Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation. Dunja Batarilo
anderes Commitment als ein Achtsamkeitskurs, den man zweimal die Woche besucht, oder als Meditationsübungen am Smartphone. Wer hierherkommt, will es wirklich wissen.
Ein Vipassana-Retreat ist eine Art Kloster auf Zeit. Vor Beginn verpflichten sich alle Meditierenden in spe, sich für die Dauer des Kurses an bestimmte Regeln zu halten: nicht zu stehlen, nicht zu lügen, keine Drogen zu nehmen und keine sexuellen Handlungen zu vollziehen. Es sind Verhaltensrichtlinien, wie sie auch viele konfessionelle und spirituelle Gemeinschaften kennen. Die Kommunikation wird eingestellt, auch die nonverbale; Zeichensprache und Gestikulieren sind nicht erwünscht. Die Organisatoren des Kurses schützen diese Stille nach außen hin: Telefone werden ausgestöpselt, Türklingeln abgestellt. Die Teilnehmer ihrerseits verzichten auf jeden Kontakt zur Außenwelt und geben alles ab, was ihre Konzentration stören könnte: Laptops, Bücher, Schreibzeug, ihr Mobiltelefon. Es ist eine kompromisslose Absichtserklärung: Man ist gekommen, um zu meditieren – nichts anderes. Die sogenannte Edle Stille soll dabei helfen, einen inneren Raum zu betreten, in dem es möglich ist zu lauschen. Zeit dazu ist reichlich: zehn Tage lang, zehn bis zwölf Stunden am Tag.
Tagesablauf eines Vipassana-Kurses nach S. N. Goenka | |
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4:00-4:30 Uhr | Gong – Aufstehen |
4:30-6:30 Uhr | Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer |
6:30-8:00 Uhr | Frühstückspause |
8:00-9:00 Uhr | Gruppenmeditation in der Halle |
9:00-11:00 Uhr | Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer |
11:00-12:00 Uhr | Mittagessen |
12:00-13:00 Uhr | Ruhepause |
13:00-14:30 Uhr | Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer |
14:30-15:30 Uhr | Gruppenmeditation in der Halle |
15:30-17:00 Uhr | Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer |
17:00-18:00 Uhr | Teepause |
18:00-19:00 Uhr | Gruppenmeditation in der Halle |
19:00-20:00 Uhr | Diskurs des Lehrers in der Halle |
20:00-21:00 Uhr | Gruppenmeditation in der Halle |
21:00-21:30 Uhr | Fragestunde in der Halle |
21:30 Uhr | Nachtruhe, Licht aus |
Das Kurssetting bildet eine Art Raumschiff, auf dem die Teilnehmer als schweigende Besatzung anheuern. Die Reise, die sie antreten, führt sie nicht ins Weltall, aber in einen ähnlich unbekannten Raum – das eigene Bewusstsein.
Ein Missverständnis, dem viele aufsitzen, die das erste Mal hierherkommen: dass zehn Tage Meditation Entspannung bedeuten. Runterkommen, Ruhe. Meditieren im Sinne von Vipassana heißt jedoch: »Sehen, was ist«. Beobachten. Mit Wellness und Sich-fallen-Lassen hat das nichts zu tun; das aktive Kultivieren der Aufmerksamkeit und Beobachten des eigenen Bewusstseins erfordert hohe Konzentration und unablässige Anstrengung. Ein Vipassana-Kurs ist eine herausfordernde und oft auch konfrontative Lernerfahrung auf vielen Ebenen und daher definitiv keine Wellnesswoche. Nicht umsonst sind auf jedem Kurs einige wenige Menschen dabei, die vorzeitig abbrechen.
