Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation. Dunja Batarilo
für Nabelschau und für eine Praxis, die sich von der Welt abwendet, und hatte entsprechende Vorbehalte: »Ich wollte etwas über Meditation erfahren, aber ich wollte kein Nichtsnutz werden.«2
Solche Ängste sind unbegründet. Niemand, mit dem wir gesprochen haben, hat sich im Laufe der eigenen Meditationspraxis von der Welt abgewandt. – Im Gegenteil: Vipassana-Meditation scheint Menschen vielmehr dazu zu befähigen, ein volleres, intensiveres Leben zu führen, sich gleichsam in die Mitte des eigenen Lebens zu stellen. Mit Egozentrik hat das, wie wir noch sehen werden, nichts zu tun.
Dass diese Technik ursprünglich als Schlüssel zur Erleuchtung gedacht war, spielt für die meisten Meditierenden heute eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist Vipassana für viele Praktizierende ein Mittel, mit den Anforderungen ihres Alltags besser klarzukommen. Für einige wenige, die sich dem Weg bewusst voll und ganz verschreiben, spielt das Thema Erleuchtung wirklich eine Rolle – und durch die Hintertür vielleicht auch für alle. Dieses komplexe Spannungsfeld zwischen Weltlichkeit und Transzendenz, zwischen Körper und Geist, zwischen Zielstrebigkeit und Präsenz wollen wir im Laufe dieses Buches näher erkunden und untersuchen, was die Besonderheit von Vipassana ausmacht.
Was immer es ist, das so viele Menschen zu Vipassana bringt, – es scheint so zu sein, wie eine Kursteilnehmerin auf dem Weg nach Hause sagte: »Da passiert etwas zutiefst Heilsames.«
1.2Buddha war kein Buddhist – der Weg in den Westen
Bis zur Jahrtausendwende hatte Meditation den Ruf, esoterisch zu sein, der Begriff roch nach Mottenkugeln und Mystizismus. Das ist endgültig vorbei. Meditation hat sich zu einem »sichtbaren und wachsenden Phänomen der Mittelschichten in postindustriellen Gesellschaften« gemausert, so die Soziologin Michal Pagis.3 Allein in den Vereinigten Staaten meditieren etwa 30 Millionen Menschen. In Deutschland ist es schwer, an entsprechende Zahlen zu kommen. Laut einer Schätzung der Deutschen Buddhistischen Union bezeichneten sich im Jahr 2008 rund 300 000 Deutsche als Buddhisten; etliche Tausende mehr dürften heutzutage meditieren, ohne sich dieser Glaubensgemeinschaft zugehörig zu fühlen. Fragen um das Konvertieren von einer Religion oder Weltanschauung zu einer anderen spielen dabei keine Rolle. Diese Menschen praktizieren – nicht nur, aber auch – Vipassana.
Die »Zehntageskurse nach S. N. Goenka«, auf die wir uns in diesem Buch beziehen, werden derzeit in 108 Ländern der Welt angeboten, 225 entsprechende Meditationszentren gibt es momentan weltweit – Tendenz steigend. Die Menschen, die Vipassana meditieren oder sich dafür einsetzen, dass diese Kurse für die Teilnehmer kostenlos stattfinden können, bezeichnen sich selbst nicht als Buddhisten. Das ist umso erstaunlicher, weil Vipassana ursprünglich eine Praxis war, zu der über viele Jahrhunderte hinweg ausschließlich eingeweihte Mönche Zugang hatten. Meditationszentren, in denen Laien die Technik erlernen können, sind historisch ein sehr junges Phänomen. Die Methode hat sich von einer in Asien betriebenen Geheimwissenschaft zu einem globalisierten, über alle sozialen Schichten hinweg verfügbaren Angebot entwickelt, und das innerhalb weniger Jahrzehnte.4
Kurzer historischer Überblick
Der Begründer der buddhistischen Lehren, der historische Buddha, lebte etwa im 5. Jahrhundert v. Chr. Geboren als erster Sohn eines Fürsten, wuchs er unter dem bürgerlichen Namen Siddharta an einem adligen Hof in der nordindischen Stadt Kapilavastu auf, im heutigen Nepal. Die einzelnen Stationen seines Suchens und Findens werden wir im Hauptteil dieses Buches näher beleuchten. Der spätere Buddha (wörtlich: »der Erwachte«) entwickelte im Laufe seiner intensiven und kurvenreichen Suche nach einem Ausweg aus dem Leiden schließlich eine Meditationspraxis, mit der er zur Erleuchtung fand. Der Sage nach war dies Vipassana. Die Technik wurde zur zentralen Praxis des Theravāda-Buddhismus (auf Pali, der Sprache des Buddha: »Die Lehre der Ältesten«). Theravāda gilt als die älteste und ursprünglichste Linie des Buddhismus, heute vorwiegend praktiziert in Sri Lanka, Myanmar, Thailand und Kambodscha.
An dieser Stelle ein kleiner Vorgriff, für Kenner der Materie: Theravāda wird von manchen anderen buddhistischen Traditionen auch »Hinayāna«, »das kleine Fahrzeug«, genannt, um zu betonen, dass hier die Erleuchtung des Einzelnen und nicht das Glück aller Wesen im Vordergrund steht. Diese Fremdeinschätzung beruht allerdings auf einem Missverständnis der Lehre. Im Theravāda geht es zwar in erster Linie darum, den Geist zu beruhigen und zu reinigen, mit dem Ziel, einen Ausweg aus dem Leiden zu finden. Das geschieht jedoch, wie wir im letzten Kapitel sehen werden, mit dem Ziel, sich auf dieser Basis wieder der Welt öffnen zu können. Zunächst kann man sich merken, dass im Theravāda die Entwicklung von Konzentration und Selbsterkenntnis im Vordergrund steht. Der auf diese Weise geläuterte Geist verändert sich; er wird mit der Zeit immer stärker von einer mitfühlenden, liebevollen und gleichmütigen Haltung gleichsam durchflutet. Wer stetig und ausdauernd meditiert, der verändert auf Dauer nicht nur sein Verhalten, sondern schlussendlich auch seinen Charakter – dieser Prozess stellt sich von allein ein, die Sekundärtugenden folgen auf dem Fuße. Vor die großartigen Früchte der Meditation hat der »liebe Gott« jedoch den Schweiß gesetzt: Ohne gewissenhafte Arbeit an sich selbst passiert hier gar nichts.
Die Traditionslinien Mahāyāna und Vajrayāna spalteten sich erst etwa 500 Jahre später ab,* als der Buddhismus sich über ganz Asien verbreitete. Mahāyāna, auch das »Große Fahrzeug« genannt, erreichte über die Seidenstraße Zentral- und Ostasien. Hier ist die Didaktik anders gelagert, Ausgangspunkt der meditativen Schulung ist explizit und von vornherein die Entwicklung von tatkräftiger Liebe und Mitgefühl. Die Richtungen des Mahāyāna sind heute vorwiegend in Vietnam, Japan, Tibet, Bhutan, Taiwan, der Volksrepublik China und Korea vertreten. Auch der im Westen sehr beliebte Zen-Buddhismus entspringt dieser Linie – allerdings rückt hier eher wieder die Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt.
Vajrayāna, auch »Diamantfahrzeug« genannt, hat sich besonders in Tibet und im südostasiatischen Raum verbreitet, in Bhutan ist diese Linie des Buddhismus Staatsreligion. Im Westen ist sie vor allem durch den Dalai Lama und den 16. Karmapa, den Linienhalter der Karma-Kagyü-Schule, bekannt geworden.
Keine dieser Traditionen erhebt den Anspruch, der wahre Buddhismus zu sein; sie bestehen nebeneinander. Es gibt innerhalb der vielfältigen, sich auf den historischen Buddha berufenden Bewegungen keine zentrale Autorität oder Lehrinstanz, die entscheidet, was die wahre Lehre ist. Alle Linien beziehen sich auf Schriften, die die Lehre des Buddha überliefern, und das in den verschiedensten Formen. Es handelt sich eher um unterschiedliche Ausprägungen verschiedener Aspekte dieser Lehre, die sich im Laufe der Zeit mit jeweils regional unterschiedlichen lokalen Traditionen und Glaubenssystemen vermischten. Was wir heute im Westen als »Buddhismus« antreffen, hat ebenso bereits einen Veränderungsprozess durchlaufen und sich unserem christlich-säkularen Selbstverständnis, der Ideengeschichte, die unser Denken und Fühlen prägt, unauffällig angepasst.
Vipassana ist eine von vielen Formen, in denen das Phänomen Meditation in den Westen gefunden hat. Die Technik legt Wert darauf, keinen »-ismus« vor sich herzutragen, sie will explizit keine Religion sein und richtet sich an Angehörige aller Kulturen und Religionen, an Männer wie Frauen. Viele Textstellen legen nahe, dass auch der Buddha selbst zu seinen Lebzeiten diese Haltung lebte und lehrte. So wird von vielen Anhängern berichtet, die ein weltliches Leben führten, also ihrem Beruf nachgingen und für ihre Familie sorgten und dennoch tief in die Meditationspraxis eintauchten. Siddharta Gotama war überdies Feminist: Er unterrichtete auch Frauen, womit er die damalige patriarchale Kultur ordentlich vor den Kopf gestoßen haben dürfte. Doch die neue buddhistische Idee traf auf ein traditionelles Asien. Im Laufe der Jahrhunderte vermischte sich die Lehre mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen. Sie passte sich einer hinduistisch geprägten, streng patriarchalen und nach Kasten getrennten Ordnung an, in der das Priestertum eine herausragende Rolle spielte und Frauen wieder zurückgedrängt wurden.5
Das große Ziel der Erleuchtung, zentral für die Lehre des Buddhas, wurde zu etwas, das im Leben der kleinen Leute nicht vorkam. Wer meditieren lernen wollte, musste ins Kloster gehen. Die große Befreiung – wenn überhaupt6 – blieb den Mönchen vorbehalten, die sich in Orden organisierten, von allen weltlichen Aufgaben befreit waren und ihr Leben der Introspektion