Vergangenheit. Horst S. Daemmrich

Vergangenheit - Horst S. Daemmrich


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Innen- und Außenpolitik, Reise in die USA, Rombesuch und Ausblick: Josef wird Abgeordneter, Johannes Schriftsteller) wird gestrafft durch eine Darstellung, die in beständiger Befragung Zusammenhänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzeigt. Die Gespräche und ernsten Überlegungen des Erzählers Johannes werden aufgelockert durch Berichte pikaresker Abenteuer der Jungen in der Schule und während ihres Aufenthalts in Amerika. Besonders aufschlussreich sind die grundverschiedenen Ansichten von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit und historischen Entwicklungen, die in Gesprächen, Generationskonflikten und Debatten der Schüler anklingen. Das Thema kollektiver Schuld und die Aussicht auf Vergebung gibt dem Aufenthalt der Jungen in New York im Haus der jüdischen Familie Rothbuch sein besonderes Gepräge.

      Daniel Rothbuch, der 1938 mit seinem Vater Deutschland verlassen musste, lädt Johannes und Josef ein, damit seine eigenen Kinder Tom und Susan ein „unvoreingenommenes Verhältnis“ zu Deutschland und den Deutschen herstellen können. Auch sie sollen Deutschland besuchen. „Es ist wichtig, ja, es ist sehr wichtig.“ Kurze Vignetten beschreiben das Leben im Haus der Familie, in New York, Besuche der Stadt und Museen. Am letzten Tag des Aufenthalts findet eine Aussprache zwischen Daniel und Johannes statt. Das Gespräch ist aufschlussreich: „Am Anfang aber dachte ich, es könnte schwierig werden.“ – „Warum schwierig?“ – „Wegen des Großvaters. Du wirst es kaum verstehen, du bist noch sehr jung; Großvater mußte Deutschland 1938 verlassen, er emigrierte mit mir in die Staaten. Bis heute habe ich das Land nicht mehr wiedergesehen. Er haßt es, und er haßt seine Menschen. Er hält sie für Faschisten und Mörder, die sich eine neue Tarnung zugelegt haben. Glaub ihnen nicht! sagte er, als Kennedy sich auf die Reise machte. Er dachte die Deutschen würden ihn umbringen. Er traut ihnen alles zu, sie haben seine Eltern und meine Mutter ermordet, für ihn sind es die Teufel der Geschichte, die alles Böse in sich vereinen. Sie haben den Krieg begonnen, sie haben Millionen von Menschen getötet, sie haben Konzentrationslager gebaut, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat. Großvater hat das alles nie vergessen können.“ – „Und Ihr habt uns trotzdem eingeladen?“ – „Ich habe lange mit Mary darüber gesprochen. Aber es war der einzige Weg, wieder Kontakt mit Deutschland aufzunehmen, verstehst Du? Wir wollen junge Menschen wie Dich und Deinen Bruder kennenlernen. … und nun bin ich sehr froh, daß Ihr hier gewesen seid.“49

      Der Besuch stürzt die Zwillinge in Gewissenszweifel und veranlasst eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Besonders aufschlussreich für Fragen von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit, Haltung zur Vergangenheit sind die Diskussionen in der Schule nachdem Josef und Johannes von ihrem Aufenthalt in den USA heimkommen. Josef beschafft sich Bücher über das Dritte Reich, liest und kommt zu der Überzeugung, dass das Reich bis in die Gegenwart reicht. Er sieht seine Lehrer in neuem Licht, ist beunruhigt, wenn sie „scheinbar harmlos von ihren Kriegserlebnissen berichteten“ (314), und kommt schließlich zu der Überzeugung, dass die Vergangenheit eine unabgeschlossene Akte ist. Die Zeit des Nationalsozialismus ist „unvorstellbar“, nicht verjährt, „alle Phantasie reiche nicht aus, sie zu verstehen.“ (323) Aber gerade weil der Rückblick ein „Gefühl völliger Ohnmacht“ hinterlassen kann, besteht Josef auf der kritisch-geistigen Ermittlung. „Daher müsse man, wenn man denn schon aus der Geschichte lernen wolle, fragen, was damals mit diesen Menschen geschehen, wie es dazu gekommen sei, und wie gerade diese Menschen die Gegenwart erlebten, voll mit jenen Bildern des Verrats und des Mordens, die man doch nicht wie Albumaufnahmen mit sich herumtragen könne?“ (323–324) In diesem Appell an die persönliche Verantwortlichkeit, zu der sich der Erzähler in der Niederschrift bekennt und die Josef als Politiker verwirklichen will, kommt der Geist der historischen Bewusstseinslage klar zur Geltung. Die Vergangenheit verneinen, heißt die Zukunft verneinen. Die Vergangenheit anerkennen, heißt die eigene Situation verstehen und die Zukunft anerkennen.

      Die Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Einstellungen bietet die Grundlage für eine Gesamtschau der Unsicherheit und Ratlosigkeit der Bevölkerung während der Kriegsjahre.

      Die Erzählung verleiht einerseits den Verstummten Sprache,50 andererseits zeigt sie das wachsende Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart. Die Geschichte ist ein unabgeschlossener Vorgang, in dem zeitbedingte Umstände zuweilen die Initiative der Menschen begrenzen, aber nie deren persönliche Verantwortlichkeit aufheben. Der Mentalitätswandel ist möglich. Josef fühlt seine eigene Verantwortlichkeit. Johannes erfährt sie im Aufschreiben der Ereignisse.

