Der Bote. Hans-Joachim Rech
Luftmassen wie eine Tsunami Welle vor sich her schob. Der Himmel würde sich in rascher Folge mit dicken weißen Haufenwolken füllen, die wie eine Schafherde in Richtung Nordosten rennen und in Verbindung mit der nachströmenden kälteren Luft für extreme Turbulenzen sorgen würden. Da könnte es leicht zu einem Hochdruck jenseits der 1034 Hekto Pascal oder höher führen. Im sibirischen Großraum ist der Gebrauch der Fahrenheit Skalen auch heuer noch weit verbreitet. So ist es nicht ungewöhnlich, dass in Südsibirien im Sommer Temperaturen bis zu 30 Grad herrschen können, was den Bewohnern jener Regionen nicht nur helle und warme Nächte, sondern ebenso Milliarden von Moskitos beschert, die das Leben in diesen Extremzonen nicht unbedingt als angenehm einstufen. Im Klartext lasen sich diese Werte wie zwei aufeinander zufahrende Expresszüge von denen nicht anzunehmen war, dass der jeweils andere seine Geschwindigkeit verringern würde. Entweder klarte es sich tatsächlich komplett auf und wir fuhren in ein klassisches Mittsommerhochdruckgebiet hinein, oder der germanische Donnergott Thor packte seinen Hammer aus und ließ das nordatlantische Meer überkochen, wobei mir beim letzten Gedanken schon jetzt üble Gefühle durch den Bauch krochen. Das von Südwesten her hereinströmende Windfeld muss gewaltige Ausmaße haben, da es die nun rascher am Himmel vorbeiziehenden Wolkenblöcke mit einer Gewalt auseinanderriss, wie ich es in meinem bisherigen Leben auf derartigen Events selten erlebte. In meinen Kolleginnen und Kollegen erwachte nun gleichfalls ein gesteigertes Interesse an den Vorgängen in der Wetterküche über Murmansk und dem nördlichen Eismeer, wobei sich die bedenklichen Bemerkungen mit den euphorischen in etwa die Waage hielten. Aber das könnte sich ganz schnell ändern, wenn die Georgi Schukow erst in freies Wasser einfährt, die offene See erreicht. Die Erinnerungen an meine Kotz- und Würgefahrten auf Großseglern im Südatlantik und der Karibik inmitten tropischer Wirbelstürme stiegen von einem zum anderen Augenblick aus den Windungen meines Hirns empor, ergriffen von meinen visuellen und akustischen Wahrnehmungen Besitz und drängten meine sachlich-fachlichen Beurteilungsparameter gnadenlos in den Grund des Atlantiks. Jene damaligen Erfahrungen klebten an mir, in mir wie bösartige Tumore die nur darauf warteten, ihr Metastasenwerk erneut zu beginnen. Ganz in Gedanken entgegnete ich entgegen meiner Auffassung:
„Qui Monsieur - es wird eine klassische Mittsommernacht mit Wodka, Weib und Kasatschok. Viel Vergnügen dabei - ach - sie möchten in meiner Kabine nächtigen? Daraus wird nichts werden - ich bin Selbstzahler und habe meine Kabine für mich gebucht - als Alleinunterhalter. Zudem bin ich stockschwul, was ihren Hinterbacken enormen Stress machen würde - und ich schnarche wie ein Rhinozeros - Monsieur Panteneau“
Bernard Panteneau blickte mich ungläubig, ja - ein wenig fassungslos und entsetzt an, schluckte zwei Mal und sprach dann tonlos wie abwesend „Mon Dieu - das ist grausig - das ist unfassbar - das muss ich sofort Frau Dernikowa vorlegen - sie muss das ändern lassen - ich brauche ebenso eine Einzelkabine oder fliege zurück nach Paris…“
Trocken wie ein Furz in einem Sahara Wadi entgegnete ich Monsieur Panteneau
„Bon Voyage Monsieur Bernard Panteneau - grüßen sie mir den Eiffelturm, das Moulin Rouge und Professor Valjean Deveraux von der Sorbonne“.
