Vergangenheit. Horst S. Daemmrich
Erzählungen (Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Genrebilder), Interviews und Debatten der Autor(inn)en der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen von 1945 bis 1985 haben sowohl die Erinnerung an Nationalsozialismus, Holocaust und Krieg als auch die Deutungsmuster der Vergangenheit maßgebend geprägt. Trotz einer scheinbar faktisch abgesicherten Grundlage sind die darauf aufbauenden, kulturell erworbenen Bewusstseinsbilder literarische Erkundungen. Sie sind einerseits individualisiert, da Erzählungen die Ereignisse aus der Perspektive und Erlebnissphäre Einzelner gestalten. Andererseits erhalten sie eine Abstraktion des Allgemeinen oder Typischen durch die unterschiedlichen Erzählverfahren, durch eingeflochtene Kommentare und Fragen an die vorausgegangene Generation, die manchmal zu Familienzerwürfnissen führen. Fragen, Dialoge und Selbstgespräche erweitern die historische Sicht, in der sich dann ein mögliches Geschichtsverständnis anbahnt. Die politischen Debatten über Kollektivschuld, Verbrechen, Nazi-Opfer, Holocaust, Schlussstrich, geteiltes Deutschland, Wiedervereinigung und Leiden einer verführten Generation kommen in den Darstellungen zu Wort. Die Vergangenheit spricht immer mit, wenn Autor(inn)en literarische Figuren entwerfen, die über sich nachdenken und ein persönliches Selbstverständnis entwickeln, das sich nicht von dem nationalen Selbstverständnis trennen lässt.
Die ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit setzen Zeichen, sind richtungsweisend und schaffen in Gestaltungen des thematisierten Krieges und den damit verknüpften typischen Motiven der Todesfahrt, der verkehrten Welt, des Chaotischen, der Umwertung von Farben wie etwa schwarzer oder roter Schnee, der rauchenden Gaskammern und Stimmen im Wind die Voraussetzung für eine Tradition, die bis heute fortbesteht. Sie stellen keine Versuche einer umfassenden historischen Aufarbeitung dar. Sie vertreten mit Ausnahme der aus der Emigration in die sowjetische Besatzungszone und spätere DDR heimgekehrten, engagierten Schriftsteller keine eindeutige politische Einstellung. Was vorherrscht ist ein Misstrauen gegenüber jeder Politik, eine allgemein demokratische Haltung und die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Wichtig ist das zentrale Anliegen, die jüngste Vergangenheit mit einer neuen Sinnstiftung zu konfrontieren. Das Gestern erscheint im Spiegel des Andersseins, das im Gegensatz zu den Rückgriffen auf die Antike nicht vorbildlich wirkt, sondern kritische Distanzierung fordert. Das Individuum wird aufgerufen, im Willen zum Mitleben eine neue lebenswürdige Grundlage des Daseins zu schaffen. Aichinger, Apitz, Böll, Bredel, Borchert und Celan rechnen ab und klagen an. Die Bestandsaufnahmen verzichten auf Ambivalenz. Sie gehen von der Überzeugung aus, dass alle am Krieg Beteiligten schuldig waren. Der charakteristische Standort der erzählenden Stimmen ist der eines Richters, der zugleich die Indizien der Anklage vorlegt. So entsteht die eigenartige Situation, dass selbst dann, wenn zentrale Figuren im Handlungsverlauf gezwungen werden ihr Versagen anzuerkennen, der Grundzug der Erzählperspektive im Ordnungsgefüge eines möglichen sittlichen Handelns verankert bleibt.27
Die Stimmen unterscheiden klar zwischen gut und böse, Täter und Opfer, Recht und Unrecht, Schuld des Handelns und Sünden des Unterlassens. Diese Haltung bedingt eine Dialektik von Identitätsverständnis und eines möglichen Andersseins, das im Ruf an das Gewissen zu Wort kommt. Der menschlichen Identität zugeordnet ist die Freiheit und gleichermaßen die Unfreiheit des Willens: Die Freiheit, denkend an einer Sinnstiftung des Daseins mitzuwirken, die Unfreiheit, sich im Handeln und Unterlassen den in historischem Verlauf wechselnden, zeitbedingten und konkret zweckbezogenen Vorstellungen anzupassen. Dem Anderssein zugeordnet ist ein Prinzip der sittlichen Ordnung und möglichen Vollkommenheit. Es ist ein Entwurf der reinen Vernunft, nicht historisch ableitbar, aber dennoch sittlich sinnstiftend im Dasein verankert. Daher zögert Aichinger nicht den Morgenstern, Apitz nicht die kommunistische Utopie und Borchert nicht Gott und den Anderen in die Texte zu übernehmen. Jedes Erkennen des Andersseins verlangt verantwortliche Entscheidungen und Selbsterkenntnis. Viele Texte schildern, wie einzelne Figuren in der Grenzsituation des NS-Staates und der Ausnahmesituation des Krieges in Ereignisse verwickelt werden, in denen sie verantwortlich, das bedeutet im Zusammenhang der Texte grundsätzlich sittlich handeln sollten, aber in tragischer Verstrickung oft schuldig werden. Der Begriff der Verantwortlichkeit ist in der juristischen und der ethischen Sinndeutung dem Begriff der Schuld, einer