Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation. Dunja Batarilo
Einzug in die Welt der Großkonzerne gehalten. Google zum Beispiel hat ein an MBSR orientiertes Programm aufgelegt und geht mit missionarischem Eifer vor, um es nicht nur im Unternehmen, sondern auch an Schulen weltweit zu verbreiten.
Ist das der vielbeschworene Siegeszug von Meditation? – Jein. Einerseits ist es wunderbar, dass durch die weite Verbreitung von MBSR Achtsamkeitstechniken in gesellschaftliche Schichten vordringen und dort Menschen erreichen, die noch vor wenigen Jahren sonst niemals dazu gefunden hätten. Gefängniskurse, Rehakliniken, Talkshows, Smartphone-Apps – der Zugang zu Meditation wird immer weniger elitär. Andererseits: Zwischen Heilung und Selbstoptimierung liegt ein schmaler, aber existenzieller Grat. In spirituellen Kreisen gibt es aus gutem Grunde die Befürchtung, dass etwas Wesentliches verloren geht, wenn Meditations- und Achtsamkeitstechniken zum Zwecke der Selbstoptimierung eingesetzt werden. Wenn stressgeplagte Individuen sich Zugang zu diesen alten Lehren erkaufen und sich dann ihrer bedienen, um sich für einen entfesselten Neoliberalismus fit zu machen – läuft dann etwas schief? Das Geschäft mit der Achtsamkeit brachte es, so das Time Magazine, im Jahr 2018 allein in den USA auf einen Umfang von 1,1 Milliarden Dollar.17
Die Vipassana-Tradition nach Goenka distanziert sich von MBSR. Sie legt Wert darauf, für das Vermitteln der Technik einen Raum zu schaffen, der frei von den Gesetzen der Marktwirtschaft und der hiermit einhergehenden Verwertungslogik ist, wie wir in Kapitel 3.2 sehen werden. Vipassana ist damit etwas grundlegend anderes als eine Technik oder therapeutische Dienstleistung. Es ist ein Geschenk, das andere einem gewähren, es wird aus einer Haltung des Mitgefühls gegeben und führt im Idealfall dazu, dass in den Beschenkten der Wunsch entsteht, ihrerseits dieses Geschenk weitergeben zu wollen. Vipassana ist nicht denkbar ohne Dankbarkeit und Freigiebigkeit.
(Vipassana-)Meditation und MBSR gleichzusetzen, ist also gleich aus zwei Gründen problematisch. Einerseits stehen in der Praxis unterschiedliche Werte hinter den beiden Techniken. Andererseits ignoriert die Forschung zu MBSR meist den Umstand, dass diese Methode aus einem Mix an Techniken besteht, deren einzelne Bestandteile in ihren Effekten bei der Auswertung durcheinandergeraten. Wer sich für die Effekte von Vipassana interessiert, kann sich an den Ergebnissen dennoch zumindest mit Blick auf die psychophysiologischen Effekte ein wenig orientieren: MBSR beinhaltet zwei wesentliche Aspekte, die auch in die Vipassana-Meditation einfließen: Atemmeditation und Bodyscan.
Die Studienlage, die sich ausschließlich mit Vipassana und den Effekten speziell dieser Meditationstechnik beschäftigt, ist bedauerlicherweise sehr dünn. Interessant ist eine Längsstudie, die die Wirkung eines Zehntageskurses untersucht, der in einem US-amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis durchgeführt wurde.18 Im Hinblick auf emotionale Intelligenz, Impulskontrolle und ein besseres Selbstgefühl der Teilnehmer wurden hier erstaunliche Ergebnisse erzielt. Leider ist die Studie – stellvertretend für viele andere – sehr klein und ohne Kontrollgruppe, es fehlt schlicht an Geldern und Möglichkeiten.
Von Äpfeln und Birnen. Meditation ist nicht gleich Meditation
Bis vor wenigen Jahren hat die kontemplative Forschung kaum berücksichtigt, welche Methoden auf ihre Effekte hin untersucht wurden. Im Grunde ist das absurd. Nehmen wir das Forschungsfeld »Sport«: Niemand käme auf die Idee, die Trainingseffekte von Fußball mit denen von Eiskunstlauf oder Boxen zu vergleichen. In Sachen Meditation wurden lange die unterschiedlichsten Techniken über einen Kamm geschoren, ohne sich bewusst zu machen, dass es wenig aussagekräftig ist, Studien zu Zen mit solchen zu Yoga, zu geführten Meditationen oder zu Achtsamkeitstechniken auf den Atem zu vergleichen. Über Jahrzehnte hinweg wurden (und werden) also Äpfel mit Birnen verglichen und daraus Schlüsse gezogen. Was Meditierende seit Jahrtausenden wissen, musste die Forschung erst entdecken: Aufmerksamkeit und mentale Aktivität haben viele Formen und Aspekte. Folglich wirken sich unterschiedliche Meditationsformen auch in unterschiedlicher Weise aus – nicht nur auf den Geist, sondern auch auf den Körper. Der Trainingseffekt ist schlicht ein anderer. Eigentlich ist das eine Binse, es hat schließlich noch niemand Klettern geübt und dadurch Fahrradfahren gelernt.