Wer tut sich so etwas an und warum? Vipassana-Kurse haben weltweit jedes Jahr mehr Zulauf. Allein im deutschen Sprachraum werden derzeit jährlich über 50 einführende Zehntageskurse angeboten, mit jeweils 70–120 Teilnehmern. Bis zu 7000 Menschen pro Jahr lassen sich hierzulande auf diese Erfahrung ein, sie finden allein über Mundpropaganda zum Kursort. Viele sind Wiederholungstäter, und noch mehr warten sehnsüchtig darauf, einmal teilnehmen zu dürfen. Viele, viele Menschen, die ihren ersten Zehntageskurs absolviert haben, kommen aus dem Retreat und ziehen das Resümee: »Das war das Beste, was ich je gemacht habe.«
Wer sind diese Menschen, was zieht sie in die Kurszentren? Die einen sind von Neugier getrieben, andere wünschen sich mehr Tiefe im Leben. Die einen suchen Ruhe oder Sinn, wieder andere Heilung. Die israelische Soziologin Michal Pagis, die für ihre Doktorarbeit über Jahre hinweg als teilnehmende Beobachterin Kurse besucht hat, kommt zu dem Schluss, dass gut zwei Drittel aller Kursteilnehmer Auswege aus einer Lebenskrise suchen. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Eindruck, den wir im Rahmen unserer Studie »Buddhismus im Westen« gewonnen haben: Viele Teilnehmer berichten von existenziellen Krisen, die der Auslöser waren, sich zum ersten Kurs anzumelden. Trennungen und Trauerfälle, chronische Krankheiten, Erschöpfung – die Liste der Motive ist lang und so vielfältig wie die Menschen, die den Weg zu Vipassana finden. Alle haben sie eines gemeinsam: den Wunsch nach Veränderung.
Viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, sagen über sich selbst, dass sie »auf der Suche« waren – und dass sie in der Vipassana-Meditation etwas gefunden haben. Es ist eine Suche, die oftmals über unmittelbare Symptome oder Leiden hinausgeht. Es ist eine Suchbewegung nach Antworten auf die Fragen, die das Leben selbst an den Menschen stellt. Erfahrungen von Geburt, Krankheit, Altern und Tod werfen Fragen nach der Bedeutung des eigenen Lebens auf, die früher zuverlässig von Religionsgemeinschaften beantwortet wurden. Je weniger man sich diesen traditionellen Zusammenhängen zugehörig fühlt, desto mehr ist man auf sich selbst gestellt in dem Versuch, diese Fragen für sich zu beantworten, das eigene Leben zu bewältigen und ihm Sinn zu geben. Stephen Batchelor, Schriftgelehrter und ehemaliger buddhistischer Mönch schottischer Abstammung, hält dieses »unbedingte Anliegen« sich existenziell zu verorten für eine anthropologische Konstante, die er so zusammenfasst:
»Ich bin begierig danach zu hören, was diese alten Stimmen zu sagen haben, das meine gegenwärtige Verfassung als menschliches Tier auf diesem durch das Weltall rasenden Ball aus Fels und Wasser erhellen könnte.«1
Die Mehrzahl der Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, stammt aus dem deutschen Sprachraum. Viele erzählen davon, in einem kirchlich, oft protestantisch geprägten Elternhaus aufgewachsen zu sein. Davon, dass es einen tragenden Glauben gab, der sie in der Kinderzeit umgab und der später von einem positivistischen Weltbild schwer erschüttert wurde. Einige haben sich bewusst von der Kirche abgewandt, andere konnten einfach nichts mehr damit anfangen.
Wieder andere sehen Vipassana als eine Praxis, die ihren Glauben ergänzt. Petra, seit mehr als zwanzig Jahren Vipassana-Lehrerin, spricht für viele andere, wenn sie sagt: »Ich denke, ich habe immer nach dem Sinn des Lebens gesucht.« Rosa, eine langjährige Meditierende, erzählt von der Verzweiflung, die sie als Schülerin im Biologie-Leistungskurs erfasste: »Wie jetzt, was? – Das sollen alles nur Atome sein, die zusammenhängen?« Der erste Vipassana-Kurs, den sie besuchte, war für sie »eine unglaubliche Antwort«.
Wer einen Zehntageskurs besucht, wird schnell feststellen: Die Halle, in der gemeinsam meditiert wird, ist ein nüchterner Raum. Kein Räucherwerk, keine Bilder, keine Mantras. Die fast klinisch anmutende Klarheit entspricht dem wissenschaftlichen Gestus, mit dem in die Technik eingeführt wird. Schon bald wird deutlich: Es geht in diesem Rahmen nicht darum, irgendwem irgendetwas zu glauben, sondern darum, sich selbst auf die Suche zu machen, dem eigenen Geist auf die Schliche zu kommen. Das scheint gerade für akademisch geprägte, intellektuell ausgerichtete Menschen attraktiv zu sein, die sich von allem, was nach Esoterik riecht, abgestoßen fühlen. Der amerikanische Psychiater und Meditationslehrer Paul R. Fleischman erinnert sich an seine eigene Ambivalenz in Bezug auf seinen bevorstehenden ersten Kurs: