Outback Todesriff. Manuela Martini
richtete seinen Blick zu ihm. Es dauerte einige Sekunden, bis er antwortete und dann sprach er ganz langsam: „Ich hab keine Angst.“ Andy blickte an ihm hinunter. Sein Oberkörper war sehr weiß, und seine Haut sah zart aus. Man sah ihm an, dass er Fastfood aß und zu viel Bier trank. Seine Kraft wurde festgehalten und gebändigt von dieser Schicht Fett und ... von Angst.
„Klar hast du Angst gehabt. Du hast ja jetzt noch Angst“, Andy lachte. Mikes Augen verwandelten sich mit einem Mal in schmale Schlitze.
„Ich hab keine Angst. Merk dir das. Ich hab vor nichts Angst. Frag Brady!“, sagte er drohend.
„He, jetzt raste nicht gleich aus! Ist schon okay. Natürlich hast du vor nichts Angst!“ Andy lachte immer noch. Wahrscheinlich war Mike unterbelichtet, hatte `ne Schraube locker, war behindert. Er grinste Mike an. Noch im selben Moment sprang Mike auf, warf sich mit dem vollen Gewicht seines kompakten Körpers auf Andy und riss ihn vom Schaukelstuhl. Er griff in Andys Haar und schlug dessen Kopf auf den Boden. Andy versuchte, sich aufzurichten, doch Mike war zu schwer, und dann verpasste Mike ihm einen Schlag in den Magen. Andy blieb vor Schmerz die Luft weg, er konnte nicht mehr atmen. Vor seinen Augen wurde es schwarz.
Als er wieder die Augen öffnete blickte er an gespreizten Beinen über sich hoch. Drohend sah Brady auf ihn herunter.
„Merk dir eins, Kumpel: Du kannst jeden anderen beleidigen. Ist mir völlig scheißegal. Aber wenn du es mit meinem Bruder machst, dann bring ich dich um. Kapiert?“
Andy nickte. Sein Kopf fühlte sich an wie Watte, und im Mund schmeckte er Blut. Sein Magen krampfte sich zusammen. Brady reichte ihm die Hand, half ihm aufzustehen und lächelte plötzlich.
„So, jetzt gebt euch die Hand und vertragt euch wieder!“
Mike streckte ihm wie auf Kommando die Hand entgegen. Andy blieb nichts anderes übrig, als einzuschlagen.
„Freunde!“, sagte Mike und lächelte sogar. „Und jetzt gibt’s was zu mampfen.“ Brady verschwand und kehrte kurze Zeit später mit einer Pfanne Eier und Speck und einer großen Kanne Kaffee zurück.
Shane
Nach einer Stunde Fahrt steuerte Shane den Wagen durch die Straßen Charlevilles. Am Ende der Hauptstraße entdeckte er das Schild Polizeistation. Er parkte direkt vor dem Eingang neben einem Streifenwagen. Er erinnerte sich an Kates Warnung am vergangenen Abend. „An denen in Charleville beißen Sie sich die Zähne aus!“ Und mit einem „Na, dann mal viel Erfolg in Charleville“, hatte sich Paddy von ihm verabschiedet.
Das Dienstgebäude war etwas größer als das in Coocooloora. Shane lief die Stufen hinauf. Detective Philipp Russell, sicher zehn Jahre älter als Shane, ein kleiner, gedrungener o-beiniger Mann mit dunklem Haar musterte Shane aus eng zusammenstehenden Raubtieraugen.
„Sie haben sich ja schon gleich mit Billy Henderson angelegt, hab ich gehört. Zum ersten Mal hier?“ Philipp Russells Stimme klang gelangweilt, so als wäre er dabei immer wieder daran erinnert worden, wie lange er selbst hier schon ausharrte. Shane nickte. „Kannte `n Kollegen von Ihnen. Kevin Morrison“, redete Russell weiter.
„Ja, er ist vor ein paar Jahren aus dem Dienst ausgeschieden“, erinnerte sich Shane, „hatte schlimme Magengeschwüre.“
„Und von euch bekam er `ne Postkarte und seine Frau `n Blumenstrauß, was?“ Philipp Russell schüttelte den Kopf. „So ist das. Nach ein paar Jahren ist man vergessen. Es zahlt sich nicht aus, sich kaputt zu machen.“
„Und deshalb reißen Sie sich auch nicht den Arsch auf, was?“, entgegnete Shane.
Russell schluckte eine Bemerkung hinunter. Doch dann sagte er: „Das ist Senior Constable Andrew Cassidy“, und wies auf einen Kollegen, der Shane um einen Kopf überragte.