Erst in neuerer Zeit rückt eine Frage in den Vordergrund, die sich Menschen, die selbst meditieren, vermutlich schon lange stellen oder auch längst selbst beantwortet haben: Inwiefern unterscheiden sich die unterschiedlichen Formen und Techniken von Meditation in ihrer Wirkung? Welchen »Trainingsplan« sollte ich mir aufstellen, wenn ich was erreichen möchte? Goleman und Davidson sind sich sicher: »Jede Variation von Meditation hat ihr eigenes neurologisches Profil.«19
Tania Singer, bis 2018 Leiterin der Forschungsgruppe »Soziale Neurowissenschaften« am Leipziger Max-Planck-Institut, hat sich dieser Frage zugewandt. Sie untersucht zum Beispiel seit 2013 in einer groß angelegten Studie, wie sich speziell Mettā-Meditation, die als Teil von Vipassana gelehrt wird, auf Körper und Geist auswirkt. Dazu mehr in Kapitel 3.2. Es ist eine großangelegte Langzeitstudie über die Effekte mentalen Trainings auf Geist, Gehirn, Verhalten und Gesundheit, eine Suche nach der »Signatur des Mitgefühls«.20 Singer und ihr Team machten dabei eine erstaunliche Entdeckung: Stress, der durch Empathie, also durch Mitfühlen von Angst und Schmerz entsteht, kann durch liebevolles Mitgefühl überlagert werden – das ist trainierbar. Diese Ergebnisse sind hochinteressant für Fragen der Burn-out-Behandlung und Resilienzforschung.
»Gut fürs Gehirn«. Positive Effekte von Meditation
Trotz aller oben genannten Einschränkungen, was die wissenschaftliche Qualität und Übertragbarkeit mancher Studien angeht: Die Empirie spricht für sich. Die Liste der Probleme und Zipperlein, die den typischen Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts plagen und bei denen Meditation von Nutzen sein kann, ist lang. Wir orientieren uns hier an Goleman und Davidson, den beiden Silberrücken der Meditationsforschung, die den Versuch unternommen haben, die Ergebnisse aus fünf Forschungsjahrzehnten zu überprüfen und zu gewichten.
Beginnen wir mit unserem Gehirn und damit, wie wir es nutzen wollen. Die Geißel des digitalen Zeitalters heißt »Multitasking«. Konzentration, voller Fokus auf eine Aufgabe, wird mehr und mehr ein Luxusgut; permanente Ablenkung durch Push-Nachrichten, eintrudelnde E-Mails und Handy-Anrufe sind die Realität. Unser Gehirn aber kann gar nicht »multitasken«, es ist schlicht nicht in der Lage, parallel zwei Prozesse durchführen. Stattdessen schaltet es schnell zwischen verschiedenen Tätigkeiten hin und her. Nach jedem Umschalten ist die Konzentration stark herabgesetzt, oft dauert es mehrere Minuten, bis sie wieder auf dem Level ankommt, wo wir unterbrochen wurden. Das Dumme daran: Dieser Effekt ist selbstverstärkend. Je mehr wir »multitasken«, desto ablenkbarer werden wir. Das geht einher mit schlechterer Konzentration – und, Obacht: mit weniger Empathie. Notorische »Multitasker« »verflachen« regelrecht, stumpfen ab.21 Auch ein schlechtes Gedächtnis ist die Folge – denn was wir nicht aufmerksam wahrnehmen, wird als Datensatz im Gehirn gar nicht erst registriert. Die gute Nachricht: Bereits mit wenig Aufwand lassen sich diese Schäden wiedergutmachen. Schon nach acht Minuten Achtsamkeitstraining wandert der Geist weniger, sind Probanden weniger ablenkbar. Nach zehn Stunden Training über zwei Wochen hinweg verbessert sich nicht nur die Konzentration, sondern auch das Kurzzeitgedächtnis.22
Von der positiven Wirkung auf die Stressverarbeitung war bereits die Rede. Kurzzeitgedächtnis und Fokus verschlechtern sich bei Stress, dementsprechend profitieren beide von einem besseren Umgang mit dem, was uns stresst. Aber auch auf die allgemeine Gesundheit wirkt sich Stress aus – jedenfalls dann, wenn er chronisch wird. Das ist unter den Umständen, in denen wir heute leben, vergleichsweise oft der Fall. Die Neurobiologie unserer Stressantwort stammt noch aus der Zeit, als eine Angstreaktion angesichts eines Säbelzahntigers eine sinnvolle Sache war. Stress durch einen Säbelzahntiger geht schnell vorbei, auf die eine oder andere Weise. Heute ist es eher der Kontostand oder der nahende Abgabetermin, der uns in Panik versetzt. Die Stressreaktion ist dieselbe wie damals und auch das dazugehörige Empfinden dürfte sehr ähnlich sein. Der Unterschied ist, dass das Problem mit dem Konto oder der Chefin sich nicht so schnell lösen lässt, und Stressreaktionen, die andauern, machen krank. Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS)