Steuerstrafrecht. Johannes Franciscus Corsten
(1) Begriff des Steuervorteils
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Der Begriff des Steuervorteils wird gesetzlich nicht definiert. § 370 Abs. 4 S. 2 stellt lediglich klar, dass Steuervorteile auch Steuervergütungen sind und dass Steuervorteile erlangt sind, wenn sie zu Unrecht gewährt oder belassen werden. Nach der sehr weiten Definition des BGH handelt es sich um Vorteile spezifisch steuerlicher Art, die auf dem Tätigwerden der Finanzbehörde beruhen.[434] Ausgehend von der Definition der Steuer in § 3 Abs. 1 S. 1 kann ein Vorteil dann als spezifisch steuerlicher Art angesehen werden, wenn er den Ertrag einer Steuer mindert und dies auf der Anwendung eines Steuergesetzes beruht.[435] So ist bspw. das gem. § 31 S. 1 Alt. 2 EStG i.V.m. Abschn. 10 EStG gewährte Kindergeld ein Steuervorteil in Form einer Steuervergütung,[436] die für bis Ende 2005 angeschaffte Eigenheime gewährte Eigenheimzulage hingegen nicht, da es sich nicht um einen spezifisch steuerrechtlichen Vorteil handelt.[437] Der Steuervorteil muss nicht durch einen Verwaltungsakt gewährt werden. So soll bspw. die einstweilige Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung nach § 258 einen steuerlichen Vorteil bilden.[438]
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Da jede Steuerverkürzung zugleich einen Steuervorteil für den Steuerpflichtigen begründet, wird in der Literatur auf unterschiedliche Weise versucht, eine sinnvolle Abgrenzung des Erlangens eines Steuervorteils von der Steuerverkürzung vorzunehmen. Dies kann in der Weise geschehen, dass als Steuervorteile nur solche Vorteile erfasst werden, die außerhalb des Festsetzungsverfahrens erlangt werden.[439] Eine Steuererstattung ist dann nur in den Fällen ein Steuervorteil, in denen sie nicht auf einer zu niedrigen Festsetzung beruht.[440] Auch in einem vorteilhaften Feststellungsbescheid i.S.d. § 180 Abs. 1 wäre dann kein Steuervorteil zu sehen (s. dazu Rn. 169 ff.). In vielen Fällen beruht es auch außerhalb des Festsetzungsverfahrens allein auf dem Blickwinkel (Steuerpflichtiger oder Fiskus), ob man in dem Tätigwerden der Finanzbehörde einen steuerlichen Vorteil oder eine Steuerverkürzung sieht, wie etwa bei Stundung (§ 222), Zahlungsaufschub (§ 223) oder Aussetzung der Vollziehung (§ 361 Abs. 2 bzw. § 69 FGO).
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Streitig ist, ob rein verfahrensrechtliche Entscheidungen, wie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 und die Gewährung einer Fristverlängerung nach § 109 einen Steuervorteil darstellen bzw. zu einer Steuerverkürzung führen können.[441] Zuzustimmen ist insoweit dem OLG Hamm, das darauf abstellt, ob durch die verfahrensrechtliche Entscheidung der materielle Steueranspruch des Staates beeinträchtigt wird.[442] Demnach kann in der Erschleichung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann eine Steuerverkürzung –nicht ein steuerlicher Vorteil – gesehen werden, wenn dadurch die Beitreibung eines materiell bestehenden Steueranspruchs erschwert oder vereitelt wird. Das scheidet aus, wenn der Steuerpflichtige die materiell zutreffende steuerliche Festsetzung erstrebt.[443] Ransiek weist überdies darauf hin, dass die Gewährung von Wiedereinsetzung – anders als ggf. die Verlängerung von Fristen – das Steueraufkommen selbst nicht berühre, sondern nur die Möglichkeit zu einer späteren Änderung der Steuerlage schaffe.[444] Entscheidend ist, ob es aufgrund des verfahrensrechtlichen Antrags zu einer verspäteten Steuerfestsetzung oder -beitreibung und damit zu einer Steuerverkürzung kommt. Denkbar ist das unter Umständen, wenn ein verspätet eingelegter Einspruch gegen einen Steuerbescheid mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung verbunden und Wiedereinsetzung gewährt wird.