      Die geschichtliche Naivität der Jugendlichen in Schwerenöter findet ihre Entsprechung in der Ahnungslosigkeit mancher Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Ein wichtiger Gesichtspunkt in der Erinnerungsliteratur ist die von de Bruyn, Grass, Maron und Ortheil angedeutete Situation, dass zahlreiche Menschen in den Jahren der NS-Zeit keine zuverlässige Information hatten. Manche wussten nichts, manche hatten Angst und viele verschlossen die Augen. Der Rückblick verwandelt das Vergangene in ein andersgeartetes Geschehen: „Die 45 Jahre, die das Tagebuchschreiben vom Wiederlesen trennen, haben die Erinnerung an manche Ereignisse, die damals erwähnenswert schienen, getilgt; andere, die verschüttet waren, wurden durch das Lesen wieder freigelegt; und wieder andere, die nie vergessen waren, lassen deutlich werden, was der Chronist verschweigt oder entstellt. Ob das aus Vorsicht, aus Unfähigkeit oder in selbstbetrügerischer Absicht geschah, ist im Einzelfall nicht auszumachen, insgesamt herrscht aber der trübe Eindruck vor, daß dieser Knabe von 14 Jahren hier konformes Verhalten übt.“51 Er konstatiert weiterhin die Ahnungslosigkeit der Kinder, die nicht ahnten, welchen Hass sie in Kattowitz erregten, wenn sie „als uniformierte Masse auftraten“ (112), und seine Unkenntnis brutaler Verbrechen: „nie aber hatte ich von der Ermordung jüdischer Menschen (vielleicht weil ich nie nach ihnen gefragt hatte) auch nur andeutungsweise gehört. An keinen Gedanken an sie, an kein Gespräch über sie, ob mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen, kann ich mich aus der Zeit nach ihrer Deportation erinnern.“ (244) Darauf folgen Hinweise auf die beständige Angst. Die Zeit nach dem Kriegsende mit den Anfängen im sozialistischen Osten steht unter der Kurzformel: „Kollektivismus oder Individualismus“. Erst die kritische Ortung im Rückblick verleiht diesen Jahren ihre besondere Eigenheit.52 Was in diesen Beobachtungen deutlich hervortritt, ist ein bisher kaum beachteter Faden, der durch den Erinnerungsdiskurs verläuft: Die Ahnungslosigkeit wird zur Diskussion gestellt. Sie kann sich, besonders in dem Verfahren der Reihung von Einzelheiten unter bewusstem Verzicht auf Sinndeutung im Schaffen Kempowskis, auf das Lesepublikum übertragen, das dann diese Ahnungslosigkeit verspürt und sich mit ihr auseinandersetzen muss.

      In der Literatur zeichnet sich eine ausgeprägte Konzentration auf individuelle Figuren, einzelne Situationen oder erkennbare Familien in der Thematisierung von Schuld, Sühne und Verantwortung ab. Das „Volk“ muss konkrete Form annehmen, um literarisch wirksam zu sein. Das ist deutlich in Handlungsführung und Figurenkonzeptionen in den Romanen von Bienek, Kempowski und Ortheil. Es ist beispielsweise klar ersichtlich in der Erzählung Winterspelt (1974) von Alfred Andersch. Er erfasst im Handeln Einzelner – Major Dincklage, Käte und Hainstock – die allgemeine Situation. Schuld und möglicher Widerstand kommen zu Wort. Hauptsächlich geht Andersch im Rahmen seiner Darstellung der Kämpfe um das in der Nähe der belgischen Grenze gelegenen Eifeldorfes der Frage nach, inwiefern einzelne überhaupt die kriegerischen Entwicklungen beeinflussen können und kommt zu dem Schluss, dass einzelne im Ausnahmezustand sicherlich verantwortungslos oder verantwortlich handeln, aber das ablaufende Geschehen nicht ändern können. Der Erzählverlauf beleuchtet individuelle Überlegungen und Entscheidungen, spontane Handlungen, ethische Fragen, Zögern und Unterlassungssünden. Das Erzählverfahren weist in der Verwertung historischer Fakten, biographischer Einzelheiten und von Dokumenten bereits auf die chronistische Erzählweise Kempowskis hin. Im Gegensatz zu Kempowskis distanzierter Bestandsaufnahme betont Andersch immer wieder die Notwendigkeit des verantwortlichen Handelns, dem sich Einzelne nicht mit der Annahme, der historisch ablaufende Prozess sei unkontrollierbar, entziehen können.

      Darüber hinaus lässt sich in vielen Werken in der Annäherung an die Vergangenheit ein Prozess des historischen Bewusstwerdens nachweisen. Nicht nur der Krieg, sondern die gesamten Jahre der Naziherrschaft erscheinen als Ausnahmesituation. Das Leben in dieser Zeit wird zum Grenzerlebnis, das alle tradierten Vorstellungen sprengt. Menschen sind physisch und geistig gefährdet. Die existenzielle Bedrohung ist allumfassend. Und wie Dieter Wellershoff 1995 in Der Ernstfall feststellt, konnte sich der Einzelne unter diesen Bedingungen


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