Der Bote. Hans-Joachim Rech

Der Bote - Hans-Joachim Rech


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Kapitän Viktor Satchev - die Atomgaz

      Zwei männliche Kollegen waren mir bekannt, von den weiblichen Teilnehmerinnen noch keine, was sich aber während der Dauer unserer Expedition auf jeden Fall ändern würde. Während meine Ohren den Ausführungen von Frau Dernikowa fast schon automatisch folgten, durchforsteten meine Augen den weiteren Inhalt der Unterlagen, bis sie ziemlich zum Ende der Mappe hin auf jenem Blatt fündig wurden „Teilnehmerliste arktische Eismeerfahrt auf Georgi Schukow“. Im Laufe meines wissenschaftlich-journalistischen Lebens hatte ich mir eine Verhaltensweise antrainiert die es mir ermöglichte, akustisch dem Geschehen eines Vortrages problemlos zu folgen, derweil meine optischen Empfangsmodule entweder die vorliegenden Unterlagen sezierten, um zwischenzeitlich den einen oder anderen Blick auf Mund des Referenten oder der Referentin zu heften. Bei Valeria Dernikowa war dies in zweierlei Hinsicht einfach wie angenehm. Zum einen waren mir die Vokabularien und einstudierten Begrüßungs- und Vortragsrituale der russischen Offiziellen vertraut, zum anderen bereitete mir das prachtvolle Lippenpaar dieser Valeria Dernikowa, welches in Formvollendung, prall und üppig jenen verbalen, nach Verführung klingenden Redefluss, nicht nur an meine Ohren strömen ließ, zugegeben lustvolle Gefühle. Und das mir, einem ergrauten Pressezossen, der vom Alter her der Großvater, aber zumindest der Vater dieser attraktiven Russin hätte sein können. Ungeachtet dessen durchliefen meine Gedanken die längst verschlossen geglaubten Kammern entfernter Frühlingsgefühle - welche für die sogenannten „Schmetterlinge im Bauch“ verantwortlich sein sollen. Ich schmunzelte über mich selbst, nahm fast schon automatisch einen Schluck Wasser zu mir, derweil mir die Hoffnung blieb, dieses liebreizende Lippenpaar auf der Georgi Schukow näher kennenzulernen. Valeria Dernikowa war in ihrer Eigenschaft als Verbindungsoffizier - besser Kommunikationsmanagerin - für die Fragen und Wünsche ihrer „Schäfchen“ zuständig. Na schön, dagegen hatte ich überhaupt nichts einzuwenden, wenn sie mich nur anständig und liebevoll als Schäferin von meiner Wolle befreit. Halleluja.

      „Teilnehmerliste arktische Eismeerfahrt auf Georgi Schukow“.

      Na bitte - wer suchet der findet, und das war mehr als ich zu hoffen wagte, ging mir ein altes deutsches Sprichwort durch den Sinn.

