Der Bote. Hans-Joachim Rech
in LOKIS Schloss. Den globalen politischen Entscheidungsträgern ging im wahrsten Sinne des Wortes der Arsch auf Grundeis. Wie viele Epidemien weltweit hat es in den vergangenen dreißig - vierzig Jahren gegeben? BSE, HIV, Ebola, SARS, Vogelgrippe, Schweinepest, das Hanta Virus, die Influenza - und dann die Impfhysterie gegen alles und jegliches - schon bei der kleinsten Störung im menschlichen Organismus wird die Pharmazeutische Keule, der Chemische Hammer verabreicht, Medikamente - die kurzfristig für Linderung und Abhilfe sorgen, mittel- und langfristig jedoch großen Schaden anrichten, da sie zu einer Anti- Immunität führen, welche die Betroffenen bei der kleinsten Animosität aus den Socken hauen. Und wir sollen jetzt am und im Arsch der Welt herumwühlen und was auch immer suchen und finden, das der Menschheit einen Ausweg aus dem selbst verordneten Chaos der Seuchen- und Epidemienhysterie liefert. Es gibt sogar schon Kollegen bei der NASA die von Reisen zu den Eismonden des Jupiters träumen, unter deren gepanzerter Oberfläche Wasserozeane mit hydrothermalen Quellen für erdähnliche Lebensformen sorgen. Hier - so die Wissenschaftler - böten sich ungeahnte Ansatzpunkte und Möglichkeiten zur Erforschung der Paläoanthropologie, der Mikrobiologie, der Biochemie und Medizin. So also stehen die Dinge wirklich - die Informations- und Arbeitsmappe des internationalen Konsortiums für molekulare und biochemische Erforschung der Nordatlantischen Tiefsee im allgemeinen und der Geothermalfelder um LOKIS Schloss lag vor mir auf dem Tisch; während ich scheinbar interessiert weiter zuhörte und in den Unterlagen blätterte, dabei die eine und andere Notiz machte, tasteten meine Augen - durch dicke Brillengestellränder abgeschirmt, die Kolleginnen und Kollegen zu meinen Seiten ab, und soweit möglich die Damen und Herren vor mir, um so über deren Verhalten Rückschlüsse auf etwaige Erkenntnisse zu gewinnen, die meinen ähnelten oder darüber hinausgingen. Etwas Großes ging hier an Bord der Georgi Schukow vor, wir alle standen am Beginn eines weltweit bedeutenden Falles, der uns weit hinaus führen würde in die eisigen Gefilde des Nordatlantiks, hinab in die Tiefsee zu LOKIS Schloss, um dem düsteren Reich des Gottes des Feuers unsere Aufwartung zu machen. Stellt sich nur die Frage, ob dem Herrn unser Besuch recht ist, wenn wir zudem sein Reich nach irgendwelchen Bakterien, Molekülen und Mineralien durchwühlen, hier was abbrechen, dort Lebewesen gleich welcher Art einfangen oder entnehmen. Durch unsere Expedition würden wir Millionen Jahre sichtbarer erdgeschichtlicher Geothermaler Entwicklung beeinflussen, beieinträchtigen oder sogar zerstören, und das an den Nahtstellen hochexplosiver Plattentektonik, wo Nordamerika und Europa in der Tiefsee aufeinandertreffen und ihre gewaltigen Schubkräfte, erzeugt durch die Plattenbewegungen auf glutflüssigem Untergrund Kräfte freisetzen, von denen wir uns heuer noch keine Vorstellungen machen, Kräfte - die erst einmal entfesselt, den Planeten in Stücke zu reißen in der Lage sind. Die Mitarbeiter der jeweiligen Teams saßen zwar in eigenen Bereichen, aber jeder für sich an einem eigenen Tisch, so dass ein Kontakt bestenfalls visuell möglich war, ohne andere Kolleginnen oder Kollegen zu stören. Ich hatte nicht den Eindruck, dass bei den Anwesenden das Bedürfnis dazu bestand, auch ließ die Mimik der Zuhörenden - soweit von mir einsehbar, dahin gehend keine derartigen Feststellungen meinerseits zu, die Damen und Herren Kollegen zeigten sich in allerfeinster Pokerface Manier. Zum ersten Mal stellte ich an mir ein Befinden fest, das unterschwellig Vorsicht signalisierte, Vorsicht vor dem Unbekannten, das uns tief unten am Boden des arktischen Ozeans erwartete. Keine aufkeimende Nervosität oder ängstliches Verhalten geschweige denn Angst, aber da war etwas in mir, das sich langsam aber unaufhörlich ausbreitete, meine Gedanken beeinflusste, mein rationales Denken und Verhalten strukturell veränderte, nicht ad hock wie mit dem Gummihammer, sondern diffizil, hinterschwellig, kaum wahrnehmbar aber dennoch latent in mir, in meinem Verstand am Werk. Alles nur Einbildung, Überspanntheit und vor allem Übermüdung? Immerhin war ich seit mehr als zwanzig Stunden auf den Beinen, andere Kolleginnen und Kollegen noch länger. Da konnte sich schon die eine oder andere psychische Disharmonie einstellen. Ich neige dazu mich in metaphysischen Betrachtungen zu ergehen, Übernatürliches in allen Formen und akustisch-visuellen Erscheinungen für möglich und vor allem denkbar zu halten, gleichwohl fand ich es faszinierend und kolossal aufregend an Bord der Oktopus zum Wrack der Titanic hinab zu tauchen. Und das