung. Larrie, die Figur im Mittelpunkt des Geschehens, versucht auch nicht, historische Prozesse zu verstehen, die Welt zu erkennen oder sein Ich zu deuten. Seine Existenz spiegelt Krankheitssymptome der Massengesellschaft wieder. Er fühlt sich ständig beobachtet und bedroht, wandert zuweilen ziellos durch unbekannte Straßen und lebt in einem anonymen Hotel. Larrie schwankt zwischen dem Wunsch unterzutauchen und dem Verlangen auszubrechen. Er fügt sich den Anweisungen der anonymen Organisation, lässt sich operativ verändern und nimmt einen anderen Namen an. Er will überleben. Da seine Welt eigentlich die zur Formel gewordene virtuelle Wirklichkeit des Internets ist, beschließt er, in die Öffentlichkeit zu fliehen. Im Programm zu sein, von allen gesehen zu werden, bietet Sicherheit. Das in alle Länder ausgestrahlte Ich erhält ein Wesen. Larrie beteiligt sich an einem weltweit übertragenen und von einem Quizmeister geleiteten Ultra-Quiz. Das Quiz ist als Wettlauf arrangiert, in dem alle Teilnehmer versuchen, an der Spitze zu landen. Während des alle Kräfte überfordernden Rennens durch Wüsten, die scheinbar ins Unendliche münden, durchläuft Larrie zahllose Phasen eines Lebens. Er gerät in Erregungszustände, verkommt, verschlingt das Essen wie ein Süchtiger, um den Körper zu erhalten, wird verletzt, weiß nicht mehr, ob er an einem Wettlauf oder Krieg teilnimmt, halluziniert, denkt an sein früheres Leben und lebt sich schließlich in die Rolle des Spielers ein. Die einzige noch mögliche Erfahrung eines Gefühls bietet der Höchstleistungsanspruch des Wettkampfs. Er erkennt, die Erfahrung seines eigenen Ichs ist nur in der Behauptung seines ferngesteuerten Willens im Exzess der Leistung möglich. Er rennt im Käfig der Welt. Er sieht sich auf dem Bildschirm rennen. Er glaubt an diese Existenz. Sie bietet Halt. Die virtuelle Phantomwelt der ablaufenden Bilder schafft die Illusion der möglichen Orientierung. Dagegen bezeugt alles, was in Larries Visionen der Wirklichkeit auftaucht, den völligen Verlust jeder Orientierung. Die Menschen sind von Kulissen umgeben. Die Natur ist verbraucht. Die Geschichte, die geistige Tradition und das kulturelle Erbe sind entwertet. Die Menschen schwanken wie Larrie haltlos zwischen Extremen. Einmal liegt er in der Gosse und wacht auf, nachdem Kinder auf ihn urinieren; ein anderes Mal möchte er „liegen und dienen, einem Menschen dienen.“42 Larrie spielt Westfront, denkt an seine Frau, die von einem Patienten ertränkt wurde, will beichten und sieht am Ende doch nur ein Mikrophon heranschweben. Er taumelt davon, hastet durch Gassen, findet sein Hotel und sein beschmutztes Bett. Als er zu sich kommt, ist die Welt nicht wiederzuerkennen. (299) Er zieht sich an und geht davon. Die Mullbinden seines Verbands, ein Zeichen seiner Wiedergeburt, bleiben im Zimmer. Das Ende der Erzählung ist nüchtern und entspricht den Metamorphosen Larries. Er bricht nicht auf zu neuen Ufern, sondern kehrt in den Lärm der Welt zurück. Er ist aus der Vernetzung aller Lebensbereiche entstanden und bleibt eine Datengestalt. Auf der Projektionsfläche Cyberspace entsteht kein neuer Mensch. Aus den Wundern und Reizen der neuen Welt blicken noch immer die Augen der anderen und unter ihnen, bis zum Selbstverlust verloren, das Auge des Ich.

      Die Ermittlung der Vergangenheit erscheint in Beyses Ferne Erde (1997) als Befragung von Erinnerungsbildern, die spontan auftauchen. Der Erzähler verfolgt im Verlauf einer Nacht, im Zimmer eingeschlossen, die Spuren von Bildern, Eindrücken und Ahnungen, die Form annehmen. Die Substanz der Wahrnehmung bleibt schemenhaft, da alle festen Konturen verschwimmen. Die Bilder erhellen deshalb nicht die Realität, sondern den geistigen Zustand des Beobachters. Er belauscht sein Sprechen, befragt seine Gedanken, erfährt einen Zustand quälender Reflexion. Jeder Gedanke, jede Erinnerung löst neue Assoziationen aus. Historische Ereignisse haben keine bestimmbare Form. Alles ist gegenwärtig: eine Stunde in Licht und Dunkel, eine Stunde unendlicher Möglichkeiten, die letztlich Unmöglichkeiten sind. Was bleibt ist die Suche nach einer Sinnstiftung im Leben, einen Weg aus dem Irrweg der Eindrücke zu finden. Die Erzählung schließt mit dem Satz: „Hellwach wollte ich irgendein Ende, einen Abschluß, der von der Verantwortung befreite, dem Morgen einen Sinn zu geben.“43 Eine Sinnstiftung scheint jedoch ohne klare Einsicht in die Vergangenheit nicht möglich.

