Der Bote. Hans-Joachim Rech

Der Bote - Hans-Joachim Rech


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- die Geschichten und Geschehnisse mit und auf dem Eis, die kleinen und großen Abenteuer, aber auch die vermeintlichen glorreichen Siege, welche gegen die verheerenden Niederlagen, die kleinen und großen Dramen, von denen sogar einige den Weg in die Weltliteratur und den internationalen Film fanden, in einer emotional - packenden Art und Weise nahe zu bringen, wie es kein Buch, kein Film oder Theaterstück jemals vermochte. Seinen Spitznamen, den er insgeheim mit einigem Stolz für sich reklamierte, den er aber nie aus eigenem Antrieb heraus wie den polierten Harnisch eines Heroldes über seiner Brust trug, klebte seit Jahrzehnten an ihm wie warme Haut auf trockenem Eis und erinnerte ihn an den stillen Abenden, wo er mit sich und seinen Erinnerungen zu den Expeditionen der Vergangenheit aufbrach, damals, als er noch IO war auf der Jamal, dem ersten atomgetriebenen Eisbrecher der Sowjetunion, öffnete sich an diesen stillen Abenden die Tür in die Seele des Viktor Satchev, zu der nur seine „Kirschblüten“ den ewigen Schlüssel besaßen. Dann war es diesem „Eisbären“ Russlands erlaubt die Tränen zu weinen, die er nie am Grab seiner Familie würde vergießen können, weil es keinen Ort gab, wo er die von Eis uns Schnee Verschlungenen hätte suchen und finden können. Aber diese Emotionen fanden niemals vor anderen Menschen den Weg hinaus aus seinem Herzen, mochten sie auch zu seinen besten Freunden zählen. Seine Verantwortung gegenüber seinem Land, seiner Mannschaft und seinem Schiff, aber auch die Zuneigung und Hilfe seiner besten Freunde, die seinen Gemütszustand festigte und ihn vor dem totalen Zusammenbruch bewahrte, ließen ihn diese emotionale Sturmflut, die seine Seele und Gefühle in nie gekanntem Ausmaß verheerte, überstehen. Und dann war da noch das uneingeschränkte Vertrauen der Atomgaz - der Eignerin der Georgi Schukow, ihm weiterhin das Kommando über diesen riesigen Eisbrecher und seiner Besatzung in seine erfahrenen Hände zu legen; die beste Therapie, die einem „Eisbären“ wie Viktor Satchev dienlich war, denn ohne Kommando auf der Georgi Schukow, ohne die Arktischen Expeditionen im Nordpolarmeer und den Unternehmungen im Antarktischen Eispanzer, wäre der psychische Untergang dieses prachtvollen Menschen besiegelt gewesen. Doch alles kam anders, und das war gut so. Viktor Satchevs Name stand als einziger von der Besatzung auf der Teilnehmerliste, was auf Fahrten dieser Art durchaus üblich war; der Kapitän stellte während der Vorstellung an Bord seines Schiffes die Offiziere vor, allen voran den IO, der sein Stellvertreter ist, besonders wenn der Kapitän die Brücke verließ. So halten es alle Kapitäne zur See auf allen Schiffen der Christlichen wie Marinen Seefahrt. Disziplin und jahrelange Erfahrung sind unabdingbare Voraussetzungen, um Vorhaben und Expeditionen - ganz besonders im ewigen Eis der Polarregionen - erfolgreich durchzuführen, die Mannschaften und internationalen Forscher- und Wissenschaftlerteams ohne gesundheitliche Nachteile wohlbehalten nach Wochen oder gar Monaten an Bord und auf dem Eis nach Murmansk zurückzuführen, und die Georgi Schukow ebenso unbeschadet an ihrem Liegeplatz in der größten Stadt nördlich des Polarkreises fest zu machen. Teilnehmende internationale Teams - so stand es abgesetzt nachfolgend unter dem Namen der Georgi Schukow - des größten arktischen Eisbrechers der Welt und seines Kapitäns Viktor Satchev. Teilnehmende internationale Teams - säuberlich nummeriert und aufgelistet - sieben an der Zahl, wobei die Anzahl der Teams keine Auskunft darüber gab, wie viele Personen in der jeweiligen Mannschaft an dieser Expedition teilnahmen. Eine uralte Verunsicherungsmaßnahme aus der Mottentrickkiste des russischen - ehemals sowjetischen Geheimdienstes, der haarklein über jede Teilnehmerin - jeden Teilnehmer eines jeden Teams aus den gemeldeten Nationen vorab informiert war; Nachmeldungen sind ab einem bestimmten Datum nicht mehr möglich, davon wichen weder die Russen noch die Atomgaz ab, auch wenn den Verantwortlichen auf russischer Seite dadurch mehrere zehntausend Dollar an „Aufwandsentschädigung“ entgingen. Es wäre durchaus ein Leichtes gewesen nicht nur eine Person, sondern ein komplettes Team nachzuschieben; die Georgi Schukow verfügte über einen hochmodernen Hubschrauberlandeplatz, der von den stärksten Transporthubschraubern der Welt, dem Mil Mi-6 und Mil Mi-26 angeflogen werden konnten. Beide schleppten Lasten zwischen 30 und 40 t auf 2000 bzw.3000 Metern Höhe, eine kaum vorstellbare technische Leistung, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Ein Team von vier bis sechs Personen einschließlich Ausrüstung war für die Mil Mi-6 oder Mil Mi-26 keine Belastungsprobe ihrer Fähigkeiten, eher ein Ballasttransport der unteren Kategorie. Aber das alles spielte keine Rolle, die Russen wollten auch dreißig Jahre nach der Wende genau wissen, was da für Leute auf ihren Eisbrechern logierten und - was sie mit ihren Expeditionen bezweckten, was sie untersuchten, was sie an Ergebnissen mit nach Hause brachten. Überraschungen waren etwas, was von russischer Seite zu keiner Zeit erwartet, geschweige denn gewünscht wurde, schon gar nicht die Nachmeldung eines Forschungs- und Wissenschaftlerteams, das in letzter Minute noch an dieser oder einer anderen Expedition mit der Georgi Schukow teilnehmen wollte. Njet hieß es dann aus Moskau und Murmansk - und nein war bei den Russen ein Nein, das hatte ich schon mehrmals erfahren. Ähnlich verhielt es sich bei den Asiaten, besonders die Chinesen änderten von jetzt auf gleich bereits seit langem bestätigte Termine und Zusagen aus Gründen, die nicht einmal der weise Konfuzius nachzuvollziehen in der Lage wäre. Es ist wie es ist, besonders ärgerlich, wenn dadurch bestimmte Arbeitsabschnitte komplett wegfallen und durch weniger attraktive nachgeschobene Ersatzangebote ausgeglichen werden sollen. Machen Sie das beste daraus, war eine der gängigen Floskeln, die ich immer wieder zu hören bekam, was mir als Wissenschaftsjournalist zwar immer noch ein gewisses Granteln entlockte, zum anderen aber meine Improvisationsfreude zu Höchstleistungen anspornte und nach alternativen lohnenden „Ersatzangeboten“ Ausschau halten ließ.