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Bei Steuererstattungen handelt es sich um die Rückzahlung von rechtsgrundlos gezahlten Steuern (§ 37 Abs. 2 AO).[445] Erfolgt die Erstattung als Folge zu niedriger Steuerfestsetzungen, so handelt es sich um Steuerverkürzungen.[446] Die auf Steuererstattungen gem. § 233a Abs. 3 und Abs. 5 gezahlten Zinsen werden nach neuerer Rspr. als Steuervorteile i.S.d. § 370 Abs. 1 betrachtet,[447] anders als Säumnis- und Verspätungszuschläge sowie Zwangsgelder.[448]
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Auch durch die Untätigkeit der Finanzbehörde kann ein Steuervorteil gewährt werden, wenn der Steuerpflichtige mit falschen oder unterbliebenen Angaben veranlasst, dass ihm ein bereits gewährter Vorteil belassen wird.[449]
(2) Sonderfall: Grundlagenbescheid als Steuervorteil
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Der BGH erachtet die Feststellung von steuergünstigen Tatsachen in Grundlagenbescheiden (§ 171 Abs. 10 S. 1) wegen der Bindungswirkung gem. § 182 Abs. 1 S. 1 für Folgebescheide seit einer dazu am 8.12.2008 ergangenen Grundsatzentscheidung[450] als ausreichend für die Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils i.S.d. § 370 Abs. 1.[451] Die Entscheidung betraf die einheitliche und gesonderte Feststellung nach §§ 180 ff. AO. Im Anschluss daran hat der BGH die Rechtsprechungsänderung auch für Verlustfeststellungsbescheide (gem. § 10a GewStG oder § 10d Abs. 4 EStG) bestätigt.[452] Demgegenüber hatte die Rspr. zuvor in der Erlangung eines unzutreffenden Grundlagenbescheides noch keinen Taterfolg gesehen,[453] sondern auf die Steuerverkürzung im Folgebescheid abgestellt.[454]
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Nach der vom BGH in der genannten Grundsatzentscheidung vertretenen Auffassung ist bereits mit dem Wirksamwerden eines Bescheides über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften gem. § 180 Abs. 1 Nr. 2 Bst. a ein ungerechtfertigter Steuervorteil erlangt.[455] Zwar bewirke ein unrichtiger Feststellungsbescheid als bloßer Grundlagenbescheid noch keine Steuerverkürzung, da in ihm lediglich die Besteuerungsgrundlagen festgestellt werden, während die Festsetzung der Steuern dem Folgebescheid vorbehalten bleibt. Die Bindungswirkung des Grundlagenbescheides für den Folgebescheid begründe aber eine hinreichend konkrete Gefährdung des Steueranspruchs, die für die Annahme eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils genüge.[456] Dementsprechend stellt es nach der Rspr. des BGH ebenfalls einen Steuervorteil dar, wenn der Täter durch unrichtige Angaben erreicht, dass ein zu hoher vortragsfähiger Verlust festgestellt wird.[457] Bereits damit werde eine Besserstellung des Steuerpflichtigen bewirkt, nicht erst durch die tatsächliche Durchführung des Verlustabzugs.
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Den Umstand, dass sich erst anhand des Folgebescheides die steuerlichen Auswirkungen feststellen lassen, hält der BGH im Hinblick auf die Strafzumessung für unproblematisch. Es genüge, dass sich „die Dimension der Gefährdung“ bereits aus dem Grundlagenbescheid erkennen lasse.[458] Auch im Hinblick auf die Anwendung des Regelbeispiels aus § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 (Hinterziehung großen Ausmaßes) bedürfe es der Bezifferung der Auswirkungen des Steuervorteils nicht. Die Bestimmung einer Wertgrenze für Steuervorteile der hier fraglichen Art sei bislang durch die Rspr. nicht erfolgt, komme aber grundsätzlich in Betracht.[459] Nachdem der BGH jede Differenzierung für die Bestimmung des großen Ausmaßes aufgegeben hat und nun einheitlich einen Betrag von 50 000 EUR ansetzt,[460] ist davon auszugehen, dass er diesen Betrag auch für Feststellungsbescheide heranziehen wird, wobei fraglich bleibt, wie dieser berechnet werden soll.
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Diese Rspr. ist in der Literatur umstritten[461] und nach der hier vertretenen Auffassung abzulehnen. Mit der gesonderten Feststellung erfolgt noch keine Festsetzung der Steuer, sondern lediglich die Feststellung der Grundlagen der erst im Folgebescheid erfolgenden