      Konkret und zugleich ins Mythische gesteigert ist die Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart in Hilbigs Alte Abdeckerei (1991). Die Beobachtungen des Wohnorts, des Landstrichs und des Staates beleuchten die Verseuchung der Welt. Asche vom Brennen der Braunkohle verschmutzt Häuser und Erde. Neben welken Krautfeldern rinnen schaumbedeckte Bäche. Die Teiche sind milchfarben; Bahngleise sind von Unkraut überwachsen; unter dem Rasen fangen sofort Schächte an; inmitten der überwältigenden Öde der trostlosen Landschaft geschleifter Fabriken und verlassener Bergwerke steht die Abdeckerei Germania II. Die Abdeckerei hat SS-Offiziere und NS-Bewacher übernommen und als Sicherheitsbeamte angestellt. In den tiefen Schächten schaffen die Abgeladenen und Abgedeckten der Vergangenheit neben neu Hinzugekommenen. Die Gesellschaft oben auf der Erde hat sich verbrüdert. Aggressoren und Opfer, Kriminelle und Sicherheitsbeamte, „Deutsche, Polen, Russen, Staatenlose, Abtrünnige … Kommunisten und Nazis … die Gesuchten und ihre Ermittler“ hausen zusammen.44 Die in der Abdeckerei aus Tierkadavern hergestellte Seife dient dazu das ganze Land einzuseifen. Die Welt verdummt. Die Einwohner starren auf „schmierige Fenster“, „seifigen“ Nebel, gedunsene Mauern, fettbedecktes Wasser und atmen den „schwindelerregenden“ Geruch ein. Was bleibt ist Resignation: „Totes Land, ödes Land riefen die Männer, und ihre Stimmen trugen die Müde weithin über das Territorium.“ (92) Das Fazit: Der Staat, der die Vergangenheit ohne kritische Sichtung übernommen hat, strahlt eine lebensverseuchende Krankheit aus. Hilbig fängt diese Bedrohung besonders eindrucksvoll in dem Kurzbericht des Lebens des Heizers und Schriftsteller-Beobachters C. ein. Die Öfen sind von Braunkohle verschmutzt und bleiben stehen. Sie entladen eine katastrophale Rußmasse, die als gewaltiger Dreckpilz über dem Land steht und alles Leben gefährdet.45

      2.3. Schuld und Sühne

      Der Erzähler-Kommentator in Thomas Manns Doktor Faustus (1947) wirft im April 1945 einen Blick auf die letzten Tage des NS-Reiches, die „sich rapide ausbreitende Katastrophe“, den Untergang der Städte und die Befreiung der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald. Er stellt fest: ein amerikanischer General lässt die Einwohner Weimars an den Krematorien „vorbeidefilieren“ und zwingt sie, das anzusehen, was aufgebrochen ist: „offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könne. Ich sage: unsere Schmach.“46 Von dieser Feststellung einer kollektiven Schuld, zu der sich der liberale frühpensionierte Gymnasiallehrer Serenus Zeitblom bekennt, führt eine kaum überschaubare Linie über Historikerkontroversen, Auschwitz-Diskussionen, Bekenntnisse, Hinweise auf die Tatsache, dass manche Zeitgenossen absolut ahnungslos waren, und literarische Ortungen bis zu Bernhard Schlinks Bemühungen, das Verhältnis von Schuld, Sühne und Vergebung zu klären.

      Der Begriff der Kollektivschuld setzt voraus, dass das gesamte deutsche Volk in den Jahren der NS-Regierung schuldig geworden ist, da der Massenmord ein ganzes Volk für seine Verwaltungsmaschine brauchte.47 Die Schuldfrage und Schande der Nation wurde 1998 von den Medien aufgegriffen und in Zeitschriften, im Fernsehen und Rundfunk leidenschaftlich diskutiert. Der Anlass war die Rede, die Martin Walser bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt. Walser lässt die Gefühle und die Bewusstseinslage der Nicht-Betroffenen, der Nachkriegsgeneration und der Jugend zu Wort kommen, die nicht ständig an die deutsche Vergangenheit, an Krieg und Auschwitz erinnert werden wollen. Er betont, die „Dauerpräsentation unserer Schande“ sei zur „Keule“ geworden, die bei jeder Gelegenheit gegen die Deutschen geschwungen wird. Auschwitz ist „instrumentalisiert“. Und der Ansturm der Schande sei ein Ritual, der Zwang zum Erinnern sei Routine geworden. Ignatz Bubis vom Zentralrat der Juden in Deutschland entgegnete entrüstet, dass Vergehen gegen die Menschlichkeit nie verjähren. „Forderungen mögen verjähren, Moral jedoch nicht.“48

      In den Diskussionen kam kaum etwas zu Wort, das nicht eingehender in der Literatur erörtert wurde. Beispielsweise schildert Ortheils Roman Schwerenöter (1987) die Entwicklung zweier Brüder vor dem Hintergrund vierzigjähriger


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