zwei Mal. Meine Berichte dazu fanden internationale Beachtung, so dass mich Randy Ballin Ende der achtziger Jahre zur Suche nach dem legendären deutschen Schlachtschiff Bismarck einlud. Leider konnte ich aus gesundheitlichen Gründen nicht daran teilnehmen, was mir sehr leid tat, aber auf Rücksicht auf das eigene Wohlergehen und das der Besatzung um Randy Ballin unumgänglich war. Zur Bismarck wollte ich nach ihrem Auffinden in fast fünftausend Metern Tiefe wenigstens einmal noch in diesem Leben, hatte es aber lediglich bis Blohm und Voss in Hamburg ( dort wurde die Bismarck gebaut) und zu einer atlantischen Überfahrt von Brest nach Halifax in Kanada geschafft, wobei wir allerdings Koordinatengenau jene Stelle kreuzten, an der das berühmteste deutsche Schlachtschiff des Zweiten Weltkrieges auf dem Grunde des Atlantiks ruhte. Immerhin entschädigten mich die Bücher und Videos von Randy Ballin, die mir der Professor und Unterwasserarchäologe großzügig zu meinem fünfundsechzigsten Geburtstag zukommen ließ. Aber das liegt auch schon „Lichtjahre“ hinter mir. Das Phänomen Zeit ist in sich ein Paradoxon, weil die Zeit eine Erfindung des Menschen ist, um sich in einer Welt, einem Universum der Vergänglichkeit und ständigen Erneuerung zurechtzufinden. Zeit ist somit eine Illusion, eine Fata Morgana - ein gedankliches Gespinst, eine kalendarische Zwangsjacke, in der wir mit dem Augenblick unserer Geburt bis zu unserem biologischen Tod gefangen sind, in einem unsichtbaren, imaginären Kerker von Werden und Vergehen, angefüllt mit Wünschen, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Ängsten, Verzweiflungen, Leid und Tränen, Schmerzen und Erlösung, Lachen und Freuen - und das Warten auf den Tod. Meine gedanklichen Exkursionen in das Reich der anderen Dimensionen - des „outher limits“, des Überschreitens des Event Horizons in oftmals bizarren und abstrakten Denkmodellen die mich, meine Freunde und zuweilen Kollegen an den Saum des Bewusstseins führten. Vielleicht ist alles ganz anders - möglicherweise sind wir Teil eines Experimentes in irgendeinem kosmischen Labor in der vierten oder irgend einer anderen Dimension, elektronische Pixel, Bits und Bytes, die jederzeit durch universalen Mausklick von riesenhaften Erscheinungen gelöscht werden können. Beobachtet durch monströse Mikroskope von noch monströseren Kreaturen, die auch die kleinste Mikrobe, ja jedes Molekül und Atom und all die übrige amphibische Urscheiße haargenau und penibel - und vor allem mit Genuss im wahrsten Sinne des Wortes unter die Lupe nahmen. Während meiner Lyrik- und Aphorismen Phase, im zarten Alter von fünfunddreißig bis Mitte vierzig, schenkte mir die Muse Thalia die sonderbarsten Einfälle, welche Einzug hielten in die Welt des gedruckten Wortes, in Literaturzeitschriften, einen Lyrikband, in Lesungen und unterhaltsame Matinee Veranstaltungen, wo es hernach stets ein sattes Honorar in Deutscher Mark gab. Drei dieser Aphorismen haben sich zu wahren Bestaudis entwickelt.
Das Erste lautet:
„Von der großen Plakatwand herab verkündet mir ein Lasso schwingender Reiter Zigaretten rauchend den Geschmack von Freiheit und Abenteuer. Der Lungenkrebs kennt diesen Geschmack auch.
Das Zweite lautet:
„In den Kanälen unter der Stadt leben die Ratten in ihrer Stadt. Welche Ratten leben in den Kanälen unter der Rattenstadt?“
Das Dritte lautet:
„Der dicke Katalog eines Kaufhauses überschwemmte mein Verständnis und schrie laut nach einer Entladung. Ich bestellte mir ein Gewehr und erschoss den Besitzer dieser Bilderbuchwelt“.
So die Altmännerfantasien vom Dritten Mann, einem verhinderten Bismarck Taucher und Sohn eines U-Boot Fahrers unter Karl Dönitz, der seine „Grauen Wölfe“ in der brutalsten Seeschlacht der Geschichte im Nordatlantik verheizte. Operationsgebiet LOKIS Schloss - na endlich, darauf habe nicht nur ich sondern die Anwesenden Kolleginnen und Kollegen im Saal der Marine gewartet, da war ich mir ganz sicher. Im Saal der U-Boot Fahrer gleich nebenan dürfte es ähnlich zugehen. Leider war mir und den anderen Kolleginnen-Kollegen die visuelle wie akustische Teilnahme an dieser Vorstellung nicht vergönnt. Nachher auf der Georgi Schukow wäre sicher genug Gelegenheit sich näher kennenzulernen und über das Gehörte und die ersten Eindrücke auszutauschen. Fast die Hälfte aller Teilnehmer befand sich mit mir im Saal der Marine - mithin fünfzehn Personen, neun Männer und sechs Frauen und horchte dem salbeienden Wortfluss der Valeria Dernikowa, die sich verbal leichtfüßig in den Kapiteln der Informationsunterlagen bewegte und uns in unterhaltsamer, mitunter sogar aufregend - spannender Weise die Komplexität des „Operationsgebietes LOKIS Schloss“ in komprimierter Weise vermittelte.