Ich brauche keinen Mann als Kabinenmitbewohner, egal welcher Nationalität; ich will für mich allein sein, schließlich bezahle ich meine Teilnahme an der Eismeerexpedition Nordatlantik aus eigener Tasche. Wenn schon eine zweite Person in meiner Kabine, dann eine dralle Maid die es mir altersgemäß tüchtig besorgt, so meine spätpubertären Altmännerfantasien aus der anderen Dimension. Ansonsten will ich schlafen wann ich will, frühstücken wann ich will und mir einen Blasen lassen wenn ich es nötig zu haben glaube. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, keine anderen Drogen, kein Fleisch, viel Gemüse, Rohkost und Obst. In meinem eigenen Garten kultiviere ich ausschließlich Pflanzen aus eigener Anzucht, die Betreuung übernimmt während meiner Abwesenheit ein pensionierter Landwirt, der mir in „jungen Jahren“ die Prinzipien des ökologischen sowie ökonomischen Anbaus auf der eigenen Scholle geduldig beibrachte. Die Menge der Erzeugnisse reichte mehrfach für seine eigene Familie sowie für eine nahe gelegene „Seniorenresidenz“, deren Betreute entweder eigenständig vorbeischauten und gemeinsam mit dem pensionierten Landwirt auf „Beute“ ausgingen, oder der Küchenchef kam einmal die Woche mit Azubi und holte sich die kostenlose Spende für seine Schäfchen ab. „Wenn das Essen nicht schmeckt, ist es mit dem Burgfrieden vorbei. Mit den Mahlzeiten unzufriedene Senioren haben schon manchen Küchenchef frühzeitig in die ewige Pensionierung geschickt„. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass sich mein Kontrollscheck den in Oliv gehaltenen Gepäckdurchsuchungstischen näherte. Es war an der Zeit meine nostalgischen Gedankenausflüge in den Zeittakt der Murmansker Realität zurückzufahren und mich auf jene Dinge zu konzentrieren, die für meinen Aufenthalt an Bord der Georgi Schukow von Bedeutung waren. Den Kollegen aus Frankreich war ich los, so hoffte ich inständig, und was meine Schnarch Kompositionen betraf, so waren sie akustisch über denen eines startenden Eurofighters anzusiedeln. Dass würden bald all jene zur Nachtruhe erfahren, die in ihren Kabinen um mein Domizil auf Zeit untergebracht waren. Schon aus diesem Grunde buchte ich stets Einzelkabine mit Meerblick - dass mir Valeria Dernikowa einen französischen Kollegen unter die Bettdecke schieben wollte, empfand ich als originellen Gag, dem ich gleich nach der Identitätskontrolle ein konsequentes Ende bereiten würde. Der düpierte und völlig überrumpelte Monsieur Panteneau wechselte mit hochrotem Kopf zur dritten Warteschlange, wo Valeria Dernikowa den ihr anvertrauten Schäfchen genauestens unter die kapitalistische Wolle blickte. Ihr wie auch den anderen Kontrolldamen entging nicht die kleinste Anomalie, mochte sie auch für uns Westler oder die asiatische Abordnung ohne jede Bedeutung sein - Onkel Josef ist immer noch gegenwärtig. <<Vertrauen ist gut -Kontrolle ist besser>> so die Devise Lenins. Dann ließ er die gesamte Zarenfamilie einschließlich der wichtigsten Bediensteten, Sekretäre und Berater in Jekaterinenburg erschießen. Sein späterer Nachfolger und Massenmörder Josef Stalin vereinfachte sein Denken und Handeln im Umgang mit Kritikern oder solchen, die er dafür hielt auf einfache aber furchtbare und mörderische Worte - „Ein Mensch - ein Problem - kein Mensch - kein Problem“ im Klartext - alles sofort liquidieren, was sich nicht bedingungs- und kompromisslos dem Diktat der Partei und damit seinen Befehlen und Anordnungen unterordnet. Während Stalins Terrorherrschaft starben durch seine Anweisungen mindestens ebenso viele Menschen wie im Großen Vaterländischen Krieg, der bis heute das zentrale Trauma Russlands und der russischen Bevölkerung ist und - so wie die Dinge stehen, für immer bleiben wird. Gleichwohl hindert es die Russen nicht, die Verdienste des großen Führers und Marschalls der Sowjetunion Josef Stalin bis heute in Ehren zu halten und ihn zu verehren. Standbilder, Gedenksteine, Bilder - Onkel Josef ist noch immer top aktuell und präsent.
Kontrolle - nur das Gepäck (kein Enddarm) - small talk - Visionen - Valeria Dernikowa dritte - Frühlingserwachen - Maxi Bergerdamm spurlos davon
„Ladies and Gentlemen, meine Damen und Herren, Ihre Identy Card please - das Handgepäck bitte auf diesem Tisch öffnen, thank you - vielen Dank“
In melodischem Tonfall bat uns eine der in modischem Chic gekleideten Aufpasserinnen der Atomgaz an die Tischreihe vor den letzten verglasten Türen, die uns vom Objekt der Begierde trennten - der Georgi Schukow, auf deren Gangbord sich die Besatzung wieselflink bewegte und letzte Arbeiten vor dem Auslaufen in das Nordmeer erledigte. Unter der Fahne Russlands wehte im kräftig auflandigen Wind die Flagge der Atomgaz, der Eignerin der Georgi Schukow unter Kapitän Viktor Satchev. Zwischen den Türen der Empfangs- und Abfertigungshalle und der Zuwegung in die Schotttür zwischen Vorschiff und Mittschiff, führte die fahrbare Passagierbrücke die Gäste durch die Schotttür in den Bauch der Georgi Schukow. Zahlreiche Schiffe, die sich in arktischen Gewässern bewegen, verfügen über eine derartige Schotttür an einer Rumpfseite - meistens Backbord. Bei den Hurtigrouten sind diese Schotttüren so groß, dass sie als Schotttore bezeichnet werden, da durch diese die Beladung der Hurtigschiffe erfolgt - per Hubstapler oder direkt per LKW. Bei der Georgi Schukow handelte sich um eine gepanzerte Kabine innerhalb eines geschotteten Systems, in dem ein Aufzug die zahlenden Gäste getrennt vom Bordpersonal in den sensiblen Bereichen in den Brückenbereich auf das Zentraldeck fünf beförderte.
„Madame Rosenstrauch - Sarah - your Identy Card - please“ erklang zwei Reihen neben mir zur Linken die freundliche Stimme einer charmanten und überaus attraktiven