       Nord-Ost Passage - Ljachow Inseln - Wrangel Insel - U-Boot Havarie - Jakutien

      Auf meinen Streifzügen durch die Nebelbänke meiner Erinnerung dockte ich an den Ljachow Inseln an, einem Archipel, der den Neusibirischen Inseln zuzurechnen ist. Es war im Mai des Jahres 2013, ein für die Jahreszeit ungewöhnlicher milder, fast schon heißer Mai, der zum einen das Oberschichteis des Arktischen Ozeans, zum anderen aber - und das war wesentlich dramatischer - den Permafrostboden der Ljachow Inseln in einer Geschwindigkeit auftauen ließ, was selbst den im Umgang mit diesem Phänomen erfahrenen russischen Wissenschaftlern die Blässe in ihre Gesichter trieb und für Sprachlosigkeit in ihrem Team sorgte. Meine Anwesenheit auf den Ljachow Inseln verdankte ich einem geplatzten Last Minute Termin zur Teilnahme an der Jungfernfahrt auf einem neuen russischen Tauchboot, dass zur Kontrolle bei der Verlegung von Pipelines in arktischen Gewässern eingesetzt werden sollte, aber auch - gegen entsprechendes Salär - für wissenschaftlich - archäologische Unterwassermissionen zur Verfügung stand. So eine Gelegenheit bot sich in eben diesem Mai im Randschelf der Wrangel Insel, wo gleichzeitig die Lebensbedingungen in den Küstennahen Regionen der nordsibirischen Wrangelinsel erforscht werden sollten, wo vor rund 4000 Jahren die letzten Wollhaarmammuts lebten und ausstarben. Eigentlich ein ganz normaler wissenschaftlicher Einsatz in einem internationalen Team unter Leitung des anerkannten Genforschers und Mammutexperten Nikolaus Tachinsky, der seine Lebensaufgabe darin sah, die Auferstehung eben jener Wollhaarmammuts voranzutreiben, die vor einigen Tausend Jahren als Kaltsteppenbewohner die endlosen Weiten Jakutiens in großen Herden durchwanderten. Leider machte uns ein russisches Atom U-Boot mit einem ungeplanten Auftauchvorgang einen Strich durch die bekannte Rechnung - der Sonarmaat der Roten Marine hatte sich offensichtlich zu sehr auf seine Unterwasserkartenkenntnis als auf das Alarmgejaule des Sonars verlassen, was prompt zu einer Grundberührung führte, die den Kommandanten des U-Bootes veranlasste, umgehend den Auftauchvorgang einzuleiten, was zu einigen Beulen und Schrammen am Wintergarten - so der seemännische Begriff für die Umrandung der Wachstation im Turm des U-Bootes zur Folge hatte. Das arktische Scholleneis konnte oder wollte dem plötzlichen Auftauchen des U-Bootes der K-Klasse nicht so rasch Folge leisten und zur Seite weichen. Kurzum - da lag dieser Riesenstahlkoloss wie ein gestrandeter Blauwal unweit der Wrangel-Insel, was die Neugier der Wissenschaftler im Team um Nikolaus Tachinsky augenblicklich in einer andere Richtung lenkte. Wann bekam man als Mammutforscher fernab jeglicher Zivilisation am Rande des Arktischen Ozeans schon mal das Alarmauftauchen eines U-Bootes der K-Klasse der russischen Marine aus nächster nähe mit? In diesen Momenten dachte niemand im Team - auch nicht der ehrenwerte Nikolaus Tachinsky daran, sich weiter auf den Weg zu den Ausgrabungsstätten der tief gefrorenen Wollhaarmammuts zu machen, stattdessen richteten sich alle Augen - besonders die der Kameras und Fotoapparate - auf den stählernen grauen Havaristen, der wie ein urzeitliches Ungeheuer von einem zum anderen Augenblick aus den eisigen Tiefen einer unergründlichen See auftauchte, wobei er schnaubend


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