Vergangenheit. Horst S. Daemmrich
mit Fragen des Selbstverständnisses ringen, erwecken zuweilen den Eindruck der Zwangsfixierung. In Wolfgang Bächlers Erzählung Im Schlaf. Traumprosa (1988) greifen Entsetzen und Angst vor dem Terror auf die Gegenwart über und werden zur permanenten Bewusstseinslage. Der Träumende fürchtet Beamte, Funktionäre, sterbende Menschen und die verrinnende Zeit. Er spürt wie er erst in eine Uniform gesteckt und dann ins KZ verschleppt wird. Er ist auf der Flucht, irrt hilflos umher und wird beraubt und gefoltert. Schließlich schlagen ihm Soldaten einer Besatzungstruppe die Zähne aus. Die Vergangenheit wird zum Bild des Schreckens, das sich zeitlos wiederholt. In anderen Texten kommt es unvermittelt zu Beobachtungen, die an Tagesnachrichten und vorausgegangene Literaturdiskussionen anschließen oder Familiengeschichten aufgreifen. So stolpert beispielsweise Ersiës in Matthias Zschokkes Erzählung ErSieEs über die Schwelle eines Süßwarengeschäfts und muss an den stolpernden Großvater denken. Die Vergangenheit infiziert den Sprecher; der elliptische Abriss der Vergangenheit mündet in ein eigenes Schuldgefühl. „Großvater hat trübe Augen Großvater war im Widerstand Großvater furzt bei jedem Schritt Großvater braucht zwei Stöcke zum Gehen So ein vierfüßiger Schritt braucht seine Zeit Großvater war Oberarzt im Untergrund Großvater hat noch Paul Lincke kennengelernt Großvater ist ein Original Großvater besitzt ein Original Großvater fährt einen Thunderbird Großvater war ein Arbeiter Ich stamme aus richtigem Arbeitermilieu Großvater hat sich beinahe verschworen Großmütterlein ward umgebracht von eurer bösen Nazimacht damit verdien ich Geld denn ich erzähl’s der Welt … / Hoppla. / Eben wollte sie ‚ihrer Betroffenheit Ausdruck verleihen bezüglich Kollektivwahnsinn, geknechtetgefoltertgekettetgegeißeltgedemüdigt, Auflehnung, Empörung, Verzweiflung, Anklage‘.“ Zschokke fährt fort mit der Feststellung, dass immer Dolmetscher zur Stelle sind, die „übersetzen und verzeihen“ werden.6
Sicherlich gab und gibt es für die Literatur nie absolute Zäsuren und für thematisierte Geschichtsereignisse keine Nullpunkte. Die Literatur nimmt Stellung, verarbeitet und gestaltet die Weltkriege, die Weimarer Republik, Hindenburg, Hitler, Gleichschaltung, Kristallnacht, das Dritte Reich, Holocaust, Nürnberg, das geteilte Deutschland, die neue Welt. Christoph Hein konstatiert in seinem Essay „Die Zeit, die nicht vergehen kann oder Das Dilemma des Chronisten“, dass das Vergangene beständig gegenwärtig ist. „Ich jedenfalls bezweifele, daß es das Wesen der Vergangenheit ist, nicht Gegenwart zu sein. Im Gegenteil: Vergangenheit ist der unveränderbare, sichere und weitgehend auch gesicherte Teil unserer Gegenwart, freilich auch der durch seine Unveränderbarkeit, durch die Unmöglichkeit jeder nachträglichen Korrektur beunruhigendste und verstörendste Teil unserer Gegenwart. Denn Vergangenheit vergeht nicht, kann nicht vergehen, so wie die Toten nicht sterben und kein zweites Mal begraben werden können.“7 Die Befragung der Eigenart des Vergangenen steht mitunter im Mittelpunkt einzelner Erzählungen, die Lebensläufe in auf- oder absteigender Linie aus den dreißiger, den vierziger und den Kriegsjahren schildern. Sie taucht sporadisch in der Kriegsliteratur auf. Sie klingt im Schrifttum an, das sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzt oder alternative Geschichtsabläufe schildert. Die Antworten vermitteln einen ausgezeichneten Einblick in die wechselnde geistige Verfassung der Autoren und Autorinnen seit 1945. Sie sind vereinzelt als Augenzeugenberichte simplifiziert. Sie schwingen gelegentlich mit in der Reaktion von Figuren, die entweder verstummen oder Fragen kopfschüttelnd mit dem Hinweis ablehnen: „das können nur die verstehen, die das selbst erlebt haben.“ Die Hinweise und Erklärungen erhöhen durch die Verknüpfung von Vergangenheitsbewältigung, Schuld, möglicher Sühne und Vergebung die Spannung in vielen Texten. Sie durchkreuzen literaturkritische Urteile. Sie fordern das Lesepublikum zur Stellungnahme auf. Sie regen an, belasten und verlangen ethische Entscheidungen.