      Viktor Satchev - Kapitän der Georgi Schukow, die Nummer eins noch vor allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen der arktischen Atlantik Expedition, mit allen erfolg- und ruhmreichen Unternehmungen, die er als sehr erfahrener Kommandant und Kapitän des weltweit größten Eisbrechers für polare Unternehmungen mit der Georgi Schukow und anderen Eisbrechern durchführte. Fein numerisch aufgelistet, mit Datum, Zweck und entsprechender offizieller Belobigung durch die Atomgaz in Murmansk, die offiziellen russischen Dienststellen - sogar zwei Empfänge durch den Präsidenten im Kreml in Moskau waren aufgeführt und besonders gekennzeichnet, erhielt doch Viktor Satchev stellvertretend für seine Mannschaft den Wissenschafts- und Forscherorden der Lomonossow - Universität in Moskau, die höchste zivile Auszeichnung im Universitätswesen Russlands. Auch sonst wurde die markante Erscheinung des Viktor Satchev national und international mit Auszeichnungen, Ehrungen und - Orden eingedeckt, was dem eher bescheiden auftretenden, gewissenhaften und sich seiner großen Verantwortung für Schiff, Besatzung und Gäste während der Unternehmungen bewusst, und natürlich von den jeweiligen nationalen und internationalen Forscherteams, welche an den Fahrten teilnahmen, was aber dem naturell des Menschen Viktor Satchev nicht entsprach und sich unzweifelhaft an seiner Mimik zu erkennen ließ, wenn wieder einmal eine öffentliche „Huldigung“ anstand. Der Kapitän der Georgi Schukow freute sich dagegen wie ein Schneekönig, wenn seine Gäste an Bord sich aufrichtig und engagiert für seine Arbeit interessierten und ihn soweit möglich an ihrer Arbeit teilhaben ließen und er ihnen Geschichten und Erlebnisse über und mit dem Eis erzählte, die bei den Akademikern nicht selten Bewunderung und Respekt erzeugten und seinen Ruf als Experten der polaren Regionen nachhaltig festigten. Bei den offiziellen Besprechungen der Forscherteams war Viktor Satchev oder sein IO - der erste Offizier, Stellvertreter des Kapitäns auf jedem Hochseeschiff, ohnehin anwesend, um so die wissenschaftlichen Vorhaben und Experimente der Forscherteams mit der Leistungsfähigkeit der Georgi Schukow zu koordinieren. Viktor Satchev, schon zu Lebzeiten eine Legende, Mitte fünfzig, vital wie ein Eisbär, der alle russischen Eisbrecherkapitäne der Atomgaz ausbildete und zu regelmäßigen Treffen nach Murmansk oder auf die Georgi Schukow einlud, um mit den Männern und Frauen den neuesten Wissensstand in der Führung eines Eisbrechers, seiner Technik und - primär den Umgang mit dem Eis „einzutrichtern“, bis die Kapitäne - Männer wie Frauen, ihre Lektionen wie im Schlaf beherrschten, denn das Polarmeer ist kalt, sehr kalt und das Eis verzeiht keinen Fehler, so sein Schluss -Spruch zu den Männern und Frauen nach jedem Seminar. Dieser Mann war im wahrsten Sinne des Wortes ein russischer Bär wie aus dem Bilderbuch, mit einem offenen, freundlichen Gesicht, aus dem zwei strahlendblaue funkelnde Augen jeden Menschen sofort in ihren Bann zogen, selbiges umrahmt von einem fast schwarzen, sehr gepflegten Vollbart und ebenso nicht mehr ganz schwarzes Haar, durch das sich erste hellgraue feine Marmorierungen wie silberne Fäden zogen - ein Geschenk meiner Eisbärenfreunde aus dem Polarmeer, gab er belustigt zum Besten, wenn ihn der eine oder andere Teilnehmer oder eine Teilnehmerin zu vorgerückter Stunde auf sein wuscheliges Haar ansprach. Viktor Satchev war mir aus zwei Veranstaltungen im Albert-Wagner-Institut in Bremerhaven als Gastredner bekannt, wo er über seine Erfahrungen mit Eisbrechern in polaren Regionen sprach, wobei ihm sehr viel daran gelegen war seine Zuhörer davon zu überzeugen, dass das Eis nicht nur gefrorenes Wasser ist, sondern ein lebendiges Wesen, dem mit größtem Respekt und Hochachtung zu begegnen sei. Nur so sei ein Überleben - auch unter Einsatz eines Eisbrechers wie der Georgi Schukow - möglich. Satchev war nach dem Tod seiner Frau und beiden Töchter Solist, Witwer, ohne Ambitionen auf einen erneuten Anlauf zur Eheschließung oder gar Gründung einer weiteren Familie. Der Verlust seiner „Kirschblüten“, wie er Frau und Töchter liebevoll nannte, hatte ihm fast das Herz zerrissen, beschrieb Satchev in Gesprächen im kleinen Kreis seine Empfindungen. So etwas wollte er nie wieder erleben. Ausgerechnet Eis und Schnee wurden Frau und Töchtern im Kaukasus zum Verhängnis. Ein abgehendes Schneebrett löste ein Lawineninferno aus, das den Dreien auf ihrer Skiwanderung nicht den Hauch einer Chance lies. Das lag fünfzehn Jahre zurück, doch gefunden wurden sie bis heute nicht - der Schnee und das Eis des Kaukasus haben seine „Kirschblüten“ verschlungen - für ewig. Im arktischen Eis des Nordpolarmeeres sind Lawinen, bis auf einige wenige Regionen im grönländischen Gebirgsrücken, praktisch ausgeschlossen, dafür toben immer wieder unberechenbare, schier mörderische eisige Stürme über den endlosen Eispanzer, die mitunter Wochen andauern können und schon komplette Expeditionen hinwegfegten. Die Annalen sind voll von diesen Tragödien menschlicher „Überheblichkeit“ bei den Versuchen, sich die Natur des Nordpolarmeeres oder der Antarktis untertan, sie ihrem Willen gefügig zu machen. Satchev kannte sie alle - ihre vermeintlichen Erfolge - und ihr ruhmloses Ende, wenn die Polarnacht den Männern und Frauen ihr eisiges Totenhemd überstreifte, aus dem es kein Entrinnen gab. Der respektvolle Umgang mit dem Eis, den Launen und der Wildheit der Arktis, waren unabdingbare Voraussetzungen für ein Überleben in diesen extremen Regionen, wenn dies auch nur unter eingeschränkten Bedingungen gelingen konnte, was übrigens ebenso für die südpolare antarktische Eis- und Felsmasse galt. Hier peitschten ob der immensen Größe dieses Kontinents, so Satchevs Interpretation der Antarktis, höllische Stürme über Eis- und Felsplateaus, die jenen berühmten Wettlauf zum Südpol zwischen dem Engländer Scott und dem Norweger Amundsen in einer tödlichen Apokalypse enden ließ. Amundsen ging als Sieger aus diesem Wettrennen hervor - Scott erfror mit einigen verbliebenen Getreuen in einem Zelt, nur wenige Kilometer vom rettenden Versorgungslager entfernt auf einem schier endlosen Eisfeld. Erst viel später fanden Suchtrupps das Zelt mit den erstarrten Leichen der Männer - und das Bild- und Schrift gewordene Drama um die Erreichung des Südpols als erste Menschen - um die letzten Tage und Stunden im Leben Scotts und seiner Kameraden. Ironie der Geschichte; nicht die Leistung Amundsens und seiner Begleiter als erste Menschen den Südpol erreicht zu haben füllte weltweit über Monate die Zeitungen, sondern die Berichte aus den Aufzeichnungen Scotts über die heldenhaften, letztlich verzweifelten Anstrengungen der Gruppe, doch noch vor Amundsen den Südpol als erste Menschen zu erreichen. Wie ein grinsender Dämon musste Scott und seinen Mannen die norwegische Flagge erschienen sein, die ihnen an jenem sonnigen, fast lieblichen Tag entgegen leuchtete und ihr rotes Tuch mit dem blau-weißen Kreuz im sachten Wind des frühen Morgens wehen ließ. Ja - „Väterchen Frost“ verstand es wie kein anderer,


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