PLATON - Gesammelte Werke. Platon
und alle Untugend Unkenntnis sei. – Endlich hat auch die letzte, den Hauptfaden des Gesprächs unterbrechende Erörterung über die verschiedenen Formen der Staatsverfassung, wie sie von den Hellenen waren aufgefaßt und ausgebildet worden, sehr sichtlich den Endzweck, im Zusammenhange mit großen Ansichten ganz unverhohlen seine Meinung zu eröffnen über die hellenischen Staaten und namentlich über seinen vaterländischen, und die höchst verkehrte Art, wie dort von den bloß rednerischen Volksführern der Einfluß der Erkennenden auf den Staat geschätzt und möglichst abgehalten wurde, um so zugleich rechtfertigend im gehörigen Lichte darzustellen was er selbst anderwärts als Staatsbildner und Fürstenlehrer auszurichten vergeblich bemüht gewesen war, und allen spottenden Tadlern zum Trotz herauszusagen, wie er ohnerachtet er nicht dazu gekommen sei zu regieren, sich selbst und jeden Wissenden dennoch für den wahren Staatsmann und König halte.
Dies führt uns natürlich darauf, auch noch diese Ähnlichkeit unseres Gespräches mit dem vorhergehenden zu beachten, daß ersteres ebenfalls als der Gipfel einer Platonischen Polemik anzusehen ist nämlich der gegen Volksführer, Rhetoren und Staatsklügler, und daß gegen sie, nach der gründlichen Behandlung die ihnen hier widerfährt, nichts neues mehr aufzubringen war, sondern hiemit der Streit mußte abgeschlossen sein. Wenn einmal eine Verkehrtheit so vollständig dargelegt ist: so können freilich einzelne Ausfälle noch immer durch besondere Veranlassungen herbeigerufen werden, wenn jemand der Meinung ist er dürfe nie eine Antwort schuldig bleiben; aber sie werden immer, wie stechend sie auch sein mögen, weniger sagen als das was schon gesagt ist, und daher nach einer solchen Auseinandersetzung wie diese, von einem besonnenen Schriftsteller wie Platon, nicht leicht mit solcher Freiheit und nicht abgedrungener Fülle vorgetragen werden, wie wir dergleichen in anderen Gesprächen gefunden haben, die sich auch dadurch als früher geschriebene bewähren. Hierüber ins Einzelne hineingehn hieße ein noch genaueres Gegenstück zu unserer Einleitung in das vorhergehende Gespräch schreiben, wie der »Staatsmann« selbst eines zum »Sophisten« ist. Nur wollen wir die Leser auffordern, in allen Gesprächen, vom »Protagoras« anfangend, denn mehr oder minder findet sich der Gegenstand fast in allen, zu bemerken, wie außerdem daß die Ansicht in allen dieselbige ist, auch selbst die Stärke und Tüchtigkeit der Polemik von der immer mehr sich gestaltenden Entwickelung der wissenschaftlichen Ideen abhängt und mit ihr gleichen Schritt hält, und wie auch hier die mimische und ironische Meisterschaft sich desto weniger hervordrängt sondern mit ihren Ansprüchen mehr zurücktritt, je bestimmter eine wissenschaftliche Darstellung sich vorbereitet. Diese Bemerkung wird ohnfehlbar zugleich unserer ganzen bisherigen Anordnung, wenn man von hieraus auf sie zurücksieht, zur Rechtfertigung gereichen. Denn zuerst ist sichtbar, daß der »Staatsmann« eben so bestimmt die andere Seite des »Euthydemos« ergreift und sich daran festhält wie der »Sophist« die erste ergriff, und daß hier eben so wie dort dasjenige nur kurz in Erinnerung gebracht wird was in jenem schon ausführlich genug behandelt war. Ja wenn man sich erinnert, wie ratlos dort Sokrates und Kleinias auseinander gingen, weil sie die königliche Kunst nicht im Stande gewesen waren zu finden: so muß man zugleich bemerken, wie der »Staatsmann« dasjenige voraussetzt was aus jener Ratlosigkeit die Leser sollten gelernt haben. Eben so deutlich ist ferner, daß unser Gespräch auch auf der im »Kratylos« und »Sophistes« aufgestellten Idee der Nachahmung und auf der vom »Theaitetos« an sich immer weiter entwickelnden der richtigen Vorstellung ruht; wie das im »Gorgias« von dem verkehrten Treiben der gemeinen Staatsklügelei gesagte, als weniger positiv und unmittelbar in sich begründet, dem im »Staatsmann« gesagten notwendig muß vorangegangen sein; endlich auch, daß der »Staatsmann« den »Protagoras« ohngefähr in demselbigen Grade wieder in sich aufnimmt, wie der »Sophistes« den »Parmenides«, und daß was dort über die gesamte Tugend und alle einzelnen, und im »Laches« und »Charmides« über die Tapferkeit und Besonnenheit, die hier als scheinbare Gegensätze wieder vorkommen, besonders gesagt ist, eben so gewiß ein früheres muß gewesen sein als das im »Gorgias«; ja daß alles bisherige im engsten Sinne ethische hier auf eine eigne Weise, und unter dem höchsten Haltungspunkt, den es für Hellenen gab, dem politischen nämlich zusammengefaßt, und so den künftigen Behandlungen aufbewahrt wird. Daher denn auch in sofern der »Staatsmann« mit dem »Sophistes« zusammen den Mittelpunkt der zweiten Periode Platonischer Werkbildung ausmacht, als darin auf der einen Seite was die Form betrifft das Verknüpfen alles elementarischen, versuchartigen, indirekt vorgetragenen zusammenfällt mit den Keimen einer rein philosophischen Darstellung so daß beides sich als Eins und dasselbige zeigt, und als auf der andern Seite was den Inhalt betrifft das Physische und Ethische, indem beides der äußeren Gestalt nach mehr auseinander tritt, doch in jedem auf eine eigene Weise Eins wird, und zwar hier durch die freilich nur mythisch vorgetragene Betrachtung des Geschichtlichen unter dem Gesetz der Natur und Bildung der Welt selbst, in welcher Hinsicht denn unser Mythos, wie ihn auch wohl Jeder ansieht, eine Vorandeutung auf den »Timaios« ist, die sich der Annäherung an den Platonischen »Staat« gegenüberstellt.
DER STAATSMANN
SOKRATES • THEODOROS • DER FREMD • SOKRATES DER JÜNGERE
(257) Sokrates: Wahrlich viel Dank bin ich dir schuldig, o Theodoros, für die Bekanntschaft mit dem Theaitetos, und auch für die mit dem Fremden.
Theodoros: Und dreifachen wirst du vielleicht schuldig sein, wenn sie dir erst den Staatsmann werden fertig gemacht haben und den Philosophen.
Sokrates: Wohl! Sollen wir sagen, lieber Theodoros, daß wir dieses so gehört haben von dem ersten Meister in den Rechnungen und in der Meßkunst?
Theodoros: Wie so, Sokrates?
Sokrates: Daß er diese Männer alle gleich geschätzt hat, die doch ihrem Werte nach weiter von einander abstehen als nach dem von eurer Kunst benannten Verhältnis?
Theodoros: Gar schön bei unserm Gott dem Ammon, o Sokrates, und sehr recht hast du mir das aufgefaßt, und mir meinen Rechnungsfehler vorgeworfen. Und dich will ich ein andermal schon dafür heimsuchen; du aber, Fremdling, laß ja noch nicht ab uns gefällig zu sein, sondern wie es dir lieber ist, sei es zuerst den Staatsmann oder den Philosophen, nimm uns nach einander durch.
Fremder: Das müssen wir wohl tun, Theodoros; weil wir es einmal unternommen haben, dürfen wir nicht eher ablassen bis wir mit ihnen zu Ende gekommen sind. Allein wie soll ich es mit unserem Theaitetos halten?
Theodoros: Weshalb?
Fremder: Sollen wir ihn nun ausruhen lassen, und diesen seinen Mitschüler Sokrates zuziehen? oder was rätst du?
Theodoros: Wie du sagtest, ziehe diesen zu. Denn jung wie sie sind, werden sie jede Anstrengung leichter tragen, wenn sie dazwischen ruhen.
Sokrates: Mit mir, o Fremdling, scheinen ja beide eine gewisse Verwandtschaft zu haben. Denn von dem Einen sagt Ihr Ihr fändet seine Gesichtszüge den meinigen ähnlich, und an dem andern stellt schon der gleichlautende Name und die (258) Anrede eine Angehörigkeit dar. Und Verwandte muß man allewege auch im Gespräch gern kennen lernen. Mit dem Theaitetos nun bin ich selbst gestern im Gespräch begriffen gewesen, und jetzt habe ich ihn dir antworten gehört; den Sokrates aber keines von beiden, und ich muß doch auch diesen in Augenschein nehmen. Mir also soll er ein andermal, dir aber jetzt antworten.
Fremder: So sei es. Und du, o Sokrates, hörst du was Sokrates sagt?
Der jüngere Sokrates: Ja.
Fremder: Und stimmst auch ein zu dem was er sagt?
Der jüngere Sokrates: Allerdings.
Fremder: Von deiner Seite scheint also nichts im Wege zu stehen, und noch weniger soll wohl von der meinigen im Wege stehen. Also nach dem Sophisten ist nun notwendig, wie mir scheint, daß wir den Staatsmann aufsuchen. Und sage mir, ob wir ihn auch als einen Kundigen setzen wollen, oder wie?
Der jüngere Sokrates: Allerdings so.
Fremder: Also müssen wir die