Die Literatur beleuchtet die Verflechtung von Stoff, Sujet, Thema und Motiv.8 Dieser Sachverhalt ist deutlich in Texten, die in der Vergangenheit verankert sind. In einigen überwiegen die mit der stofflichen Substanz verknüpften Vorstellungen, beispielsweise Krieg, Heimkehrer, der gute Kamerad, der böse Feind, Seeschlacht, Auschwitz, Stalingrad, Leningrad oder Dresden. In anderen wird ein klar umrissenes Sujet (Heimkehr ins Reich, Holocaust) zum dominanten Funktionsträger. Die Gegenwartsliteratur verdeutlicht: das Thema Vergangenheit umfasst eine enge, möglicherweise unlösbare Bewusstseinslage, in der Verirrung, Verneinung, individuelle und kollektive Schuld, Bewältigung, fiktive Darstellung und selbst ins mythische gesteigerte Konzeptionen anklingen. Die literarische Dokumentation und die „authentische“, fiktiv verarbeitete Vergangenheit setzen dem Text angemessene Akzente und berücksichtigen „tatsächliche“ Ereignisse primär, wenn sie die im Text gestalteten Verhaltensweisen motivieren. Jeder historische Ausschnitt enthält in der konkreten Darstellung eine angemessene Abstraktionsebene. Detaillierte Rekonstruktionen der Leiden und Freuden, der Erfolge und Misserfolge und der wechselnden Vorstellungen geschichtlicher Ereignisse verleihen den Darstellungen nicht nur große Anschaulichkeit, sondern vermitteln auch Einblicke in das Verstehen historischer Prozesse der direkt Beteiligten. Außerdem lassen Texte Rückschlüsse auf das geschichtliche Verständnis der Autor(inn)en zu. Die Untersuchungen von Texten in den folgenden Kapiteln belegen drei Aussageformen: (1) das Verständnis der Figuren in Texten und das der Autor(inn)en bilden eine Einheit; (2) unterschiedliche und widersprüchliche Vorstellungen veranschaulichen ungelöste Widersprüche; (3) das Dialogverfahren im Erinnerungsdiskurs verweist auf den Sachverhalt, dass historische Prozesse aus der Sicht der Beteiligten kaum durchschaubar wirken, aus der Perspektive der Erzähler jedoch erklärbar sind.
In Texten der Gegenwartsliteratur, in denen der Zweite Weltkrieg entweder das Geschehen maßgebend bestimmt oder in direkten und verhüllten Hinweisen anklingt, bestehen weiterhin gravierende Unterschiede, da diese von ehrenden Erinnerungen bis zu kritischen Abrechnungen reichen. Für den Abriss der Tendenzen in Schilderungen des Krieges und der Kriegsjahre sind drei Aspekte der vorausgegangenen Literatur relevant. Eine beachtliche Reihe von Kriegserzählungen vermittelte positive Vorstellungen heroischer Leistung, des guten Kameraden und der Verteidigung der Heimat. Vergleichbare Darstellungen bestehen nach 1945 fort in Erzählungen, die das Leid der Kriegsgefangenen, der Flüchtlinge und der Bevölkerung in den bombardierten Städten beleuchten. Zugleich entsteht eine Denkform, die im historischen Geschehen des Krieges ein Verhängnis für alle Beteiligten sieht, und in der Mahnung, das dürfe sich nicht wiederholen, einen Appell an das Gewissen enthält. Drittens verfolge ich die Richtung der Objektivierung dieses Denkens im Zusammenspiel der Forderung nach persönlicher Verantwortlichkeit und dem Anspruch auf Authentizität der biographischen und literarischen Darstellung. Der Anspruch wird deutlich in den Spielarten dokumentarischer Literatur, in der Beglaubigung durch Augenzeugen, in eingeflochtenen Tatsachenberichten und historisch belegbaren Fakten, die die Fiktionalität der Texte bewusst verwischen.
Aufarbeitungen der Vergangenheit nehmen vielfältige Formen an. Vergangenheit bedeutet nicht nur das historische Geschehen, sondern auch Kindheitseindrücke und das Leben im kleinen Kreis. In den Erzählungen von Bernhard, Burger und Monioudis erscheint die große Welt im Spiegel der Ereignisse in Ortschaften, die die Größe einer Briefmarke haben. Regionale Landschaften oder Städte in Erzählungen von Horst Bienek (Gleiwitz), Uwe Johnson (Mecklenburg), Siegfried Lenz (Ostpreußen) und Günter Grass (Danzig) sind gleichzeitig Schwerpunkte der historischen Ereignisse und Symbolträger für existenzielle Grunderfahrungen. Die Autoren geben der Zeitperspektive einen typischen Gehalt und verwandeln zugleich einzelne Regionen in exemplarisch literarische Landschaften, in denen Menschen die historischen Ereignisse erfahren, die das Jahrhundert prägten. Die einzelnen Erlebnisse der Personen werden zu kollektiven Erfahrungen stilisiert.
In Texten, die zu uns sprechen, ist die Vergangenheit immer auf die Gegenwart und Zukunft bezogen. Beim Nachdenken darüber, wie es möglich sei, die Kindheitsperspektive zu erfassen, beobachtet Burger: „Auch die drei Komponenten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was autobiographisch wahr und somit richtig, oder sagen wir etwas modester rückblickend überhaupt erkennbar ist, hängt davon ab, wie ich heute lebe und was mich morgen erwartet …“9
In Rückblicken auf die jüngste Vergangenheit zeichnet sich das Bestreben ab, das Wesen der Erinnerung, den Vorgang des Erinnerns, zu präzisieren. In jeder erweiterten Perspektive umfasst das Erinnern Fragen persönlicher Verantwortung, von Verschuldung und Verjährung, von möglicher Sühne und einem wünschenswerten Vergeben. Die Voraussetzung für jede Erkundung der Vergangenheit ist und bleibt, wie Hanns-Josef Ortheil feststellt, die Präzision des Schreibens.