„Nett, Sie kennen zu lernen, Detective“, meinte Andrew Cassidy und lächelte verhalten. Shane setzte sich auf die Ecke einer Tischplatte, während die anderen auf Stühlen platz nahmen. Russel lehnte sich an die Wand. Shane fasste kurz die Fakten zusammen, erwähnte die Ähnlichkeiten mit dem Frauenmörder-Fall, erinnerte an die achtundvierzigjährige Kassiererin bei Coles, die ihre Eltern übers Wochenende hatte besuchen wollen und bei Dalby eine Reifenpanne gehabt hatte. Er erwähnte die Dreiundvierzigjährige, die drei Kilometer vor Barcaldine aus dem Auto ihres Freundes ausgestiegen war, und die achtunddreißigjährige Frau, die man bei Tambo gefunden hatte, und schließlich Jennifer Miller, zweiundvierzig, deren Leichnam in einem Creek bei Roma vergraben worden war.
„Aber“, fuhr er fort, „wir haben es in Coocooloora mit einem männlichen Opfer zu tun. Die Bauchverletzung wurde dem Toten nicht beigebracht. Die Leiche wurde vergraben, was bei allen anderen Leichen außer bei Jennifer Miller, nicht der Fall gewesen war – und dabei so vergraben, dass sie unter normalen Umständen niemals gefunden worden wäre. Wir sollten also von einem separaten Fall ausgehen. Vielleicht haben wir es mit einem Nachahmungstäter zu tun. Wichtig ist für uns zunächst, die Identität des Toten zu klären. Daher brauche ich alle Informationen, die Sie auftreiben können.“ Shane sah in die Runde. „Die Leiche wurde an einer Stelle vergraben, die entweder schon am nächsten Tag oder in den darauf folgenden Tagen mit einer Teerschicht versiegelt wurde. Warum hat der Täter den Toten ausgerechnet an dieser Stelle vergraben? Wusste er, dass dieser Platz geteert werden und die Leiche für immer verschwinden würde? Und wer wusste davon?“
Philipp Russell antwortete besonders gelangweilt: „Jeder, der sich dafür interessierte. Spätestens, als die Bauarbeiter anfingen, war es allgemein bekannt.“ Die anderen nickten.
„Stellen wir einen Zeitplan auf“, sagte Shane. „Der Parkplatz wurde geteert am ...“, er sah auf seine Notizen, „am dritten Mai. Der Tote muss also vor dem dritten Mai dort vergraben worden sein. Die Forensik teilte mir mit, dass der Todeszeitpunkt ungefähr ein halbes Jahr zurückliegt. Das kann sechs Monate oder sieben, acht oder fünf. Fünf Monate können wir aber ausschließen, da zu diesem Zeitpunkt der Parkplatz bereits geteert war. Definitiv letzter Todeszeitpunkt kann also nur der zweite Mai sein. Die Arbeiten begannen am siebenundzwanzigsten April. Die Arbeitszeiten der beiden Bauarbeiter: sieben Uhr dreißig bis vier oder fünf Uhr abends. Wenn der Tote dort während der Bauarbeiten dort vergraben wurde, musste das also zwischen fünf Uhr am Nachmittag und sieben Uhr Morgens passiert sein. Allerdings schliefen die Arbeiter in einem Bauwagen direkt an der Baustelle. Das Risiko für den Täter wäre meiner Meinung nach zu groß gewesen. Ich vermute, dass der Tote vor dem siebenundzwanzigsten dort vergraben wurde. Was meinen Sie?“
Alle nickten – bis auf Webster, der rot angelaufen war.
„Sind Sie anderer Meinung, Webster?“, fragte Shane. Webster wurde dunkelrot, auf seinem Hals bildeten sich rote Flecken. Shane nickte ihm ermutigend zu. Webster räusperte sich.
„Am Sonntag ... den dreißigsten April wurde das Rugby-Spiel zwischen den Broncos und der Mannschaft aus Sydney ausgetragen. Vielleicht waren die Arbeiter danach im Pub?“
Niemand antwortete. Shane wunderte sich, dass er Webster unterschätzt hatte.
„Kriegen Sie raus, wo die Jungs an diesem Tag waren. Kate weiß es vielleicht. Ansonsten möchte ich, dass wir eine umfangreiche Befragung durchführen, um die Identität des Toten zu klären.“
„Vergessen Sie nicht die Presse. Womöglich erinnert sich jemand an etwas Auffälliges“, meinte Philipp Russell.
„Übernehmen Sie das. Außerdem brauche ich eine Zusammenfassung über die Aktivitäten der Aborigines. Gibt es hier irgendwelche laufenden Verfahren wegen Landrechten und dem Native Title?“
„Was hat denn das damit zu tun?“, fuhr Russell auf.
„Haben Sie vergessen, dass es wegen des Geländes, auf dem der Tote gefunden wurde, Auseinandersetzungen mit den Aborigines gab?“ Shane machte sich nicht die Mühe, Russell anzulächeln.
Russell schnaubte verächtlich. „Ihr aus Brisbane glaubt, nur ihr habt’s drauf, was?“
Shane überhörte die gemurmelte Bemerkung. Er hoffte nur, dass sich die Sache mit der