möglichen Verschuldung beigeordnet. Das bedingt, selbst wenn die frühen Texte den Sachverhalt nur kurz belichten, außerordentliche Lebenskrisen. Sie kommen zu Wort, als Beckmann die schweren Folgen seiner Ausführung eines Befehls erkennt,28 wenn die Krankenschwester in Borcherts „An diesem Dienstag“ aus dem Lazarett an ihre Eltern schreibt: „Ohne Gott hält man das gar nicht durch“ (194), wenn ein Heimkehrer in Bölls „Als der Krieg zu Ende war“ monatelang darüber nachdenkt, wo „die Grenze zwischen Haß und Verachtung verläuft“, und als er sie nicht finden kann sagt: „ich wäre lieber ein toter Jude als ein lebender Deutscher“29, oder wenn Feinhals und Heinrich Fähmel erfahren, dass Unterlassung und selbst der Widerstand zu menschlicher Verschuldung führen.30 Die Krise wird zum Wendepunkt im Leben des Lokomotivführers Franz Ossadnik in Bieneks Zeit ohne Glocken. Er ist ein Mitläufer, erfüllt seine Pflicht, fährt täglich mit seinem Zug in das Vernichtungslager Birkenau und erkennt eines Tages plötzlich auf dem Bahnsteig in den auf den Abtransport wartenden Menschen seine Nachbarn und Mitbürger aus Gleiwitz. Die anonyme Menge nimmt plötzlich Gestalt an. In der Nacht sagt er seiner Frau, er habe sich freiwillig zum Frontdienst gemeldet, denn die Arbeit als Lokomotivführer könne er nun nie mehr tun.31 In anderen Erzählungen erscheint die Krisensituation als Forderung, unter keinen Umständen nachzugeben, sondern zu handeln. Deshalb ringt sich Ellen in Aichingers Die größere Hoffnung zur Einsicht durch: Du musst handeln. Du musst Dein eigenes Ausreisevisum unterschreiben.32
Nicht zu übersehen sind Dokumentationen, die in der Gegenwart die Verfehlungen der Vergangenheit wieder entdecken. Milo Dor konstatiert in der mit der Beschreibung des Lebens von Mladen Raikow verflochtenen Bestandsaufnahme der Kriegs- und Nachkriegsjahre sachlich und scheinbar unbeteiligt einen Kreislauf des Bösen. Dors Technik der narrativen Umzingelung der zentralen Figur vermittelt Einblicke in Mladens Existenz durch Überlegungen zahlreicher Figuren – Verwandte, Bekannte, Freunde, Beobachter und Autor. Sie findet eine exakte Parallele in der historischen Situation, in der sich nichts ändert. Mladen ist eingekreist. Die Machthaber wechseln, aber Deutsche, Jugoslawen, Russen, Österreicher foltern, schinden, unterdrücken und vergewaltigen ihre Opfer. Mladen, ursprünglich standhaft, ist am Ende zermürbt und völlig desillusioniert. Die Bewusstseinslage in der österreichischen Zweiten Republik ist eine des Vergessens und der Anpassung an die neue Wirklichkeit. Mladen weiß, dass man in Mitteleuropa heute nicht ohne weiteres Menschen umbringt, kann sich aber vorstellen, dass man „einfach Passanten zu einer bestimmten Stunde anhält, verhaftet und über den Haufen schießt.“33 Die Raikow-Saga ist wie Ransmayrs Morbus Kitahara ein Dokument der Resignation und trägt in der Gestaltung eines möglichen Fortbestehens der Unbelehrbarkeit der Menschen zum historischen Verständnis bei.
In zahlreichen Schilderungen ist der Ruf an das Gewissen verschleiert, aber impliziert. Johannes Bobrowski ortet in einem der längsten Sätze der Literatur seiner Zeit die mit der deutschen Vergangenheit verflochtenen Themen. „Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch“ führen gezielt von den Nachrichten von Massenmorden an Juden über Schweigen, Verneinen, Ahnungslosigkeit, schwer deutbare Gefühle bis zur Hochzeit eines seit zwei Jahren hirnverletzten Oberleutnants, der seine Braut in der Hochzeitsnacht erwürgt. Der zweite Kurzsatz beendet die Bestandsaufnahme mit einer schwer zu beantwortenden Frage: „Das eine also seit zwei Jahren, das andere seit wann?“34 Völlig unverkennbar ist die Aufforderung zum Mitleben mit dem anderen in Bobrowskis Gedicht „Ankunft.“ „Hier wird sprechen, / der vor das Tor tritt, der / Lebendige, er wird sagen: / Wer des Weges kommt, / trete herein.“35 Reinhard Baumgart legt in Hausmusik. Ein deutsches Familienalbum (1962) im Rahmen von zehn Geschichten der Familie Pohl eine scharfe Abrechnung mit der Einstellung der biederen Bürger zum Faschismus vor. Im Schnittpunkt des Geschehens steht die Geisteshaltung der Staatshörigkeit, des Gehorsams und der Anpassung an die politischen Verhältnisse. Manche sind überzeugte Anhänger; andere fügen sich aus Angst. Einzelne verspüren zwar Unbehagen, als der Staat zum Unrechtsstaat wird, schließen aber die Augen und ziehen sich in ihre Privatsphäre zurück. Die Situation wiederholt sich in zahlreichen Erzählungen, die unter anderem auch die Zustände in besetzten Ländern beschreiben. Mosheh Ya’aquov Ben-Gavriêl (Eugen Hoeflich) entwickelt im Haus in der Karpfengasse (1958) in zehn Vignetten die Besetzung Prags durch Deutsche im Jahr 1939. Das Haus, Karpfengasse 115, liegt im Judenviertel.